Freitag, 17. Juli 2020

Joe Biden, der Leinwand-Kandidat

In seinen zunehmend verzweifelten Versuchen, eine Angriffslinie gegen Joe Biden zu finden, setzte Präsident Trump vor einigen Wochen noch auf die Karte, ihm vorzuwerfen, gar keinen Wahlkampf zu führen, sondern sich im Keller zu verstecken. Die amerikanische Linke ging sofort ihrem Hobby nach, den Untergang an die Wand zu malen und fürchtete, dass Biden tatsächlich den Wahlkampf versemmle. Heute, wo Biden seit anderthalb Monaten stabil zwischen 7% und 10% in den Umfragen vorne liegt und in einzelnen Umfragen sogar 15% (!) Vorsprung erreicht, ist dieser Vorwurf weniger zu vernehmen. Dabei tut Biden nicht mehr als vorher. Seine Aussagen sind kurz, geradezu lächerlich allgemein und unspezifisch gehalten und er ist öffentlich nicht eben sonderlich sichtbar. Was gerne übersehen wird: Genau das ist seine Wahlkampfstrategie, von Beginn an gewesen. Biden ist ein Leinwand-Kandidat.

Was ist damit gemeint? Die Strategie, die Biden von Anfang an gewählt und seither durchgezogen hat, ist vor allem als "generic Democrat" anzutreten. Dabei handelt es sich um eine Kunstkonstruktion aus der Welt der Wahlforscher; in Umfragen wird neben den tatsächlichen Kandidaten auch die Parteiaffiliation abgeprüft. WählerInnen werden gefragt, ob sie ungeachtet der Person eher jemand von den Republicans oder Democrats wählen würden; diese imaginären, nicht näher definierten Personen werden als "generic Republican" oder "generic Democrat" bezeichnet und geben Aufschluss über die Beliebtheit der Partei relativ zu den Kandidaten. Üblicherweise haben die konkreten KandidatInnen der GOP bessere Werte als ihr generisches Gegenüber, weil die Partei bei den Wählern absolut verhasst ist, während es bei den Democrats eher umgekehrt ist; die generische Variante liegt hier gerne vor den konkreten KandidatInnen.

Diese Strategie ist im Übrigen bei den Democrats häufig zu finden. Schillernde KandidatInnen wie Elizabeth Warren, Bernie Sanders oder Alexandria Ocasio-Cortez sind eher die Ausnahme; die meisten WählerInnen entscheiden sich für die Chuck Schumers, Amy McGraths und Amy Klobuchars der Partei. Auf der Präsidialebene dagegen ist sie, weil die zugehörige Entwicklung eher neu ist, bisher nicht erprobt worden. Sowohl Obama als auch Clinton stellten sich deutlich außerhalb ihrer Partei, um die Wahl zu gewinnen. Aber der Popularitätsgewinn der Partei insgesamt in den letzten Jahren macht die Strategie für Biden zu einer echten Option.

Dies gilt umso mehr, als Biden selbst kaum eine andere Wahl hat. Auf Basis seiner Persönlichkeit kann er keinen Wahlkampf machen. Sucht man nach einer Definition für das schwer übersetzbare Wort gaffe, das einen Fehltritt im Wahlkampf beschreibt - man denke etwa an Romneys "binders full of women" oder Obamas "you didn't build that" - ist die Chance gut, daneben ein Foto von Joe Biden zu finden, der einen Hang zu Abschweifungen hat, die ihm nicht eben helfen.

Biden ist außerdem schon so lange in der Politik, dass er zahllose Positionen vertreten hat, die in der heutigen politischen Umgebung, höflich gesagt, fragwürdig sind. Von seiner Opposition gegen Klimaschutz zu seiner Begeisterung für rassistische Politiken und Kollegen aus dem Süden, von seiner Zerstörung von Anita Hill zur Unterstützung des Irakkriegs findet sich genug, was den Zorn der linken Parteibasis erregen könnte. Diese Hunde schlafen zu lassen ist sicherlich weise.

Gerade die Bekanntheit Bidens - der Mann ist seit mittlerweile 40 Jahren Berufspolitiker in Washington - hilft ihm dabei. Irgendwie war "Uncle Joe" schon immer da, er ist eine berechenbare Größe. Ihn als sozialistischen Albtraum aufzubauen ist schwer, und Trump hat es erfolglos versucht. Auch der Versuch seines Teams, einen identity-politics-Kulturkampf gegen Biden zu führen - ohnehin die einzige Art Wahlkampf, auf die Trump sich versteht - ist krachend fehlgeschlagen. Gerade Biden, der in den Vorwahlen noch als Sargnagel der Progressiven galt, gewinnt gerade den Kulturkampf - ohne ihn selbst zu führen.

