Montag, 16. September 2024

Von Schädeln, Intelligenz und Rassen

 

Ein Gastbeitrag von Maria  Tiede.

In der heutigen Zeit gewinnen rassistische und xenophobe Diskurse, insbesondere durch rechtspopulistische Bewegungen wie die „Neue Rechte“ in Deutschland, wieder an Bedeutung. Diese Gruppen greifen vermehrt auf pseudowissenschaftliche Theorien zurück, um ihre Forderungen nach sozialer und politischer Ausgrenzung zu rechtfertigen. Sie betonen vermeintliche biologische oder kulturelle Unterschiede zwischen verschiedenen Ethnien, um ihre Ideologien zu stützen. In diesem Zusammenhang tauchen auch alte, längst widerlegte Konzepte wie ‚Rassen‘ und angebliche genetische Unterschiede wieder auf.

Ziel dieses Textes ist es, einen Beitrag zur Aufklärung über die historisch belegte Instrumentalisierung der Wissenschaft für rassistische Zwecke zu leisten und die Relevanz dieses Wissens für den heutigen Diskurs aufzuzeigen. Dazu werden die Arbeiten von Stephen Jay Gould und Patrick B. Miller betrachtet, die sich intensiv mit der Geschichte des wissenschaftlichen Rassismus und dessen Missbrauch auseinandergesetzt haben. Abschließend wird der Bogen zu aktuellen Debatten um das Konzept der ‚Rasse‘ und seiner Bedeutung in heutigen rechtsextremen Ideologien geschlagen.

Stephen Jay Gould und Patrick B. Miller sind zwei renommierte Wissenschaftler, die sich intensiv mit der Geschichte des wissenschaftlichen Rassismus auseinandergesetzt haben. In ihren Werken analysieren sie die Entwicklung pseudowissenschaftlicher Theorien, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert verwendet wurden, um rassistische Ideologien zu rechtfertigen.

Stephen Jay Gould (1941–2002) veröffentlichte 1981 „American Polygeny and Craniometry Before Darwin“. Er war ein US-amerikanischer Paläontologe, Evolutionsbiologe und Wissenschaftshistoriker. Als Professor an der Harvard University sowie einflussreicher Autor schrieb er zahlreiche Bücher und Artikel über Evolution und die Missbrauchsgeschichte der Wissenschaft. In seinem Werk The Mismeasure of Man (1981) – und speziell im Kapitel „American Polygeny and Craniometry Before Darwin“ – untersucht er die Entwicklung der rassistischen Theorie des Polygenismus und den Missbrauch der Kraniometrie1 im 19. Jahrhundert, besonders in den USA. Gould befasst sich vor allem mit der Arbeit von Samuel George Morton (1799–1851), einem prominenten amerikanischen Arzt und Polygenisten2, der Schädelmessungen benutzte, um zu behaupten, dass die intellektuelle Überlegenheit der Weißen durch größere Schädelvolumina nachgewiesen werden könne. Morton und seine Zeitgenossen versuchten, auf wissenschaftlicher Basis rassistische Hierarchien zu begründen, indem sie biologische Unterschiede zwischen den Rassen konstruierten und durch Messungen von Schädeln zu belegen suchten. Gould analysiert Mortons Methodik und weist nach, dass Morton Daten manipulierte, um seine vorgefassten Theorien zu stützen. Morton wählte seine Schädelstichproben so aus, dass sie seine Hypothese bestätigten, ignorierte abweichende Ergebnisse und verzichtete auf eine systematische statistische Analyse. Gould zeigt auf, dass Mortons Forschung nicht der wissenschaftlichen Objektivität verpflichtet war, sondern vielmehr seinen rassistischen Überzeugungen. Gould deckt dabei auf, dass Mortons vermeintlich ‚objektive‘ Messungen der Schädelvolumina von Weißen, Schwarzen und amerikanischen Ureinwohnern auf selektiven Datenerhebungen und methodischen Fehlern basierten.

„The Anatomy of Scientific Racism“ wurde 2004 von Patrick B. Miller herausgegeben. Als Professor für Geschichte an der Northeastern Illinois University und Experte für afroamerikanische Geschichte sowie die Geschichte des Rassismus in den USA, beschäftigte auch er sich mit Rassismus in der Wissenschaft. In seinem Aufsatz „The Anatomy of Scientific Racism“, analysiert Miller die Entwicklung des wissenschaftlichen Rassismus vom 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Er setzt sich mit der politischen und sozialen Bedeutung wissenschaftlicher Theorien auseinander, die zur Legitimation rassistischer Gesellschaftsstrukturen verwendet wurden. Miller beschreibt, wie der wissenschaftliche Rassismus insbesondere in der Zeit vor dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) und in der Phase der Rassentrennung nach dem Krieg (Jim Crow-Ära3) politisch instrumentalisiert wurde. Im Fokus seiner Analyse steht die enge Verbindung zwischen Wissenschaft und Politik. Wissenschaftler, die Theorien über die angebliche Überlegenheit der weißen Rasse entwickelten, wurden oft von sozialen und politischen Interessen geleitet, um bestehende Machtstrukturen zu stützen. Ein zentraler Punkt in Millers Arbeit ist der Übergang von der Kraniometrie zur Eugenik im frühen 20. Jahrhundert. Die Eugenik-Bewegung, die von Wissenschaftlern wie Charles Davenport gefördert wurde, griff rassistische Theorien auf und versuchte, diese durch genetische Argumente zu untermauern. Eugeniker forderten Zwangssterilisationen und die Kontrolle über die Fortpflanzung ‚minderwertiger‘ Rassen und Klassen, um die ‚rassische Reinheit‘ zu bewahren. Miller verdeutlicht, dass diese wissenschaftlichen Theorien in direktem Zusammenhang mit gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen standen und zur Rechtfertigung von Diskriminierung und Gewalt gegen nicht-weiße Bevölkerungsgruppen dienten.

