Donnerstag, 5. Dezember 2024

Lindner drängt mit dem Kochlöffel auf den Austritt aus der EU und hat Angst im Dunkeln - Vermischtes 05.12.2024

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) AfD drängt in Entwurf des Wahlprogramms auf EU-Austritt Deutschlands

Das Wahlprogramm der AfD zeigt eine Rückkehr zu antieuropäischen Positionen und schlägt drastische Änderungen in mehreren Politikbereichen vor. Die Partei fordert den Austritt Deutschlands aus der EU und dem Euro-System, um diese durch eine „Wirtschafts- und Interessengemeinschaft (WIG)“ und eine nationale Währung zu ersetzen. Während ein harter Bruch vermieden werden soll, sieht die AfD dennoch Umstellungsbelastungen als unvermeidlich an. Im Bereich der Familienpolitik möchte die Partei Schwangerschaftsabbrüche massiv einschränken und Beratungsgespräche mit der Vorführung von Ultraschallbildern reformieren. Das Selbstbestimmungsgesetz der Ampel will die AfD rückgängig machen und Maßnahmen wie die Verwendung von Pubertätsblockern verbieten. In der Wirtschaftspolitik setzt die AfD auf Deregulierung, insbesondere von Bitcoin, und befürwortet eine Rückkehr zum Handel mit Russland. Sicherheits- und außenpolitisch plädiert sie für die Neutralität der Ukraine außerhalb von NATO und EU, wobei eine kritische Auseinandersetzung mit Russlands Krieg fehlt. Das Programm spiegelt einen nationalistischen und konservativen Kurs wider, mit dem die AfD auf ihrem Parteitag im Januar punkten will. (dpa, Spiegel)

Ich bin schon seit Längerem zu der Überzeugung gekommen, dass die beste Strategie gegen die AfD die inhaltliche Auseinandersetzung ist. Das heißt dezidiert nicht, einfach ihre Positionen und Vibes zu übernehmen - das ist eine Sackgasse; Populisten können immer das "eins mehr als du"-Spiel spielen -, sondern tatsächlich die Wahl der AfD von einer diffusen Protestwahl in eine reale Möglichkeit verwandeln. Wie viele Leute stehen ernsthaft hinter ihren Forderungen? Das AfD-Wahlprogramm enthält so viele Giftpillen, die überhaupt nicht thematisiert werden; das würde für normale Parteien für drei Wahlniederlagen erreichen. Die hier zitierte Forderung nach Austritt aus EU und Euro ist so unpopulär, so unrealistisch, so zerstörerisch, ich kann mir kaum vorstellen, dass ein Ernstnehmen dieser Forderung der Partei hülfe. Oder man denke an die Forderung, Schwangerschaftsabbrüche wieder voll zu verbieten - das ist in Deutschland nicht auch nur im Ansatz mehrheitsfähig. Vielleicht sollte man die Rechtspopulisten einfach mal beim Wort nehmen. Das macht dann auch die Notwendigkeit einer Brandmauer viel klarer als diffuse Warnungen vor Extremismus. Wie sollte die CDU mit einer Partei koalieren, die das Lebenswerk Kohls und Adenauers verlassen will?

2) Vom Schwert der Demokratie zum hölzernen Kochlöffel

Der Artikel beleuchtet die historische und gegenwärtige Bedeutung der Erbschaftsteuer in Deutschland, insbesondere deren Einfluss auf die Vermögensverteilung. Historisch war die Erbschaftsteuer ein Instrument von Matthias Erzberger, um die Demokratie zu stärken und soziale Gerechtigkeit zu fördern. Damals erreichte sie bis zu 90% und zielte darauf ab, die feudalen Strukturen der Gesellschaft zu überwinden. Heute jedoch genießt die Steuer weder politisch noch gesellschaftlich großes Ansehen. Gegner:innen, angeführt von mächtigen Lobbygruppen, argumentieren mit Arbeitsplatzverlust und unfairer Doppelbesteuerung, was Reformen zugunsten einer stärkeren Erbschaftsteuer verhindert. Das Bundesverfassungsgericht hob 2014 die Privilegierung von Betriebsvermögen hervor, da diese die Vermögensungleichheit verschärft. Während das reichste Dezil heute 67% des Vermögens besitzt, geht der größte Teil steuerlicher Vorteile an wohlhabende Erb:innen. Der Artikel kritisiert, dass die Erbschaftsteuer ihrer ursprünglichen Rolle als „Schwert der Demokratie“ nicht mehr gerecht werde, sondern die soziale Ungleichheit weiter zementiere. (Martyna Berenika Linartas, Makroökonom)

