Dienstag, 24. September 2024

Die Bahn kämpft mit Putin, den Bürger*innenräten und der Bertelsmannstiftung um die Auflösung des Grill-Trilemmas - Vermischtes 24.09.2024

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Der Kampf ums Recht auf Grillen hat etwas Groteskes

Der Artikel beleuchtet die zunehmende Polarisierung um das Thema Grillen, das in der öffentlichen Debatte oft als Symbol für eine vermeintlich rückständige oder reaktionäre Haltung herangezogen wird. Besonders im Kontext des Wahlkampfs in Thüringen wird deutlich, wie tief verwurzelte Vorurteile gegen das Ländliche genutzt werden, um politische Positionen zu markieren. Ein Wahlplakat der CDU in Thüringen, das das Recht auf Grillen verteidigt, wird als Symbol für die Angst vor grüner Bevormundung dargestellt. Der Text hinterfragt jedoch, ob hinter diesen scheinbar simplen Parolen nicht tiefere gesellschaftliche Spannungen stecken. In modernen Gesellschaften existieren immer auch konservative Kräfte, die nicht am Fortschritt teilhaben wollen oder können. Diese Spannung zeigt sich besonders in der Kluft zwischen urbanen und ländlichen Lebensweisen, wobei traditionelle Tätigkeiten wie das Grillen von manchen als Widerstand gegen den moralischen Druck der städtischen Elite interpretiert werden. Der Artikel plädiert dafür, die Verteidiger des Grillens nicht vorschnell als rückständig abzustempeln. Vielmehr sollten ihre Bedenken ernst genommen werden, da diese Ausdruck eines Widerstands gegen gesellschaftliche Normen und Erwartungen sind, die von einem Teil der Bevölkerung als bevormundend empfunden werden. (Thomas Schmid, Welt)

Der "Kampf ums Grillen" ist tatsächlich grotesk, aber vor allem deswegen, weil er so eingebildet ist. Jahr für Jahr rauchen in Deutschland die Grills, ob in der Stadt oder auf dem Land, ob da Vegetarisches oder Fleischliches drauf liegt. Meist beides in trauter Zweisamkeit. Es gibt keine breite gesellschaftliche Debatte für ein Grillverbot, nicht einmal für eine Grilleinschränkung. Wer stempelt denn Grillen als rückständig ab, noch dazu "vorschnell"? Die Vorstellung, es gäbe einen "Kampf ums Grillen", ist völlig grotesk. Es ist Kulturkampf aus der Retorte, eine künstliche Polarisierung, der kein Gegenbild gegenübersteht außer einem Phantom. Auch diese Idee, dass Grillen mit der Provinz verbunden würde, ist nicht haltbar. - Wo Schmid dagegen viel richtiger liegt ist die Abwertung des Lands gegenüber der Stadt, aber das ist kein neues Phänomen, das haben wir jetzt seit über 100 Jahren, wenn's langt. Und mit Grillen hat das auch so gut wie Nichts zu tun.

2) Die Deutsche Bahn macht einen großen Fehler

Der Verkauf der Logistiktochter DB Schenker durch die Deutsche Bahn an den dänischen Konkurrenten DSV für 14,3 Milliarden Euro stellt den größten Firmenverkauf in der Geschichte der Bahn dar. Die Einnahmen sollen zur Reduzierung der Schulden der Bahn verwendet werden. Kritiker sehen darin jedoch nur eine kurzfristige Lösung. Strategisch betrachtet könnte der Verlust eines global agierenden Logistikunternehmens, insbesondere in Krisenzeiten, schwerwiegende Folgen haben. DB Schenker war während der Coronapandemie von großer Bedeutung, und ähnliche Leistungen wären bei zukünftigen Krisen wie geopolitischen Spannungen in Taiwan oder Europa gefragt. Eine Minderheitsbeteiligung an Schenker, wie es der Private-Equity-Fonds CVC angeboten hatte, wäre eine sinnvolle Alternative gewesen. Diese hätte es ermöglicht, Schenker langfristig als Unternehmen zu erhalten und weiterhin Gewinne zu generieren, ähnlich wie bei der Deutschen Telekom oder DHL. Die 14 Milliarden Euro aus dem Verkauf sollen Schulden der Bahn tilgen, doch ohne grundlegende Reformen wird dies den Schuldenberg langfristig nicht abbauen. Der Verkauf kaschiert vielmehr die strukturellen Probleme der Bahn. Verkehrsminister Volker Wissing wird aufgefordert, radikalere Schritte zu unternehmen, etwa den Bahnchef Richard Lutz zu ersetzen und die übermäßige Verwaltung der Bahn zu reduzieren. Um die Infrastrukturprobleme nachhaltig zu lösen, wird vorgeschlagen, einen Infrastrukturfonds für die Schiene zu schaffen, um der Bahn langfristig verlässliche Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. (Gerald Traufetter, Spiegel)