Gemeinsame Themen: Polygenismus, Kraniometrie und die Instrumentalisierung der Wissenschaft

Beide Autoren (Gould und Miller) legen dar, wie Teile der Wissenschaft, speziell die Anthropologie und Medizin, in den Dienst rassistischer Ideologien gestellt wurde. Der Polygenismus, der behauptete, dass verschiedene Rassen unterschiedliche biologische Ursprünge hätten, und die Kraniometrie, die Schädelvolumina als Maßstab für intellektuelle Fähigkeiten verwendete, waren zentrale Theorien, die im 19. Jahrhundert entwickelt wurden, um die Überlegenheit der weißen Rasse zu beweisen. Gould beschreibt, wie Morton in seinen Schädelmessungen die Ergebnisse manipulierte, um zu zeigen, dass Weiße die größten Schädelvolumina hätten. Dabei ignorierte er methodische Schwächen und verließ sich auf voreingenommene Datenauswahl, um seine rassistischen Annahmen zu bestätigen. Morton war nicht der einzige; viele Wissenschaftler der Zeit nutzten ähnliche Methoden, um soziale und politische Ungleichheiten zu rechtfertigen. Miller erweitert dieses Thema und zeigt, dass sich der wissenschaftliche Rassismus mit der Zeit weiterentwickelte und neue Formen annahm. Während die Kraniometrie im 19. Jahrhundert die Hauptrolle spielte, trat im 20. Jahrhundert die Eugenik an ihre Stelle. Diese pseudowissenschaftliche Bewegung argumentierte, dass die Fortpflanzung ‚minderwertiger‘ Rassen eingeschränkt werden müsse, um die weiße ‚Rasse‘ zu bewahren und vor biologischer Degeneration zu schützen.

Widerlegung der Kraniometrie durch moderne Studien

Zwei bedeutende Studien haben die Grundlage der Kraniometrie und ihre Annahmen eindeutig widerlegt:

  1. Stephen Jay Goulds „The Mismeasure of Man“ (1981): Gould überprüfte Mortons Daten und zeigte auf, dass Morton unbewusste oder bewusste Voreingenommenheit in seine Forschung einfließen ließ. Gould wies nach, dass Mortons Behauptungen, die Größe des Schädels sei ein Indikator für intellektuelle Fähigkeiten, auf methodisch fehlerhaften Messungen beruhten. Diese Kritik trug wesentlich zur Widerlegung der Kraniometrie als wissenschaftlich haltbare Methode bei und zeigte, dass rassistische Annahmen die Forschungsergebnisse beeinflussten.
  2. Ralph Holloways Studie (2010): Eine Gruppe von Anthropologen unter der Leitung von Ralph Holloway überprüfte Mortons Schädelmessungen erneut. Obwohl sie Goulds Kritik an Morton in einigen methodischen Details revidierten, bestätigten sie seine wesentliche Schlussfolgerung: Die Unterschiede in den Schädelvolumina zwischen verschiedenen ‚Rassen‘ waren statistisch insignifikant, und Schädelvolumen konnte nicht als verlässlicher Indikator für Intelligenz oder geistige Fähigkeiten verwendet werden. Diese beiden Studien verdeutlichen, dass die Versuche, intellektuelle Unterschiede zwischen menschlichen Gruppen auf Schädelmessungen zu stützen, wissenschaftlich nicht haltbar sind. Beide Studien widerlegen die Annahmen, die die Kraniometrie und ähnliche pseudowissenschaftliche Praktiken über Jahrhunderte hinweg stützten.