Ich halte die Debatte um die Erbschaftssteuer in Bezug auf ihr Aufkommen und was man damit finanzieren könnte ebenfalls für fehlgeleitet. Die Erbschaftssteuer ist relevant, weil sie eine Steuerungswirkung entfaltet. Ich bin etwas aufgeschlossener als Linartas gegenüber der Privilegierung von Betriebsvermögen, aber selbst wenn wir das mal ausklammern (eine verfassungsrechtliche Unmöglichkeit, ich weiß, aber einfach mal for the sake of the argument) haben wir eine Menge Vermögen, die hoch besteuert gehören. Schließlich schreiben wir uns immer wieder die Chancengleichheit auf die Fahnen. Aber die ist ohnehin nur hehres Wort; Distinktionsmerkmale und Netzwerke lassen sich nicht besteuern. Da muss man nicht auch noch die Millionenvermögen on top werfen. An und für sich wäre das auch ein liberales Unterfangen, wenn man wöllte.

3) „Angst ist ein wichtiger Faktor“ (Interview mit Isabelle Weber)

Im Interview erklärt Isabella M. Weber die wirtschaftlichen und politischen Hintergründe des aktuellen Wahlergebnisses in den USA und zieht Parallelen zur Situation in Deutschland. Trotz guter Wirtschaftsdaten unter Präsident Joe Biden haben steigende Lebenshaltungskosten, insbesondere durch Inflation und hohe Mietpreise, viele Menschen in wirtschaftliche Unsicherheit gestürzt. Dies habe laut Weber dazu geführt, dass Wähler:innen den Eindruck gewannen, die Regierung sei nicht ausreichend auf ihre Bedürfnisse eingegangen. Weber betont, dass die hohe Inflation, vor allem bei essenziellen Gütern wie Lebensmitteln und Energie, Haushalte stark belastet habe. Gleichzeitig hätten Unternehmen Rekordgewinne erzielt, was die soziale Ungleichheit verschärft und Misstrauen gegenüber der Politik verstärkt habe. Ihrer Meinung nach fehlt es an einer Wirtschaftspolitik, die gezielt auf die Ängste und Bedürfnisse der Bevölkerung eingeht. Als Lösung fordert Weber einen „wirtschaftspolitischen Katastrophenschutz“, der Preisschocks bei essenziellen Gütern abfedert, sowie eine grüne Reindustrialisierung, die soziale Bedürfnisse berücksichtigt. Sie warnt, dass Versäumnisse in der Wirtschaftspolitik extremen Rechten wie der AfD in Deutschland weiteren Auftrieb geben könnten. Zur Finanzierung schlägt sie vor, die KfW-Bank strategisch zu nutzen und die Schuldenbremse auszusetzen. Angesichts der Krise sei es entscheidend, demokratische Werte auch durch eine progressive Wirtschaftspolitik zu verteidigen. (Jonas Waak, taz)

Mir ist völlig unklar, wie die politisch-mentale Dimension der Inflation immer so ausgeklammert werden kann. Ich halte deswegen auch die Vorstellung einer unabhängigen, nur der Geldwertstabilität verpflichteten Zentralbank für so unbrauchbar; es ist eine Kopfgeburt aus dem Elfenbeinturm, die mit demokratischen Gesellschaften inkompatibel ist. Das ist ja auch letztlich ihr Zweck: eine Entmachtung demokratischer Entscheidungsorgane zugunsten einer technokratischen Elite in der Hoffnung, dass diese unbeeinflusst von Volkes Stimme die beste Politik machen. Nur was diese Theorie gerne übersieht ist, dass dieses Konstrukt zu verkopft ist. Wenn der Schmerz der Inflation (oder drohenden Arbeitslosigkeit) beißt, ist mir egal, wie wirtschaftlich clever eigentlich eine ökonomisch machtlose Politik ist: eine zentrale Aufgabe von Politik ist Gestaltung, eine andere die Übernahme von Verantwortung. Und die Verantwortung wird der Politik immer zugesprochen, auch wenn sie die Gestaltungsmacht gar nicht hat. Dann erst Recht werden diejenigen, die - ohne Bezug zur Realität - eben diese Gestaltungsmacht versprechen, also die Populisten, gewinnen. Eine demokratische Politik MUSS auf ein Phänomen wie Inflation steuernd reagieren. Das weiß auch die FDP, sonst hätte sie nicht den Tankrabatt mit höchster Priorität verabschiedet. Wenn es hart auf hart kommt, wissen auch die Liberalen, wer ihnen die Butter auf das Brot schmiert, und handeln entsprechend.

