Dienstag, 26. März 2024

Edward Murrow berichtet auf Drogen über ostdeutsche Proteste gegen die Zeitenwende in Israel - Vermischtes 26.03.2024

 

Achtung: Neue Artikel-Struktur, experimentell, gerne Feedback.

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Themen aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die Themen werden inhaltlich angerissen und dann von mir kommentiert. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Vermischte Themen

1) Demokratieproteste, Fokus Ostdeutschland

In Ostdeutschland findet seit Wochen eine breite Protestwelle gegen die AfD statt, die ihre politische Hegemonie infrage stellt. Dies ist von großer Bedeutung, da die AfD besonders in ostdeutschen Regionen stark ist und dort die politische Debatte dominiert. Diese Proteste markieren eine wichtige Verschiebung, da bisherige Demonstrationen gegen die AfD hauptsächlich in westdeutschen Städten stattfanden. Die AfD hat über Jahre hinweg eine starke Präsenz in ostdeutschen Mittel- und Kleinstädten aufgebaut, was auf einen gewachsenen rechten Einfluss im Alltag zurückzuführen ist. Die aktuellen Proteste zeigen jedoch, dass es einen Widerstand gegen die AfD gibt, der bislang oft im Verborgenen blieb. Trotzdem werden die Proteste allein nicht ausreichen, um die AfD bei den kommenden Wahlen zu stoppen. Es bedarf einer langfristigen Stärkung demokratischer Kräfte vor Ort und einer aktiven Auseinandersetzung mit der politischen Agenda der AfD. Nur so kann verhindert werden, dass die AfD weiter an Einfluss gewinnt und die demokratische Kultur in Ostdeutschland bedroht.

Zu dem Thema siehe grundsätzlich auch diesen Artikel der Blätter. Ich habe mit Robert Misik im Podcast ja auch darüber gesprochen, dass die Rolle der Organisation besonders von den Linken, aber auch von anderen demokratischen Kräften, deutlich unterschätzt wird, während sie eine ziemliche Stärke der Rechtsradikalen darstellt. Gerade hier könnte eine wichtige Funktion der Demos gegen Rechts bestehen: sie zeigen, dass die scheinbare Dominanz der Rechtsradikalen in vielen Bereichen nicht so allumfassend ist, wie es die Propaganda impliziert. Dadurch kann der Grundstein gelegt werden, dass Menschen den Mut haben, tätig zu werden - weil Kontakte geknüpft wurden oder man einfach erkannt hat, immer noch die Mehrheit darzustellen. Wichtig ist, dass darauf auch aufgebaut wird. Und da müssen die demokratischen Parteien ran.

2) Klischees zur Macht des Journalismus - der Fall Murrow

Der Mythos von Edward R. Murrows berühmter Sendung über Senator McCarthy wird oft als Beispiel dafür herangezogen, wie Medien demagogische Politiker entlarven können. Allerdings zeigt eine genauere Analyse, dass Murrows Einfluss auf McCarthys Niedergang nicht so eindeutig war, wie oft angenommen wird. Murrow und sein Team nutzten eine neue Technik, indem sie McCarthys Lügen und unangemessenes Verhalten durch Zusammenschnitte seiner eigenen Worte bloßstellten. Die Sendung erhielt zwar viel Lob, aber es ist fraglich, ob sie tatsächlich eine signifikante Anzahl von Meinungen veränderte. McCarthy hatte bereits an Unterstützung verloren, bevor die Sendung ausgestrahlt wurde, und seine eigene Antwort daraufhin erhielt sogar eine größere Zuschauerzahl. Der Mythos von Murrows Einfluss auf McCarthys Sturz führt zu falschen Erwartungen an die Macht der Medien, demagogische Politiker zu besiegen. Murrow selbst betonte, dass McCarthy nicht die eigentliche Ursache für die Angst in der Bevölkerung war, sondern diese lediglich ausnutzte. Murrows Beispiel lehrt uns, dass Medien nicht nur Missstände aufdecken sollten, sondern auch die Stärken unserer demokratischen Institutionen zeigen müssen, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Demokratie zu stärken.

Ich kann diese Mythenbildung überhaupt nicht leiden. Gerade in Filmen ist die ja sehr verbreitet. Der Klassiker wäre in dem Fall "Good Night and Good Luck", der den Murrow-Mythos dramatisiert, aber die Vorstellung, dass eine journalistische Enthüllung große Effekte hätte, sollte doch eigentlich mittlerweile echt hinreichend widerlegt sein. Gerade der Fall Murrow zeigt das ja gut; schließlich ist der angebliche Effekt überhaupt nicht nachweisbar. Auch die Watergate-Enthüllungen der Post haben ja nicht zu einem sofortigen Umschwung geführt.

