Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Die Selbstkritik des Westens spielt seinen Gegnern in die Hände
In der aktuellen Debatte um den Postkolonialismus wird dem Westen vorgeworfen, durch Selbstkritik und historische Reflexion seine eigene Position zu schwächen und autoritären Regimen und antiwestlichen Bewegungen ungewollt in die Hände zu spielen. Kritisiert wird besonders die Abwertung westlicher Werte wie Demokratie, Menschenrechte und Freiheit zugunsten eines romantisierten Bildes des „Globalen Südens“. Postkoloniale Denker, so der Vorwurf, legitimieren mit Begriffen wie „Genozid“ oder „Apartheid“ autoritäre und reaktionäre Politiken, etwa die der Hamas, die solche Narrative zur Rechtfertigung ihrer Handlungen nutzen. Die Abkehr vom universellen Werteverständnis und die Dekonstruktion westlicher Institutionen gefährden laut Kritikern die regelbasierte internationale Ordnung. Statt postkolonialer Begriffsumdeutungen seien stärkere internationale Allianzen und Kooperationen nötig, um globale Herausforderungen zu bewältigen. Postkolonialismus, der ursprünglich zur Aufarbeitung kolonialer Verbrechen beitrug, wird somit als unproduktive Ideologie betrachtet, die eher spaltet, als Lösungen anzubieten. (Andreas Jacobs, Welt)
Ich halte das für ein deutliches Über-das-Ziel-hinausschießen. Ein riesiges Problem hier ist die Rhetorik (siehe auch Fundstück 2). Man kann ja gerne die Instrumentalisierung der Postkolonialismus-Theorien durch einige Aktivist*innen kritisieren. Aber die völlig absurde Überdrehung der Größe hier - "DIE Selbstkritik DES Westens" - als ob das ein Konsensphänomen und gelebte Politik wäre, ist völlig überzogen. Das macht dann auch so viel von dem Artikel wertlos. Es wird der eigene ideologische Kreuzzug gegen Vergangenheitsbewältigung mit der durchaus gerechtfertigten Kritik vermischt und dann der Schluss zugespitzt, dass "Selbstkritik" das Problem wäre - wo man umgekehrt eher einen Schuh daraus machen kann, wie die negative Reaktion großer Teile der Welt auf die Unterstützung Netanyahus deutlich zeigt. Wie so häufig wird hier vor allem der eigene innenpolitisch-ideologische Grabenkampf auf eine außenpolitische Situation projiziert, die aber so gar nicht existiert.
Der Artikel kritisiert den aktuellen Zustand der deutschen Kulturförderung und wirft dem Kulturbetrieb sowie Teilen der Politik vor, realitätsfern und elitär zu agieren. Während die deutsche Wirtschaft unter Standortproblemen und sinkenden Einnahmen leidet, fordert die Kulturszene weiterhin hohe staatliche Subventionen, oft ohne gesellschaftliche Relevanz oder Innovationskraft zu beweisen. Besonders in Berlin steht Kultursenator Joe Chialo (CDU) im Fokus der Kritik, da er Kürzungen in Höhe von 132 Millionen Euro im Kulturbereich durchsetzen muss. Chialo wird jedoch für seine Entschlossenheit gelobt, gegen Antisemitismus im Kulturbetrieb vorzugehen und den privilegierten Kultursektor zur Verantwortung zu ziehen. Der Autor fordert eine Neuausrichtung der Kulturpolitik: Statt umfassender Subventionen für ein vermeintlich antibürgerliches Elitenmilieu sollte die Kulturförderung auf Bildung in sozialen Brennpunkten und private Mäzenatentum umgeleitet werden. Dies würde die Vielfalt stärken und die kulturelle Dominanz öffentlich-rechtlicher und rot-rot-grüner Institutionen aufbrechen. (Ulf Poschardt, Welt)
Einmal abgesehen davon, dass es schon echt ein Gschmäckle hat, dass Poschardt hier die politische Linie seines Duzfreunds Joe Chialo per Leitartikel pusht - Transparenzhinweis hin oder her - ist es auch hier vor allem die Rhetorik, die so auffällig ist. Man kann ja durchaus so manche Förderung für wenig förderwürdig halten oder auch Kürzungen im gesamten vorschlagen, um einen ebenso nutzlosen wie überteuerten und klimaschädlichen Autobahnausbau zu finanzieren. Aber die ideologische Schärfe, der aggressive Ton, die Pauschalisierung und Zuspitzung hier, vor allem die Idee eines "privaten Mäzenatentums" als Ersatz für Kulturförderung, ist nichts anderes als reaktionär. Diese sich ständig verschärfende Rhetorik bei Poschardt und Schneider, der beständige kleine Tabubruch, findet seinen natürlichen Endpunkt bei NIUS und Tichys Einblick. - Zum Thema siehe auch hier.
