Donnerstag, 19. September 2024

Der Draghi-Report verdient zu viel Geld und übernimmt die Gerichte - Vermischtes 19.09.2024

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Dringend notwendiger Weckruf

Der Bericht von Mario Draghi zur Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit betont die Dringlichkeit von Reformen und fordert die EU zum Handeln auf, um einem „langsamen Niedergang“ zu entgehen. Draghi stellt fest, dass die EU wirtschaftlich hinterherhinkt, insbesondere in den Bereichen Innovation und Produktivität. Ein klares Zeichen für die Herausforderungen ist das wachsende Gefälle im BIP-Niveau zwischen der EU und den USA. Der Bericht plädiert für eine umfassende Industriepolitik, die Innovation, Dekarbonisierung und Sicherheit miteinander verbindet. Diese soll auch eine engere Verzahnung von Handels- und Industriepolitik umfassen, um die EU wettbewerbsfähiger zu machen. Dabei wird deutlich, dass die fragmentierte Industriepolitik innerhalb der EU ein Hindernis darstellt. Ein kontroverser Punkt des Berichts ist die Finanzierung: Draghi fordert Investitionen von mindestens 750 Milliarden Euro pro Jahr, was nicht ohne gemeinsame Schuldtitel möglich sei. Diese Investitionen sollen die notwendige Infrastruktur und Innovation fördern. Zusätzlich wird die Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie und eine grenzüberschreitende Integration gefordert, um langfristige Sicherheitsbedürfnisse zu decken. Der Bericht ist eine Aufforderung zur Reform und weiteren Integration, doch ob die Mitgliedstaaten diesem Weg folgen, bleibt offen. (Marie Hasdenteufel, IPG)

Ich verlinke diesen Artikel vor allem für die gute Übersicht über die verschiedenen Bereiche des Draghi-Reports. Ich will hier vor allem die politische Umsetzungsdimension betonen. Die von Draghi dargestellten Defizite sind glaube ich weitgehend unumstritten. Das Problem ist, dass die EU bekanntlich nicht eben besonders affin für große Strukturreformen ist. Alle relevanten Entscheidungen werden im Konsens getroffen, und dieser Konsens existiert in praktisch keiner Frage. Auch die geringe Umsetzungswahrscheinlichkeit von Draghis Forderungen - oder irgendwelchen Reformideen - ist glaube ich weitgehend unumstritten. Diese "Eurosklerose" gab es bereits einmal, aber sie konnte schließlich überwunden werden. Ob das noch einmal gelingen kann, und ob es rechtzeitig geschehen kann, ist dagegen mehr als unsicher.

2) Germany should listen to Draghi

Mario Draghis Bericht zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit zeigt dringende Herausforderungen für Europa und insbesondere Deutschland auf: stagnierende Produktivität, digitale Rückständigkeit, eine alternde Bevölkerung und hohe Anforderungen durch die grüne und digitale Transformation. Deutschland, einst führende Industrienation, ist besonders betroffen. Kritiker sprechen gar humorvoll von einem „gescheiterten Staat“. Draghis Bericht fordert eine starke, gemeinsame Industriepolitik, um Europa wettbewerbsfähiger zu machen. Deutschland, dessen Schlüsselindustrien stark vom europäischen Binnenmarkt abhängen, ist durch die Abhängigkeit von traditionellen Industrien wie dem Automobilsektor besonders gefährdet. Der BDI schätzt, dass bis 2030 Investitionen von 1,4 Billionen Euro notwendig sind, um eine Deindustrialisierung zu verhindern. Eine gemeinsame europäische Strategie könnte auch Länder wie Deutschland und die Niederlande stärken. Draghis Bericht bietet eine Chance, die Wirtschaft durch Innovation und Investitionen wieder auf Kurs zu bringen – jetzt liegt es an Deutschland, diese Möglichkeit zu ergreifen. (Daniela Schwarzer, Financial Times)