Das heißt ja nicht, dass Medien keine Macht hätten (siehe etwa bei den Debatteneffekten), aber die besteht nicht darauf, dass ein*e einzelne*r Journalist*in irgendein singuläres, tapferes Statement in die Kamera spricht und dann die Regierung fällt. Stattdessen ist es mehr die institutionalisierte Macht, das Trend- und Themensetting, aber das alles ist halt viel weniger die Auswirkung einer Einzelhandlung oder Einzelperson und damit abstrakter, schwieriger nachvollziehbar und deutlich weniger dramatisch.

All das gilt übrigens in der politischen Sphäre ebenfalls, wo sich beharrlich der Mythos hält, dass die eine entscheidende Rede alles umwerfen könnte. Die Populärdarstellung, wonach charismatische Politiker*innen eine tief gefühlige Rede halten und damit die Nation in Beschlag nehmen führt zu völlig irrigen Vorstellungen der Wirkmächtigkeit dieser Dinger.

3) Wechselwirkung von Bürokratie und Politik, Beispiel Drogenpolitik in Oregon

Oregon verabschiedete 2020 Measure 110, das den Besitz geringer Mengen harter Drogen entkriminalisierte, mit der Absicht, Sucht als gesundheitliches Problem zu behandeln. Doch drei Jahre später wurde die Politik revidiert, und Drogenbesitz ist nun wieder ein Vergehen mit Gefängnisstrafe. Die Umsetzung von Measure 110 scheiterte an administrativen Problemen und mangelnder Polizeibereitschaft. Die steigende Obdachlosigkeit, die Covid-19-Pandemie und der billige Fentanyl-Markt verschärften die Situation. Obwohl Forschungen zeigten, dass Measure 110 keine erhöhte Kriminalität verursachte, sank die öffentliche Unterstützung. Die Legislative reagierte auf diese Stimmung und verabschiedete ein Gesetz zur Rekriminalisierung. Die Entscheidung wird als Misserfolg für die Drogenreform betrachtet und zeigt die Schwierigkeiten bei der Umsetzung radikaler Politik in einem ineffizienten Verwaltungssystem auf.

Das Scheitern der Entkriminalisierungsstrategie in Oregon (ausführlicher Bericht hier) hält tatsächlich wichtige Lektionen für ähnliche Versuche bereit. Wenn man einer Analyse von Experten folgt (Why Oregon’s Drug Decriminalization Failed), dann hatte das Desaster zwei Hauptursachen. Die erste war konzeptionell: die allzu liberale Vorstellung, gute Dinge passierten weil gute Menschen gute Dinge tun würden, wurde bitterlich enttäuscht (die Autoren bezeichnen es als "misunderstanding what addiction is"). Letztlich entsprach die begleitende Programmstrategie das Projekt in Umfang und Struktur niemals den Anforderungen, um Abhängige harter Drogen zu erreichen; freiwillige Maßnahmen und Hotlines reichen dafür schlicht nicht. Mir scheint, die Experimente, die hier in Deutschland mit kontrollierter Abgabe durchgeführt wurden, sind da deutlich besser.

Auf der anderen Seite ist Oregon aber auch ein super Beispiel für schlechte Politics, nicht nur Policy. Zum einen war Measure 110 eine von reichen liberalen Spendenden von außen initiierte Maßnahme ohne Bezug zu den Gegebenheiten vor Ort, zum anderen aber baute sie - wohl eine Folge des ersten Punkts - auf der Idee auf, man müsse hier einen Backlash zum War on Drugs inszenieren, der in Oregon aber nie eine große Rolle gespielt hatte. Ironischerweise übersahen ausgerechnet amerikanische Akteure den Föderalismus. Mir scheint das ein genereller Trend der amerikanischen politischen Landschaft zu sein; die zunehmende Nationalisierung der Politik ebnet lokale Unterschiede immer mehr ein. Mir war das bisher hauptsächlich von rechten Projekten bekannt - etwa gleichlautende Gesetzesoffensiven durch ALEC und Konsorten - aber es gibt natürlich keinen Grund, dass die Linken das nicht genauso machen sollten, vor allem, wo irgendwelche superreichen Spendenden betroffen sind, die hybristisch der Überzeugung sind, alles besser zu wissen.