4) Dark FDP

Der Artikel beleuchtet die Problematik von Lügen in der Politik, insbesondere am Beispiel des aktuellen FDP-Skandals. Die zentrale Frage lautet, warum lügende Politiker problematisch sind. Während allgemein angenommen wird, dass Lügen Vertrauen und Rechenschaftspflicht verletzen, verweist der Text auf Hannah Arendts These, dass Lügen in der Politik auch Ausdruck von Freiheit sein können, indem sie eine gewünschte Zukunft imaginieren. Beispiele finden sich in diplomatischen Floskeln oder politischen Visionen, die oft von der Realität abweichen, um Ziele zu fördern. Allerdings warnt Arendt, dass Lügen gefährlich werden, wenn Politiker ihre eigenen Lügen glauben und die Realität ignorieren. Solche Dynamiken können zu Feindseligkeit gegenüber Wahrheit und deren Verteidigern führen. Der Artikel zieht Parallelen zu Bewegungen wie „Dark Maga“, die Wahrheit systematisch delegitimieren. Zusätzlich zerstört die Täuschung der FDP das Vertrauen in die Demokratie, das laut Niklas Luhmann essenziell ist, um gesellschaftliche Komplexität zu bewältigen. Misstrauen macht Menschen anfällig für Manipulation und treibt sie in alternative Desinformationskanäle, etwa von populistischen Parteien. Trotz der Krise hebt der Text hervor, dass funktionierende Kontrollmechanismen wie investigative Medien Vertrauen in das politische System bewahren können. Rücktritte und Selbstkritik innerhalb der FDP zeigen, dass Verantwortung noch greift, was Hoffnung auf einen Kurswechsel zulässt. (Nils Markwardt, ZEIT)

Siehe zum Thema auch Christian Stöcker im Spiegel. Ich denke, der FDP fliegt die Geschichte vor allem deswegen um die Ohren, weil sie Journalist*innen offen angelogen haben. Das nehmen diejenigen, die nicht direkt im Lager der FDP sind (wie Anna Schneider oder Ulf Poschardt) den Leuten entsprechend übel. Das ist auch verständlich. Das politische Spiel zu spielen ist eine Sache. Niemand erwartet, dass nicht Narrative gesponnen und ausweichende, mehrdeutige Antworten gegeben werden, dass man sich weigert, bestimmte Fragen offen zu beantworten und so weiter. Aber offene, direkte Lügen sind im Politikbetrieb tatsächlich die Ausnahme (was ja auch die permanente Unfähigkeit der Medien erklärt, irgendwie mit Donald Trump klarzukommen, der sprengt den ganzen Referenzrahmen). Ich würde nicht so weit gehen, hier durch die FDP eine Art Trumpisierung der deutschen Politik zu sehen; das geht wesentlich zu weit. Vielmehr zeigt die Reaktion eigentlich, dass das System funktioniert und die Abwehrkörper intakt sind. Die FDP hat einen eklatanten Normenverstoß begangen, und der wird bestraft. So sollte es eigentlich sein.