Eine Merkwürdigkeit der Diskussion um den Bericht zeigt sich in den Akteuren. Schwarzer ist in der Bertelsmann-Stiftung, die für den Reformdiskurs der 1990er und 2000er Jahre so federführend war und wie kaum ein anderer einzelner nicht-staatlicher Akteur den Boden der Agenda2010 bereitet hat. Es hat eine gewisse Ironie, dass genau dieselben Gruppen und Leute, die damals massiv die Reformtrommel rührten und gar nicht genug solche Berichte bekommen konnten, das Ganze nun in Bausch und Bogen verdammen, und dass die Bertelsmann-Stiftung ihre größten Fans im progressiven Lager findet, das sie damals ihrerseits in Bausch und Bogen verdammte. - Ich denke aber, dass Schwarzer Recht damit hat, dass die primitive Vorstellung, Deutschland würde nur wieder zum Zahlmeister Europas degradert, nicht wirklich tragfähig ist (siehe auch dieser Handelsblatt-Artikel). Unsere Wirtschaft befindet sich auf einem Abwärtstrend, auch darin sind sich eigentlich alle einig; Transformation muss her. Wie die aussehen soll und könnte ist natürlich umstritten, aber es wäre sinnvoll, die Vorschläge des Reports auf sachlicher Ebene zu diskutieren anstatt Reflexe zu bedienen.

3) How Europe became a failed model of state-capitalist relations. ... or Europe according to the Draghi report (2)

Der Draghi-Bericht zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit bietet eine kritische Analyse der wirtschaftlichen Herausforderungen Europas und hebt den Mangel an Investitionen und Innovation als zentrale Probleme hervor. Seit 2010 ist die private Investition in Europa im Vergleich zu den USA zurückgefallen, was darauf hindeutet, dass die makroökonomische Politik – insbesondere nach der Eurokrise – eine bedeutende Rolle bei der Wachstumsbremse gespielt hat. Europäische Unternehmen verfolgen Wachstum und Innovation nicht mit derselben Dynamik wie ihre globalen Konkurrenten, besonders in Schlüsselindustrien wie Technologie und Automobilherstellung, wo Europas einst führende Position schwindet. In der Automobilindustrie bleibt Europa stark auf traditionelle Verbrennungsmotoren angewiesen und verliert im wachsenden Markt für Elektrofahrzeuge (EV) zunehmend an Boden, während chinesische Hersteller große Fortschritte machen. Ähnlich leidet der europäische Telekommunikationssektor unter einer starken Fragmentierung, was zu geringeren Investitionen und weniger Innovationen führt – im Gegensatz zu den konsolidierten Märkten in den USA und China. Der Bericht identifiziert auch erhebliche Lücken in High-Tech-Branchen wie Cloud Computing, Künstliche Intelligenz (KI) und Quantencomputing. In diesen Bereichen ist das europäische Innovationsökosystem im Vergleich zu den USA und China unterentwickelt, teilweise aufgrund unzureichender Risikokapitalinvestitionen. Sogar in Bereichen, in denen Europa traditionell stark war, wie in der Pharmaindustrie und der Verteidigung, reichen die Investitionsniveaus und die Marktstruktur nicht aus, um die Wettbewerbsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Der Draghi-Bericht fordert eine grundlegende Neuausrichtung der Politik hin zu nachfrageorientiertem Wachstum und Innovation. Er kritisiert den konservativen Ansatz der fiskalischen Zurückhaltung und unzureichenden Investitionen und fordert Europa auf, größere Märkte zu erschließen, mehr in Forschung und Entwicklung zu investieren und Innovationen strategisch zu fördern. Ohne diese Neuausrichtung droht Europa weiter im globalen Wettbewerb zurückzufallen. (Adam Tooze, Chartbook)

Wie so oft ist Tooze hier der tiefgehendste Analytiker. Erneut geht es mir gar nicht so sehr darum, ob man die konkreten Ratschläge des Draghi-Berichts teilt. Vielmehr legt Tooze den Finger in die größte Wunde, wo im Gegensatz zu Fundstücken 1 und 2 der Konsens aufhören dürfte: die sektorale Ausrichtung der Volkswirtschaft. Denn die Zahlen, was R&D anbelangt, sind tatsächlich extrem auffällig. Ich empfehle, im Artikel die genauen Zahlen anzuschauen und die Analyse zu lesen, die verdient es, zur Kenntnis genommen zu werden. Die entsprechenden Schlussfolgerungen Toozes passen sicher auch nicht direkt ins progressive Politikschema, denn einen (deutlich!) größeren Markt für Risikokapital zu schaffen ist jetzt vorsichtig ausgedrückt nicht eben eine linke Priorität. Ich finde hier die Ideenlosigkeit speziell der deutschen, aber allgemein der europäischen Industriepolitik besonders bedrückend. Ich würde es ja begrüßen, wenn wir einen Wettstreit der Ideen hätten, wie wir das Problem lösen und da quasi linke Ideen (etaistischerer Natur) auf liberale Ideen (marktwirtschaftlicherer Natur) prallen. Aber da kommt von beiden Seiten praktisch nichts. Ich habe das Gefühl, die EU hockt kollektiv wie das Kaninchen vor der Schlange und bewegt sich keinen Millimeter.