4) Die Kosten der Zeitenwende

Bundeskanzler Olaf Scholz hat mit einem Interview für Kontroversen gesorgt, als er vorschlug, die Ausgaben für die Bundeswehr nach dem Auslaufen des Sondervermögens aus dem allgemeinen Haushalt zu finanzieren. Das Sondervermögen, das 100 Milliarden Euro umfasst und für die Armee bereitgestellt wurde, soll bis 2027 aufgebraucht sein. Experten schätzen, dass danach weitere 108 Milliarden Euro benötigt werden. Diese zusätzlichen Kosten könnten Einsparungen im Sozialbereich bedeuten, was zu einer hitzigen Debatte führt. Während einige wie der CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter die Notwendigkeit zusätzlicher Mittel für die Bundeswehr betonen, warnen andere vor der Gefahr, Sozialausgaben zu reduzieren. Die Diskussion umfasst auch die Idee einer Reform der Schuldenbremse und die Möglichkeit, die Verteidigungsausgaben über Sondervermögen zu finanzieren. Trotz unterschiedlicher Meinungen besteht Einigkeit darüber, dass die Modernisierung der Bundeswehr dringend erforderlich ist.

Dass die Zeitenwende teuer ist und Verteidigung künftig mehr Geld kosten wird, ist rhetorisch überall angekommen (außer natürlich bei der LINKEn, aber who cares?), aber in der Praxis noch überhaupt nicht. Grundsätzlich gibt es nur drei Mittel, diese Gelder bereitzustellen: wie beim Sondervermögen über Schulden - was für eine dauerhafte Ausgabensteigerung mit verstetigten Ausgaben anders als für das Aufholen von Defiziten aber wenig Sinn macht -, eine Erhöhung der Einnahmen (vulgo: neue Steuern) oder über eine Umschichtung bestehender Mittel (vulgo: Kürzungen). Neue Schulden sind eine politische Unmöglichkeit und in meinen Augen auch wenig sinnvoll. Politisch unmöglich sind auch höhere Belastungen. Bleibt nur eine Umschichtung, und angesichts der Struktur staatlicher Ausgaben liegt es daher auch nahe, Einschnitte im sozialen Bereich zu fordern.

Ein Artikel von Mark Schieritz zeigt allerdings eine interessante Argumentation auf: er weist die Vorstellung, dass die Umschichtung zwingend bei den Ärmsten zu erfolgen habe, zurück und betont, dass Luxuskonsum genauso reduziert werden könne, um die realwirtschaftlichen Kapazitäten der Munitionsproduktion (pars pro toto) freizumachen. Ich bin in der Logik völlig bei ihm, auch wenn es politisch wie gesagt dank der Ideologie der FDP aktuell unvorstellbar ist. Ich möchte aber noch einen wichtigen Punkt hinzufügen: Aufrüstung ist in Deutschland gerade kaum mehrheitsfähig (weswegen Scholz ja auch so herumeiert), und sie dann auch noch mit sozialen Kürzungen betreiben zu wollen scheint mir politischer Harakiri. Wir haben ohnehin schon eine demokratiefeindliche Stimmung im Land, die sich immer mehr ausbreitet; an dieser Stelle scheint mir weiterer politischer Sprengstoff zu liegen. Das sollte man zumindest bedenken, bevor man so was macht.

5) Krieg in Gaza

Eine häufig gehörte Kritik dieser Tage ist, dass die deutschen Politiker sich klar zu Russlands Angriff auf die Ukraine äußern, die Wahrung der Menschenrechte betonen und den Einsatz von Hunger als Waffe verurteilen. Doch im Konflikt zwischen Israel und Gaza bleiben ihre Worte aus. Obwohl die humanitäre Lage im Gazastreifen katastrophal ist und Israel massive Kriegsverbrechen vorgeworfen werden, schweigt die deutsche Politik. Die deutschen Medien zeigen wenig Interesse an den Recherchen, die Israels Vorgehen in Gaza kritisieren. Dieses Schweigen und Wegschauen untergräbt Deutschlands Glaubwürdigkeit in Menschenrechtsfragen und fördert eine unregulierte Weltordnung, in der das Recht des Stärkeren dominiert. Während andere Länder wie Südafrika Israel wegen Völkermords anklagen, bleibt Deutschland passiv und trägt so zur Eskalation des Konflikts bei.