3) Liberals speak a different language
Der Artikel beleuchtet die sprachliche Entwicklung, die zunehmend den politischen Diskurs von Liberalen dominiert und sie von konservativen Akteuren unterscheidet. Der Autor beschreibt eine Art "liberales Dialekt", geprägt von psychotherapeutischem Jargon, popkulturellen Referenzen und einer markanten Sprachmelodie wie dem „Upspeak“. Begriffe wie „gaslighting“, „toxisch“ oder „performativ“ sind allgegenwärtig, besonders in urbanen, akademisch geprägten Kreisen. Diese Sprache wird als unbewusster Ausdruck einer in sich geschlossenen Gruppe beschrieben, die oft nicht merkt, wie fremdartig sie für Außenstehende klingt. Liberale Politiker wie Kamala Harris vermeiden diese Sprache, doch ihre Unterstützer und Medienvertreter nutzen sie intensiv. Konservative hingegen punkten durch klare und verständliche Kommunikation, die als "orwellisch direkt" bezeichnet wird und breitere Resonanz findet. Der Artikel argumentiert, dass dieser sprachliche Unterschied nicht nur den politischen Diskurs prägt, sondern auch die Wettbewerbsfähigkeit liberaler Akteure beeinträchtigt, indem sie ungewollt Distanz zur allgemeinen Bevölkerung schaffen. (Janan Ganesh, Financial Times)
Ich finde die Differenzierung Ganeshs zwischen den Politiker*innen der Democrats einerseits und den Aktivist*innen andererseits interessant. Denn das mag manchen als unwesentliches Detail vorkommen, wird aber in zahlreichen "Analysen" komplett ignoriert. Man kann den Punkt auch verbreitern, denn Kamala Harris und die anderen Wahlkämpfenden sprachen im Wahlkampf ja auch viel von der Inflation und wirtschaftlichen Lage, und man warf ihnen trotzdem vor, das zu wenig getan zu haben. Ich habe das Gefühl, das ist derselbe Mechanismus. Ganesh hat mit Sicherheit auch einen Punkt, dass die Aktivist*innen entsprechend reden und dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung gerne mit der Partei vermengt werden. Das haben wir hier in Deutschland ja auch gesehen, wo etwa die Letzte Generation, Ende Gelände und so weiter alle mit den Grünen identifiziert wurden, obwohl die nichts miteinander zu tun haben. Ich würde mal die Behauptung wagen, dass die progressiven Parteien viel intensiver mit diesen Aktivist*innen zusammenarbeiten müssten, vor allem im Bereich politischer Bildung: Kurse machen, Sprachtrainings etc. Da sind die Rechten wesentlich aktiver, weswegen sie auch effektiver kommunizieren können. Das ist übrigens eine Aufgabe von Parteien, die sogar das Parteiengesetz explizit vorschreibt!