‚Rasse‘ und die neue Rechten in Deutschland

Trotz der wissenschaftlichen Widerlegung von Theorien wie der Kraniometrie erleben wir heute eine Renaissance ähnlicher Diskurse, insbesondere in politischen Bewegungen wie der ‚Neuen Rechten‘ in Deutschland. Diese Gruppen, die sich oft auf die sogenannte Ethnopluralismus-Ideologie stützen, sprechen von kulturellen und ‚biologischen‘ Unterschieden zwischen Ethnien, die in der modernen Wissenschaft längst als soziale Konstrukte erkannt wurden. Sie argumentieren, dass verschiedene Ethnien nicht ‚vermischt‘ werden sollten, um eine vermeintlich homogene nationale Identität zu bewahren. Dabei verwenden sie oft pseudowissenschaftliche Begriffe und Konzepte, um ihre rassistischen Überzeugungen zu rechtfertigen. Sie verweisen auf angebliche biologische Unterschiede, die – ähnlich wie im 19. Jahrhundert – zur Rechtfertigung von sozialer und politischer Ausgrenzung genutzt werden. Auch wenn sie sich oft auf ‚kulturelle Unterschiede‘ berufen, findet sich in ihren Argumenten eine deutliche Anknüpfung an die alten rassistischen Theorien des wissenschaftlichen Rassismus.

Häufig wird dabei mit der Eugenik argumentiert, die wiederum ebenso widerlegt ist. Vor allem wenn man bedenkt, dass die genetische Varianz zwischen verschiedenen Menschen extrem gering ist, lässt sich die Logik der Eugenik nicht mehr aufrechterhalten. Etwa 99,9% der DNA-Sequenzen sind bei allen Menschen identisch. Die verbleibenden 0,1% der Gene machen die individuellen Unterschiede zwischen Menschen aus, einschließlich äußerer Merkmale wie Hautfarbe, Haarstruktur und Augenfarbe sowie bestimmter genetischer Prädispositionen für Krankheiten. Diese geringe genetische Varianz bedeutet, dass die Unterschiede zwischen Menschen auf biologischer Ebene sehr klein sind, unabhängig von der ethnischen oder geografischen Herkunft. Studien zur Genetik haben gezeigt, dass es innerhalb jeder menschlichen Population mehr genetische Unterschiede gibt als zwischen verschiedenen Populationen. Das heißt, die genetische Vielfalt innerhalb einer ‚Rasse‘ ist größer als die zwischen verschiedenen ‚Rassen‘. Dieser Befund widerspricht den Annahmen, die historisch im wissenschaftlichen Rassismus vertreten wurden, der große genetische Unterschiede zwischen den sogenannten ‚Rassen‘ postulierte. Tatsächlich ist das Konzept von ‚Rasse‘ genetisch gesehen kaum haltbar, da es keine klaren genetischen Grenzen zwischen den verschiedenen menschlichen Bevölkerungen gibt. Die genetische Forschung betont daher, dass ‚Rasse‘ ein soziales Konstrukt ist, das wenig mit der biologischen Realität zu tun hat. Dennoch greifen rechtspopulistische Bewegungen auf diese längst widerlegten Theorien zurück, um ihre xenophoben und nationalistischen Ideologien zu fördern.

Fazit

Die Werke von Stephen Jay Gould und Patrick B. Miller bieten einen tiefen Einblick in die Entstehung und den Missbrauch wissenschaftlicher Theorien zur Unterstützung rassistischer Ideologien im 19. und 20. Jahrhundert. Sie verdeutlichen, wie tief der wissenschaftliche Rassismus in der Gesellschaft verankert war und wie Wissenschaftler wie z. B. Morton und die Eugeniker Daten manipulierten, um bestehende soziale Ungleichheiten zu rechtfertigen und zu zementieren. Trotz der eindeutigen Widerlegung dieser Theorien durch moderne Studien finden ähnliche rassistische Argumentationen auch heute noch Anklang, insbesondere in politischen Bewegungen wie den neuen Rechten. Es bleibt entscheidend, diese ideologischen Kontinuitäten zu erkennen und sie mit wissenschaftlicher Aufklärung zu begegnen. Ich plädiere dafür dass, gestützt auf die Studien und dem Fakt, dass ‚Rasse‘ ein soziales Konstrukt sein, jedes Mal, wenn ein Argument sich als wissenschaftlich tarnt ideologisch hinterfragt werden muss. Gerade in diesen Zeiten in der Worte wie ‚Biopolitik‘ und ‚Deutschland den Deutschen‘ eine Renaissance erleben, muss eine aufklärerische Gegenbewegung gestartet werden.


Fußnoten:

1 Kraniometrie = Lehre der Schädelvermessung

2 Polygenisten sind Anhänger der polygenetischen Theorie, die besagt, dass verschiedene menschliche ‚Rassen‘ unterschiedliche Ursprünge haben. Im Gegensatz zur monogenetischen Ansicht, die davon ausgeht, dass alle Menschen von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen, argumentierten Polygenisten, dass jede Rasse separat erschaffen wurde und daher unterschiedliche biologische Merkmale und Fähigkeiten besitze.

3 Die Jim-Crow-Laws waren eine Reihe von staatlichen und lokalen Gesetzen, die in den Südstaaten der USA zwischen dem späten 19. Jahrhundert und der Mitte des 20. Jahrhunderts eingeführt wurden, um die Rassentrennung zu legalisieren und durchzusetzen. Diese Gesetze führten zu einer strikten Trennung von Schwarzen und Weißen in fast allen öffentlichen Bereichen, einschließlich Schulen, öffentlichen Verkehrsmitteln, Restaurants, Parks und sogar Toiletten.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.