Mir geht dieser Diskurs mehr und mehr auf die Nerven. Genauso wie beim Ukrainekrieg auch sind vor allem die beiden Pole der Debatte deutlich vernehmbar und Zwischentöne kaum mehr machbar. Ich bin etwa über diesen Artikel beim Spiegel gestolpert - "Verpanzerte Herzen" -, der von einem "Vernichtungsfeldzug" Israels spricht. Als Beispiel für die andere Seite sei diese Betrachtung Kevin Drums - "The pro-starvation wing of conservatism is alive and well" - erwähnt, wo auf der Seite der Debatte scheinbar niemand etwas dabei findet, humanitäre Nothilfe abzulehnen. Oder man betrachte diese völlig bekloppte Kritik an Jonathan Glazer und seinem Film "The Zone of Interest", die den ganzen Diskurs ebenfalls auf Reglerstufe 11 treibt. Damit tut sich niemand einen Gefallen.

Was sich für mich in den letzten Wochen zunehmend herauskristallisiert ist, dass harsche Kritik an der Regierung Netanyahu mehr als angebracht ist - dass die zu vernehmende Kritik allerdings einerseits mit einer völlig unnützen Brachialität und andererseits mit einer beständigen Vermengung von Regierung, Volk und Nation einhergeht, die die Grenze zum Antisemitismus bedenkenlos überschreitet und jegliche nuancierte Kritik an einzelnen Vorfällen oder Politiken verunmöglicht. Jacques Schuster hat in der Welt deswegen Recht und Unrecht zugleich, wenn er schreibt: "Israel hat kein Interesse am Krieg. Es wird dazu gezwungen". Israel hat das tatsächlich nicht, Israel wurde gezwungen. Ob Netanyahu kein Interesse hat, bezweifel ich allerdings durchaus. Dass auch er gezwungen ist und Israel sich selbstverständlich verteidigen darf und muss und dass an einem Kampf gegen Hamas kein Weg vorbeiführt, macht das so kompliziert, aber genau diese Komplexitäten gehen in einer Debatte, die häufig allein aus innenpolitischen Motiven geführt wird, praktisch unter.

Resterampe

a) Der nächste Gender-Sturm-im-Wasserglas fällt in sich zusammen.

b) Beitrag zur Debatte um Zivilität im Umgang mit dem Rechtsextremismus. Ich schwanke da seit 2016 hin und her.

c) Has Trump lost his touch? Ich füge hinzu: does it matter?

d) Ausführliche Kritik an der Kritik des Bundesrechnungshofs. Auch die Wirtschaftswoche kritisiert.

e) Autofahrerland Deutschland mal wieder.

f) Vermutlich hat's inzwischen jeder mitbekommen, aber die in Erfurt haben sie einem Flüchtling die Arbeitserlaubnis entzogen, weil er zu gut integriert war. Kompletter Irrsinn.

h) Ich stimme der Interpretation nur eingeschränkt zu, aber dieser Artikel zu Dune 2 ist durchaus spannend.

i) Ideologie schlägt reale positive Effekte.

j) Mal wieder ein erfolgreicher Testlauf der Vier-Tage-Woche. Repräsentativ ist das alles natürlich trotzdem nicht.

k) Nachtrag zum Doppelstandard bei den Bauernprotesten. Und hier.

l) Während Deutschland das Lieferkettengesetz für unmöglich hält, setzen die USA es schon durch.

m) Ob man das nun Austerität nennt oder nicht, politisch hilfreich ist es nicht.

n) Guter Gedanke zur Wechselwirkung zwischen LG und Grünen.

o) Bürgergeld und Kündigungen.

p) Transcript shows Biden was fine during Hur interview. No surprise there.

q) Yet another budget tome lands in Washington DC. Ist mir auch unklar.

r) Häufiger Jugendoffiziere an Schulen: Verdeckte Werbung oder doch Bildungsangebot? Diese Debatte ist so nervig. Völlige progressive Panik.

s) TikTok is an ordinary youthful fad. Convince me otherwise. Yes.

t) We are living in a golden age of light bulbs. In Deutschland dasselbe Spiel.

u) Everything Can Be Meat. Spannende Übersicht zum Stand der Forschung und Industrie.

v) Projekt "Mit der Klimakrise leben" hat einige Probleme.

w) Guter Beitrag zum Bürokratieabbau. Bleibt für mich die verpasste Chance der Ampel-FDP.


Fertiggestellt am 18.03.2024

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