5) Das Gesellschaftsbild der FDP ist zu starr

Der Artikel kritisiert die FDP für ihr starres Gesellschaftsbild und den Fokus auf wirtschaftsliberale Themen, wodurch soziale Aspekte und die Bedürfnisse breiterer Bevölkerungsschichten vernachlässigt würden. Die Veröffentlichung des sogenannten „D-Day“-Papiers und dessen militärische Rhetorik beschädigten das Image der Partei, verstärkten bestehende Vorurteile und offenbarten interne Schwächen. Besonders negativ wird die männlich dominierte Führungsspitze unter Christian Lindner hervorgehoben, die als unzeitgemäß und wenig divers wahrgenommen wird. Historisch wurde der Wiederaufstieg der FDP nach 2013 Lindner zugeschrieben, doch seine Dominanz habe die liberale Idee zu sehr auf Wirtschaftsthemen reduziert. Der Artikel fordert eine Neuausrichtung der FDP hin zu einem Liberalismus, der gesellschaftlichen Aufstieg für alle ermöglicht und nicht nur wirtschaftlichen Erfolg betont. Die Partei müsse sich stärker für die Lebensrealitäten von Arbeitnehmer:innen interessieren, um breitere Wählergruppen zu erreichen und langfristig relevant zu bleiben. Der Text schließt mit der Forderung, dass die FDP neben wirtschaftlichen Reformen auch soziale und kulturelle Vielfalt als zentrale Werte des Liberalismus anerkennen und vertreten sollte. (Thomas Schmid, Welt)

Schmid spricht einen wichtigen Punkt an: 2021 war die FDP die Partei der Jungwählenden (zusammen mit den Grünen), und wie Ariane und ich ja auch immer wieder betonen war die Chance für eine "Zukunftswerkstatt" (Schmids Worte) durchaus gegeben. Aber das vorher mühsam erarbeitete Profil einer Partei der Jugend und Moderne wurde in der Ampel effektiv aufgegeben. Schmid hat natürlich Recht, wenn er sagt, dass die Liberalen in einer Frontstellung zu Grünen und SPD waren, aber das war in Teilen auch eine selbstgewählte Frontstellung. Die FDP hatte nichts Konkretes, das sie erreichen wollte, nur klare Vorstellungen, was sie nicht wollte. Und man kann den Grünen und der SPD vorwerfen, was man möchte, sie hatten Dinge, die sie machen wollten (Bürgergeld, Kindergrundsicherung, Klimaschutz, etc.). Die FDP hätte durchaus koalitionsinterne Mehrheiten im 2:1-Format (oder sogar 3:0) für Vorhaben finden können, wenn sie gewollt hätte. Ich habe diese Dynamik ja 2021 beschrieben.

Resterampe

a) Erinnerung, wie das mit Trump künftig wird (New Yorker).

b) The case of the Pentagon’s $45 bolt (Kevin Drum).

c) A (sort of) defense of bureaucracy (Kevin Drum).

d) Chartbook 335 The shame of US maternal mortality - mounting crisis or chronic condition? (Chartbook)

e) Zu viel Datenschutz vernichtet Wohlstand (Welt). Ich stimme Kristina Schröder zu!

f) Chartbook 336 Trump's victory in 2024: consolidating the anti-PMC coalition. (Chartbook)

g) Guter Nachtrag zu der Sprachdiskussion von letztem Mal (Bluesky)

h) Kritik der Wasserstoffillusion (ZDF).

i) Was für Cineast*innen unter euch (Youtube).

j) Die Welt hat echt einen beeindruckenden Binnenpluralismus (Welt).

k) Koalitionsverträge: Sahra Wagenknecht drängt die Bundeswehr aus Schulen (News4Teachers). So ein Unfug, und noch dazu bescheuert formuliert. Siehe dazu auch der Podcast.

l) Das ist jetzt zugegebenermaßen auch nicht gerade ein grünes Vorzeigeprojekt (X).

m) Zum Thema Hunter-Biden-Begnadigung: ich auf X, Kevin Drum, nochmal Kevin Drum.

o) Angriff der Horror-Clowns (Übermedien).

p) Get off the floor and keep it simple (TPM).

q) Sehr wahre Erkenntnis zu politischer Kommunikation (Bluesky).

r) Guess what? Biden is now just as corrupt as Trump. (Kevin Drum) Es ist wirklich nur noch albern.

s) Javier Milei hat ein altes Freiheitsversprechen wiederbelebt. (Welt) Ulf Poschardt natürlich. Das wird echt immer abseitiger. Siehe dazu auch Leutheusser-Schnarrenberger. Oder das Handelsblatt.

t) Differenzierung? Mögen die Selbstgerechten eher nicht so (Welt). Ich stimme Anna Schneider voll zu; in ihrer Selbstgerechtigkeit differenziert sie tatsächlich nicht.

u) Der Spiegel hat einen ganz guten Hintergrundartikel zu den deutsch-chinesischen Beziehungen.


Fertiggestellt am 04.12.2024

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