Ich finde das Thema der Schenker-Privatisierung symptomatisch für den Umgang mit der Bahn. Ich plädiere schon seit Jahren dafür, diese Konzernsparte loszuwerden, weil es völlig Quatsch ist, dass die Bahn sich selbst Konkurrenz macht, ob sie mit dem Laden nun Geld verdient oder nicht. Es ist einfach Unsinn. Die Ausrichtung der Bahn - oder besser, die mangelnde Ausrichtung der Bahn - ist ja eines der Kernprobleme, mit dem sie sich herumschlagen muss. Nur ist die Motivation der Privatisierung nicht von einer Erkenntnis der Notwendigkeit strategischer Neuausrichtung und Integration in einen Plan geprägt, sondern von politischen Motiven: um der FDP den Erfolg des Haushaltsplans zu geben, muss die Bahn Milliarden einsparen. Und der Verkauf von Schenker zerstört zwar, wie Traufetter schön darstellt, langfristig die Finanzen der Bahn. Aber für die Wahl 2025 kann die FDP ihre Zahlenmassage betreiben. Das ist dasselbe wie der Versuch der Privatisierung 2007, der von derselben Logik geleitet war und eben nicht eine unternehmensstrategische Ausrichtung hatte. Dasselbe gilt auch für den potenziellen Käufer: egal wer, Hauptsache man kann die Zahlen vorweisen. Dass das aus industriepolitischer Sicht keine gute Idee ist - Traufetter liefert mit Lieferketten und Abhängigkeiten von autokratischen Regimen die richtigen Stichworte -, weil mal wieder überhaupt kein Gedanke in diese Richtung verschwendet wird, ist leider symptomatisch für das völlige Fehlen deutscher Wirtschaftspolitik.

3) Tiefe Einblicke in Putins Lügenmaschine

Der Artikel beschreibt die umfassenden Desinformationskampagnen, die von der russischen Agentur "Social Design Agency" (SDA) unter der Leitung von Ilya Gambashidze organisiert werden. Die SDA arbeitet offenbar direkt im Auftrag der russischen Präsidialverwaltung und verfolgt das Ziel, durch Falschinformationen und gezielte Manipulationen westliche Demokratien zu destabilisieren. Die Desinformationskampagnen zielen darauf ab, russlandfreundliche Narrative zu verbreiten und bestehende gesellschaftliche Konflikte in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Israel und der Ukraine zu verstärken. Besonders auffällig ist die sogenannte "Doppelgänger"-Kampagne, bei der seriöse Nachrichtenseiten nachgebaut wurden, um Lügen und Falschinformationen zu verbreiten. Ein weiteres Ziel der SDA ist es, die politische Polarisierung in westlichen Ländern zu fördern und rechtsgerichtete Parteien zu unterstützen, wie etwa vor den EU-Wahlen 2024. Zu den Maßnahmen gehören auch die Erstellung von Karikaturen, Memes und gefälschten Social-Media-Posts. Die Aktivitäten der SDA werden von westlichen Sicherheitsbehörden ernst genommen, da sie darauf abzielen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen und das Vertrauen in demokratische Institutionen zu untergraben. (Petra Blum/Florian Flade/Palina Milling/Katja Riedel/Luzius Zöller, Tagesschau)