Der Artikel analysiert kritisch die Behauptung, Donald Trumps Wiederwahl sei ein „Erdrutschsieg“ mit einem „klaren Mandat“. Mit einem Ergebnis von 312 zu 226 Stimmen im Electoral College gehört Trumps Sieg zwar zu den knappsten in der US-Geschichte, wird jedoch von Republikanern wie Byron Donalds als historisch bedeutsam stilisiert. Im Vergleich zu tatsächlichen Erdrutsch-Siegen wie Ronald Reagans 525-13 im Jahr 1984 oder Franklin D. Roosevelts 523-8 fehlt es Trumps Ergebnis an Größe. Auch im Vergleich zu jüngeren Präsidenten wie Obama (2008: 365-173) oder Clinton (1996: 379-159) wirkt Trumps Erfolg bescheiden. Zudem erreichte er keine Mehrheit der Wählerstimmen, sondern lediglich 49,88 %, mit einem Vorsprung von nur 1,6 % gegenüber seinem Gegner. Die Republikaner propagieren dennoch ein „Mandat“, um Widerstand gegen Trumps geplante, kontroverse Maßnahmen wie massive Deportationen zu delegitimieren. Der Artikel argumentiert, dass diese Narrative keinen realen Rückhalt haben und lediglich eine mediale Illusion schaffen sollen. (Kevin M. Kruse, Campaign Trailes)
Ich habe eine Grundregel bei Artikeln zu Wahlen: ich nehme nichts ernst, wo irgendwo der Begriff eines "Mandats" verwendet wird. Falls das jemandem unbekannt ist: die Idee ist, dass eine Wahl zu knapp oder aus anderen Gründen nicht geeignet sei, um dem jeweiligen Wahlsieger ein "Mandat" für die Umsetzung seiner Ideen zu geben. Er hat zwar gewonnen, aber eigentlich nicht. Besonders häufig wird die Idee gegen Progressive in Stellung gebracht (wir haben den Grund im letzten Vermischten beschlossen), aber immun ist offensichtlich niemand dagegen. Diese Idee ist Quatsch. Das einzige Mandat, das jemand braucht, um politische Programme umzusetzen, ist eine Mehrheit im Parlament. Entweder man hat sie, oder man hat sie nicht. Wenn man sie hat, hat man auch ein Mandat. Dafür wurde man gewählt. Alles andere ist bestenfalls pure Kaffeesatzleserei, üblicherweise aber vor allem parteipolitisch motivierte Sauce, die über ein "eigentlich habt ihr nicht gewonnen und ihr sollt jetzt nicht regieren dürfen" gekippt wird. Beispiel: hat die SPD 2021 nur sehr kurzzeitig und durch Glück mehr Stimmen als die CDU gehabt? Ja. Schade Marmelade. Sie hatte sie zum Wahltermin. Und da Scholz die Stimmen in eine Koalition transferieren konnte, hatte er ein Mandat. Bis er die Stimmen nicht mehr hatte. Ob die Deutschen ihm nochmal eins geben, wird sich in den kommenden Wochen zeigen. Sonst kriegt es Merz. Mit allen Konsequenzen. Denn Wahlen haben Konsequenzen.
5) Lindner wirft der SPD die »Zerstörung der FDP« vor
Die politischen Spannungen zwischen der FDP und der SPD haben sich nach dem Bruch der Ampelkoalition erheblich verschärft. FDP-Chef Christian Lindner wirft der SPD vor, seine Entlassung aus dem Finanzministerium als Wahlkampfstrategie genutzt zu haben, um die FDP politisch zu schwächen. Er behauptet, die SPD strebe eine Große Koalition mit der Union an und sehe eine starke FDP als Hindernis für künftige linke Regierungsbeteiligungen. Ähnlich äußerte sich FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai, der von einer „Kampagne der Herabwürdigung“ sprach. Die SPD weist diese Vorwürfe zurück. Generalsekretär Matthias Miersch warf der FDP ihrerseits vor, Vertrauen zerstört zu haben, und rief zu konstruktiver Zusammenarbeit bei wichtigen Gesetzesvorhaben auf, wie dem Gesetz gegen kalte Progression. Lindner signalisierte dafür Zustimmung, trotz der angespannten Lage. Die FDP steht politisch unter Druck, da Umfragen sie an der Fünf-Prozent-Hürde sehen. Ihre eigene Rolle beim Bruch der Koalition und ein als provokant empfundenes Wirtschaftsprogramm haben die Situation weiter verschärft. (dpa, Spiegel)
Genau denselben Vorwurf machten die FDP und ihre Unterstützenden der CDU nach 2013. Aber ich würde vielleicht einmal die Frage stellen, ob wenn zweimal hintereinander eine Regierungsbeteiligung zum selben Ergebnis führt, man nicht vielleicht einmal in sich gehen sollte. Verantwortung übernehmen. Selbstkritik üben. Nicht im moralistischen "wir waren zu gut für diese Welt". Sondern sich einfach mal überlegen, ob es vielleicht an der Partei selbst liegt. Wenn man von Flügelkämpfen zerrissen ist, wenn man Querulanten in den eigenen Reihen hat, wenn die eigene Ideologie mit der Wirklichkeit kaum vereinbar ist - dann liegt es vielleicht gar nicht so sehr am Koalitionspartner.