Das liegt daran, dass er im Endeffekt ein Leinwand-Kandidat ist. Beobachtende können auf ihn projizieren, was auch immer sie möchten. Die linke Parteibasis kann auf das Programm schauen, das sie ihm aufzuzwingen in der Lage war, und findet die progressivste Plattform, mit der je einE KandidatIn ins Rennen ging. Eher durchschnittliche Parteigänger finden in Bidens wohltemperierten Statements zu Black Lives Matter und anderen Themen dieser Tage die Bestätigung, auf der richtigen Seite zu stehen, ohne den Status Quo allzu sehr in Frage zu stellen. Schwarze Wähler sehen den Vizepräsidenten Barack Obamas und das Versprechen auf die Restauration dieser happy days. Eher konservativere Wählerschichten sehen einen alten, weißen Mann aus dem Mittleren Westen, der nie das typisch linke Kulturkampfvokabular im Mund führt. Republikanisch Wählende, die mit Trump hadern, können sich eine Rückkehr der inzwischen ohnehin zur Unkenntlichkeit verklärten Präsidentschaft Clintons vorstellen. Und so weiter und so fort.

Als Biden sich für die Strategie entschloss, effektiv als Person überhaupt nicht in Erscheinung zu treten, war sehr ungewiss, wie sich dies gegen die praktisch ausschließlich personenzentrierte Wahlkampfmaschinerie eines allen Sauerstoff im Raum aufsaugenden Trump machen würde. Es war aber auch die einzige Strategie, mit der Biden eine echte Chance hatte. Und was man auch davon halten mag, der Kandidat zieht diese Strategie durch.

Nichts ist von den gaffes zu spüren, für die er berüchtigt ist. Wo er im Wahlkampf noch einen 70jährigen Kritiker zum Armdrücken aufforderte, weil er von ihm kritisiert wurde, hat inzwischen eine staatsmännische Milde von ihm Besitz ergriffen. Kurz gesagt: Biden könnte genauso gut "Keine Experimente" auf seine Wahlplakate schreiben. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist das eine gute Strategie.

Aber noch zu Beginn des Jahres und selbst in den ersten Pandemie-Monaten sah das noch anders aus, und es gibt keine Garantie, dass es so bleiben wird. Aktuell weigern sich die republikanischen Abgeordneten und Gouverneure sowie natürlich Trump beharrlich, damit aufzuhören ihre eigene Bevölkerung zu töten. Aber es ist damit natürlich nicht gesagt, dass die derzeitige Ablehnung dieser Riege sich nicht wieder legt.

Umgekehrt ist selbstverständlich vorstellbar, dass die katastrophale Pandemie-Politik der GOP den lang erwarteten Bruch der Partei bringt, mit einem Erdrutschsieg für Biden und, dank der Polarisierung und zunehmendem straight-ticket-voting, auch den der Democrats in den down-ballot-races vom Senator bis zum Hundefänger. Die Pandemie hat viele Gewissheiten über den Haufen geworfen, und die Lage ist volatil.

Joe Biden jedenfalls hat bereits vor Monaten eine Wette abgeschlossen: dass die Mehrheit des Elektorats Trump nicht will und sich nach Normalität sehnt. In diesem Fall steht er glänzend da; niemand verkörpert aktuell Normalität und Beständigkeit so wie der deutlich über siebzigjährige Joe Biden. Sollte allerdings die Bevölkerung Hunger nach Wandel und tief greifenden Änderungen haben, dürfte seine Wahlkampfstrategie nach hinten losgehen. Diese Dynamik habe ich bereits vor einiger Zeit ausführlich skizziert.

Nun kandidiert Biden als eine Leinwand, auf die jeder und jede Wünsche nach Belieben projizieren kann. Aber wie würde eine Präsidentschaft Bidens aussehen? Das ist das große Fragezeichen, und der Kandidat hat kein Interesse, die profunde Ambivalenz aufzulösen. Eher demokratisch-rechte WählerInnen sollen annehmen, dass er ein moderater Politiker ist, der die Linken in Zaum hält. Eher demokratisch-linke WählerInnen sollen annehmen, dass er sich gewandelt hat und dass die Parteibasis und der Bernie-Flügel ihm ihr Programm aufzwingen konnten.

Welchen Biden wir tatsächlich bekommen würden, hängt von den Begleiterscheinungen ab. Er selbst ist offensichtlich flexibel; es gibt nichts, was spezifisch mit seinem Namen verbunden wäre oder wogegen er sich prinzipiell gestellt hat. Entscheidend wird daher sein, welche Mehrheitsverhältnisse im Kongress herrschen, welche Bereitschaft zu prozeduralen Reformen besteht (Stichwort: court packing, filibuster) und wie viel Druck seitens der Wählerschaft auf ihn und seine zukünftige Administration ausgeübt wird.

Pointiert gesagt ist Joe Biden ein bisschen wie Angela Merkel. Das hat, wie niemand so gut weiß wie wir Deutschen, seine Vor- und Nachteile. Aber nach Trump ist die Aussicht auf eine Präsidentschaft der Eisernen Raute gar nicht mal so unattraktiv.

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