4) 500.000 Euro: Dieser Mann verdient mehr als Habeck und Scholz – und schadet unserer Wirtschaft!

Die deutsche Wirtschaft steckt weiterhin in einer Krise, mit hoher Arbeitslosigkeit, drohenden Werksschließungen und stagnierendem Wachstum. In dieser Debatte wird häufig die Bundesregierung, insbesondere Wirtschaftsminister Robert Habeck, verantwortlich gemacht. Doch auch Joachim Nagel, der Präsident der Deutschen Bundesbank, spielt eine entscheidende Rolle, die oft übersehen wird. Nagel, SPD-Mitglied und seit 2022 an der Spitze der Bundesbank, hat maßgeblich zur Erhöhung der Zinssätze beigetragen. In nur einem Jahr stiegen die Zinsen von null auf 4,5 Prozent, was besonders den Wohnungsbau und Investitionen belastet hat. Die hohen Bauzinsen haben die Baugenehmigungen auf ein historisches Tief gedrückt, obwohl in Deutschland akuter Wohnungsmangel herrscht. Die Zinserhöhungen sollten die Inflation bekämpfen, doch diese war bereits stark rückläufig. Im August 2024 lag die Inflationsrate in Deutschland bei 1,9 Prozent, also nahe dem angestrebten Ziel von 2 Prozent. Gleichzeitig ist die deutsche Wirtschaft geschrumpft, was zeigt, dass die Zinserhöhungen übertrieben waren. Die Prognosen der Bundesbank, auf die sich Nagel stützte, waren jedoch fehlerhaft. Im Jahr 2022 rechnete die Bank noch mit deutlich höheren Wachstums- und Inflationszahlen, die sich als falsch erwiesen. Viele Ökonomen sehen nun Nagels Politik als mitverantwortlich für die aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Es wird gefordert, dass Nagel seine Fehler eingesteht und der Öffentlichkeit eine Erklärung für seine Entscheidungen liefert. (Maurice Höfgen. Berliner Zeitung)

Den Gehalts-Populismus einmal beiseite gelassen (ja, es ist absurd dass der Notenbankchef mehr verdient als der Bundeskanzler, aber keiner der beiden macht es für das Geld) finde ich ungeachtet des Sacharguments den Fokus auf der Geldpolitik nicht völlig verkehrt. Die Notenbanken wurden ja gerne massiv für die Eurorettungspolitik (und auch die dahinführende Zeit) in Regress genommen. Aber für die durch Zinserhöhungen verursache Depression eher nicht. Ob die Inflation durch die Zinssenkungen und Zinserhöhungen maßgeblich beeinflusst wurde, ist ja absolut umstritten. Selbiges gilt vermutlich auch für den Effekt auf die Volkswirtschaft. Aber dass diese Dimension in der öffentlichen Debatte gar nicht vorkommt, ist schon merkwürdig.