Resterampe
a) Equal justice under the law ist in den USA quasi abgeschafft (Spiegel).
b) Giovanni di Lorenzo ist ganz schön stinkig (ZEIT).
c) Kolumne zu der ganzen "Stil in der Politik"-Geschichte (T-Online). Ich halte das für eher übertrieben. Die Stimmung war in Deutschland schon wesentlich schärfer.
d) Sehr coole Fotosammlung von US-Präsidentschaftswahlkämpfen (Substack).
e) Fox News declares inflation over, Another look at inflation and Fox News, Republican economic optimism is skyrocketing already und Republican finances have suddenly recovered (Kevin Drum). Kaum etwas vorhersehbareres als das.
f) Diese Kritik an Netanyahu unterschreibe ich 100% (X).
g) Besonders auf X zieht wird gerade die nächste Sau durchs Dorf getrieben: Strafbefehle wegen Beleidigung. Siehe etwa dieses Beispiel (X). In all den Fällen fehlt a) Kontext und b) juristische Kenntnis, als dass man das bewerten könnte. Hier etwa könnte der Täter aktiver Soldat sein. Wenn er als Soldat in einer Telegramgruppe so was raushaut, ist das völlig anders zu bewerten als wenn eine Privatperson das tut. Wäre für mich nicht anders. Oder für jemand, der in einer Telegram-Gruppe den Chef des eigenen Unternehmens beleidigt; das ist auch anerkannter Kündigungsgrund. Keine Ahnung, was hier der Fall ist - aber die anderen Leute, die hier Riesenwind machen, auch nicht.
h) Yep, alcohol deaths are way up (Kevin Drum). Nachtrag zur Debatte letzthin.
i) Ein Mini-Thread für Ralf (Bluesky).
j) Was Putin angeht, hatten die Grünen einfach von Anfang an Recht (X). Darf man auch mal sagen.
k) Ist das etwa eine Neiddebatte, die ich da spüre? Wo ist die FDP, wenn man sie mal braucht? (X)
l) Artikel über Die Sims für Videospielinteressierte (Paida).
m) Scheinbar brauchen die Rechten die Linken mehr als umgekehrt (The Atlantic).
n) Ahmad Mansour ist schon echt ein Dummschwätzer (X).
p) Diese Kritik an Politiker*innensprache ermüdet echt (X).
s) Im Spiegel ist ein bemerkenswerter Beitrag erschienen, der die Klimaberichterstattung des Spiegel detailliert analysiert und harsch kritisert. Das hat ja schon fast Frank-Schirrmacher-Vibes.
t) Die rapide sinkenden Impfraten in den USA sind so ein Desaster (Bluesky).
u) Diese Gasheizungslügen werden noch viele Leute teuer zu stehen kommen (Bluesky).
v) Komisch, dass die Cancel-Culture-Besorgten so ruhig bleiben, als ein Neonazimob an einer Uni eine Veranstaltung verhinderte (Bluesky).
w) Absolut zentraler Punkt zur Beliebtheit von politischen Forderungen (Bluesky).
x) Lehren aus dem gescheiterten Versuch, Trump für seine Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen (Slate).
y) Wieder einmal mehr Material, dass wenn man Obdachlosen Geld gibt, das echt hilft (Business Insider). Wer hätte es gedacht!
z) Why we need an insufferable liberal elite (Substack).
Fertiggestellt am 28.11.2024
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