Man muss glaube ich zwei Dinge sehr gut unterscheiden, die in der Rezeption dieser guten Reportage gerne vermischt werden: was Russland dient und was Russland beeinflussen kann. Dass Putin gerne eine starke AfD hat und Zukunftsangst in Deutschland verbreiten will, dass er davon profitiert, wenn unser politisches System sich über Migration und die Frage der Ukraine-Unterstützung zerreißt - geschenkt. Nur beantwortet das zwei entscheidende Fragen nicht: erstens, wie viel Einfluss hat er darauf, und zweitens, wie viel ist Trend? Die Sowjetunion hat ja auch zweifellos die Friedensbewegung der 1980er Jahre massiv unterstützt und gepusht und von ihr profitiert. Nur: hätte die Friedensbewegung auch ohne Hilfen aus Stasi und KGB Millionen Leute auf die Straße gebracht? Sehr gut möglich, denn der Trend lief ohnehin in die Richtung. Genauso heute: die AfD und der BSW bekommen unzweifelhaft Unterstützung aus Russland, aber brauchen sie die? Ich würde eher behaupten, dass wir hier von Vorteilen in der Marginalie reden. Vielleicht hätten AfD und BSW ein oder zwei Prozentpunkte weniger ohne die russische Unterstützung, aber maßgeblich ist sie nicht. Sowohl die Ursachen des Erfolgs dieser Parteien als auch die Trends, die sie gerade beflügeln, sind nicht russischer Natur. Moskau schwimmt im Trend mit und verstärkt ihn, vergiftet zweifellos das politische Klima, aber ist nicht maßgeblich dafür verantwortlich. Damit macht man es sich zu leicht.

4) Zensur gegen Fake News? Die Bertelsmann Stiftung und ihr freiheitsfeindlicher «Bürgerrat»

Der Artikel kritisiert scharf die Rolle der Bertelsmann-Stiftung und ihres Projekts „Forum gegen Fake News“, welches angeblich Maßnahmen zur Bekämpfung von Desinformation entwickeln soll. Der Autor stellt infrage, ob der von der Stiftung organisierte „Bürgerrat“ mit 140 Teilnehmern, die aus 420.000 Online-Vorschlägen 28 Handlungsempfehlungen erarbeitet haben, wirklich demokratisch legitimiert ist. Kritisiert wird besonders die Gefahr von Zensur, die durch ein „Gütesiegel“ für Medien oder durch künstliche Intelligenz zur Erkennung von Desinformation entstehen könnte. Diese Maßnahmen, so der Autor, könnten zu einer Kontrolle der Meinungsbildung führen und widersprächen der in Artikel 5 des Grundgesetzes verankerten Meinungsfreiheit. Statt der vorgeschlagenen Maßnahmen fordert der Artikel eine stärkere Betonung von Freiheit, Pluralismus und demokratischer Bildung in Schulen. Die Idee, eine zentrale Stelle einzurichten, die Desinformation überwacht, wird als totalitär abgelehnt. Abschließend warnt der Autor davor, Demokratie in eine betreute und gelenkte Debatte zu verwandeln, und fordert stattdessen eine stärkere Förderung der freien politischen Meinungsbildung. (Susanne Gaschke, NZZ)

Wir hatten bereits im letzten Vermischten auf der Resterampe kurz die Bürger*innenräte thematisiert, aber das Thema schlägt in der bürgerlichen Presse gerade höhere Wellen, weswegen ich es hier noch einmal thematisieren will. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich von Bürger*innenräten wenig halte (genauso wie von direkter Demokratie). Die Verantwortung für Politik liegt bei unseren gewählten Repräsentant*innen. Sie liegt nicht bei den Medien, nicht bei den Gerichten, nicht bei irgendwelchen gelosten Räten, nicht bei der Bevölkerung. Wir wählen alle paar Jahre Repräsentierende, damit diese uns repräsentieren. Sie verantworten sich gegenüber dem Souverän, niemand sonst. Alles andere ist Diffusion und führt letztlich nur zu mehr Verdrossenheit. Die hochfliegenden Hoffnungen auf die Bürger*innenräte als Legitimationsmaschinen war auch schon immer eine Schimäre. Wie man am vorliegenden Beispiel gut erkennen kann werden ihre Vorschläge wie alle anderen auch aus ideologischer Sicht beurteilt: was ich doof finde, finde ich auch dann doof, wenn es vom Bürger*innenrat statt von Habeck oder Lindner kommt. Und zum anderen ist auch so ein Rat keine Garantie dafür, dass da sinnvolle oder auch nur verfassungsgemäße Vorschläge rauskommen. Am Ende entscheidet ja doch nur wieder die Politik, was sie mit solchen "Vorschlägen" macht. Ich sehe einfach nicht, wie hier ein Mehrwert geschaffen werden soll.