5) Autocrats Win by Capturing the Courts

In der zweiten Folge der Serie Autocracy in America, einer fünfteiligen Serie über autoritäre Taktiken, die bereits in den USA zu beobachten sind, untersuchen die Hosts Anne Applebaum und Peter Pomerantsev, wie das Justizsystem politisiert wird und wie dies das Vertrauen in die Rechtsprechung untergräbt. Sie beleuchten dabei den Fall von Renée DiResta, einer Forscherin, die sich auf Online-Desinformationskampagnen spezialisiert hat. DiResta war Teil des Election Integrity Partnership (EIP), das 2020 falsche Informationen über die Wahlen untersuchte, um den Einfluss von Fehlinformationen auf die Wahlprozesse zu verstehen. DiResta und ihr Team untersuchten 22 Millionen Tweets und legten nach der Wahl einen Bericht vor. Ein falsches Narrativ entstand, als der Aktivist Mike Benz ihre Arbeit verzerrte und behauptete, das EIP hätte diese Millionen Tweets zensiert. Diese falsche Darstellung verbreitete sich schnell in konservativen Medien und führte schließlich zu einer Untersuchung durch den US-Kongress, angeführt von Jim Jordan. DiResta und ihre Kollegen wurden daraufhin mit juristischen Anfragen und später mit Klagen konfrontiert. In der Folge wird darauf eingegangen, wie dieses politisierte Vorgehen in autoritären Systemen häufig vorkommt. Anstatt Gerechtigkeit zu fördern, werden in solchen Systemen Gesetze genutzt, um politische Gegner zu verfolgen, während Verbündete straflos bleiben. Der Fall von DiResta verdeutlicht, wie falsche Anschuldigungen und verzerrte Fakten als politisches Instrument verwendet werden, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Die Hosts thematisieren auch die zunehmende Politisierung der Gerichte in den USA, besonders im Zusammenhang mit der Arbeit des Obersten Gerichtshofs. Obwohl das Gericht in der Vergangenheit als Hüter der Verfassung galt, wird zunehmend darüber debattiert, ob seine Entscheidungen politisch beeinflusst sind. Dieser Verlust des Vertrauens in das Justizsystem könnte schwerwiegende Folgen für die amerikanische Demokratie haben. Pomerantsev und Applebaum zeigen auf, wie gefährlich es ist, wenn das Rechtssystem nicht mehr als unparteiisch wahrgenommen wird und Gerechtigkeit zunehmend als politisches Spiel gesehen wird. (Anne Applebaum, The Atlantic)

Applebaum schrieb zum Thema auch einen ausfürlichen Artikel. Ich habe hier im Blog immer und immer wieder auf die Bedeutung der Besetzung der Richter*innenämter hingewiesen, weil diese ein so neuralgischer Punkt im politischen System sind. Richter*innen unterliegen bei weitem nicht derselben Prüfung der demokratischen Öffentlichkeit wie Politiker*innen, was einerseits ein Vorteil ist - sie sollen ihr Amt ja nur nach dem Gesetz und unabhängig ausüben -, aber andererseits dann ein Nachteil wird, wenn sie denn doch politisch agieren, wie das in den USA der Fall ist. Oder eben in Staaten, die sich auf dem Weg in die Autokratie befinden. In der letzten Zeit wurde immer wieder das Problem moniert, dass es der AfD gelingen könnte, rechtsextreme Kandidat*innen an die Spitze zu befördern. Wir haben in Deutschland das Glück, dass durch das Verbeamtungs- und Laufbahnprinzip die Einflussnahme wesentlich schwerer ist; unmöglich ist sie bei weitem nicht. Aber gerade in den USA ist die Übernahme weiter Teile der Judikative durch Extremisten eine Hinterlassenschaft, die auch lange nach einer Wahlniederlage der Autokraten nachwirken dürfte. Wir sehen dasselbe Problem gerade in Polen, wo die Tusk-Regierung ihre liebe Not damit hat, die Demokratie zu reparieren, wo sie von PiS zerstört wurde.

Resterampe

a) What’s the matter with Project 2025? True.

b) Most welfare programs already require the able-bodied to work. Politische Evergreens. Siehe auch: Surprise! The Wall Street Journal misleads on social welfare spending.

c) Fürs große Moralisieren geht es Deutschland viel zu schlecht. Ich stimme Ulf Poschardt zu, aber der meint natürlich nicht sich.

d) Die Zahlen der deutschen Industrieproduktion sind katastrophal. Siehe auch hier.

e) Donald Trump is always right, even when he isn’t.

f) Landesamt stellt fest: Immer mehr Kinder haben gesunde Zähne. Übrigens eine Folge unserer explodierten Konsum-/Sozialausgaben.

g) Die US-Polizei ist so wahnsinnig kaputt.

h) Political violence in America.

i) Demografie in der Ukraine. Echt krass.

j) Beispiel für Narrativverbreitung.

k) Mentalität von Behörden.

l) What does Kamala Harris need to do to seal the deal?


Fertiggestellt am 18.09.2024

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