5) A New Trilemma Haunts the World Economy

In seinem Artikel erörtert Dani Rodrik ein neues Dilemma, das die globalen Entscheidungsträger vor große Herausforderungen stellt: die gleichzeitige Bekämpfung des Klimawandels, die Unterstützung der Mittelschicht in entwickelten Ländern und die Reduzierung der globalen Armut. Rodrik argumentiert, dass es bei den derzeitigen politischen Ansätzen schwierig sei, alle drei Ziele gleichzeitig zu erreichen. In der Vergangenheit konzentrierten sich die Wirtschaftspolitiken auf Wachstum und Stabilität, ohne die ökologischen Kosten zu berücksichtigen. Nun, da Länder wie die USA auf grüne Industrien und die Stärkung der Mittelschicht setzen, könnten diese Maßnahmen die Entwicklungschancen ärmerer Länder beeinträchtigen. Grüne Subventionen und Regularien in den USA und der EU könnten die exportorientierte Wachstumsstrategie, die für den Erfolg vieler ostasiatischer Länder entscheidend war, für Entwicklungsländer erschweren. Rodrik schlägt eine alternative Politik vor, die den Klimaschutz und die Armutsbekämpfung in den Mittelpunkt stellt. Dies würde umfangreiche Ressourcen- und Marktzugänge von reichen an arme Länder erfordern. Allerdings könnte dies zu mehr Wettbewerb um niedrig qualifizierte Arbeitsplätze in reichen Ländern führen und die Bemühungen, die Mittelschicht zu stärken, untergraben. Rodrik weist darauf hin, dass der Übergang zu dienstleistungsorientierten Volkswirtschaften einige dieser Konflikte entschärfen könnte, da zukünftige Arbeitsplätze in nicht handelbaren Sektoren wie Pflege, Bildung und Einzelhandel entstehen werden, was weniger Handelskonflikte verursacht. Außerdem betont er die Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit im Kampf gegen den Klimawandel, insbesondere mit Entwicklungsländern, da deren Emissionen bald die Hälfte des globalen Ausstoßes ausmachen werden. Rodrik fordert neue politische Ansätze, um dieses Dilemma zu lösen, da die derzeitige Lage schwierige Entscheidungen zwischen Klimaschutz, Wohlstand der Mittelschicht und Armutsbekämpfung erzwingt. (Dani Rodrik, Project Syndicate)

Dieses Trilemma halte ich für eine sehr realistische Aussicht - und auch für eine besorgniserregende. Denn ein Ressourcentransfer von Nord nach Süd ist komplett unrealistisch. Eine Lösung der Klimakrise ohne den "globalen Süden" (weiterhin ein ebenso dummer wie alternativloser Begriff) ist ebenfalls nicht möglich. Unvorstellbar ist, dass die Bevölkerungen dieser Länder einfach darauf verzichten, Wohlstand zu erreichen. Gleichzeitig ist weder das Erreichen dieses Wohlstands noch das Halten von unserem ohne die Bewältigung der Klimakrise möglich. Dieses Trilemma ist aber ein politisches. Wenn es nicht gelingt, das Kamel durch dieses spezifische Nadelöhr zu pressen, dann wird der Druck der Realität zwangsläufig das Trilemma auflösen. Und das wird niemandem der Beteiligten gefallen. Ich verweise an dieser Stelle nur einmal mehr auf die Zukunftsvision Robinsons, der das durchexerziert hat.

Resterampe

a) Donald Trump doesn’t want to broaden health care coverage. No shit, but bears saying.

b) CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz: Ein Jahr Zeit, zu lernen. Scholz' große Hoffnung: dass Merz es nicht lernt. Gründe für die Hoffnung gibt es.

c) Die US-Wählenden unterstützen mehrheitlich die Trump-Tarife. Diese fixe Idee, dass sie die Kosten nicht zu tragen hätten, ist nicht aus der Welt zu kriegen.

d) Alles Alarmismus?

e) How Netflix won the streaming wars. Interessante Analyse.

f) Trump fordert jetzt auch "Remigration".

g) Polarisiert die Politik das Volk?

h) Die logische Konsequenz der republikanischen Abtreibungspolitik. Genau die gleiche Dynamik führte 1850 zum "Fugitive Slave Act".

i) Nachtrag zum Draghi-Report und von wegen "was kann Industriepolitik erreichen".

j) Ich verstehe diese Flugtaxi-Obsession nicht.


Fertiggestellt am 18.09.2024

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