Samstag, 16. Mai 2020

Die Polarisierung einer Pandemie

Man sollte eigentlich annehmen, dass nichts eine Nation so sehr eint wie eine tiefe Krise. Schließlich ist für den Ausbruch von Covid-19 niemand wirklich sinnvoll verantwortlich zu machen, will niemand krank werden, sind Maßnahmen erforderlich. Aber der aktuelle Trend zur Polarisierung in der gesamten westlichen Welt macht dieser naiven Annahme einen Strich durch die Rechnung. Für kaum drei Wochen waren die Deutschen bereit, an einem Strang zu ziehen; in den USA gab es nicht einen Moment, in dem die Polarisierung zugunsten einer Krisenreaktion überwunden worden wäre. Uns bietet sich daher in diesen Tagen ein absurdes Schauspiel: die Polarisierung einer Pandemie.

Diese Polarisierung verläuft nicht entlang von Parteilinien. In praktisch jeder Partei gibt es Leute, die der Notwendigkeit von Maßnahmen kritisch gegenüberstehen und solche, die sie postulieren. In seinem brillanten Essay "Der Kampf um die Normalität" stellt Jonas Schaible die Frage, warum Corona das traditionelle Rechts-Links-Schema so aufsprengt und über Parteigrenzen hinweg merkwürdigste Koalitionen erlaubt. Gerade die FDP erlebt über Corona einen veritablen Richtungsstreit, während Politiker der LINKEn (!) sich schützend vor Angela Merkel stellen: Seine Antwort auf den Überlapp zwischen verschiedenen Gruppierungen besteht darin, wie diese auf das Konzept der Normalität reagieren:
Blickt man auf diese Diskussion über Corona-Normalität, fällt auf, dass die momentane Ordnung der Parteien verblüffend der Konstellation ähnelt, die sich bereits in den vergangenen Jahren immer dann herausgebildet hat, wenn es um den Umgang mit Zumutungen an die alte Normalität geht. Feminismus, Emanzipation von sexuellen Minderheiten, inklusive Sprache, Aufarbeitung des Kolonialismus und Umbenennung von Straßen, religiöse Pluralisierung und Antirassismus - immer wieder forderten vormals nicht sichtbare oder nicht gleichberechtigte Gruppen Rechte ein und setzten die alte Normalität so unter Rechtfertigungsdruck. Dazu kommt der Klimaschutz, der ebenfalls die bisherige Normalität infrage stellt.
Anders ausgedrückt: Mit dem Begriff "Normalität" werden völlig andere Konzepte beschrieben, sind völlig andere implizite Annahmen verbunden, je nachdem, wen man fragt. Diejenigen, die grundsätzlich die oben angesprochenen Entwicklungen ablehnen, verstehen unter "Normalität" eine weitgehende Umwandlung der deutschen Gesellschaft, die sie als Rückkehr in einen besseren, früheren Status begreifen. Das lässt sich zwar in der historischen Rückschau ohnehin nicht halten, ist aber als Sehnsuchtsbild schon immer sehr stark gewesen. Bereits in der Antike meckerten die Philosophen ja über die unruhigen modernen Zeiten und wünschten die Rückkehr in die Normalität ihrer Vorväter.

Ich denke, dass die Corona-Krise bei vielen zu etwas führt, das ich die "Erschütterung der Gegenwart" nennen möchte. Was ich damit meine ist, dass kein grundlegender Konsens darüber besteht, was eigentlich grundlegende Fakten in der Gesellschaft sind. Es ist längst nicht nur ein Meinungsstreit, sondern, wenn man den verstaubten Begriff auspacken darf, ein Konflikt von Weltanschauungen. In der polarisierten Welt schauen beide Seiten auf den gleichen Gegenstand und erkennen darin völlig unterschiedliche Vorgänge.

Das liegt auch an der schweren Begreifbarkeit des Phänomens "Virus". Die dahinterstehenden Vorgänge sind komplex, und wie beim Impfthema gilt auch hier, dass die kognitive Verzerrung des Ankers dazu führt, dass wir entweder den Experten glauben oder aber in unsichere Zweifelfahrwasser kommen. Das Konzept ist einfach: Abstand halten erschwert die Ausbreitung, etwa. Aber warum das so ist ist tatsächlich komplex. Entweder glauben wir den Experten, oder wir zweifeln, und wenn wir zweifeln, führt unser mangelnder Sachverstand dazu, dass wir schnell auf abstruseste Erklärungsmuster hereinfallen, die glaubwürdig klingen, deren Wahrheitsgehalt wir aber gar nicht prüfen können. Der Dunning-Kruger-Effekt macht gerade intelligentere, gebildetere Menschen anfällig dafür, wie diverse Impfgegner aus Berlin-Kreuzberg bestätigen können, die sonst reichlich wohlstandssaturiert eher dem progressiven Milieu zuneigen. Dazu kommt, dass Menschen ohnehin riesige Probleme damit haben, exponentielle Entwicklungen einschätzen zu können. Unsere Hirne scheinen dafür schlicht nicht gemacht.

Rattenfänger aller Art machen sich diese Effekte zunutze. Tausende von Verschwörungstheoretikern etwa schließen dieser Tage wortwörtlich die Reihen und sagen einem Virus den Kampf an, wie eine wirre Sekte, die allein durch festen Glauben die Realität ändern kann. Dabei handelt es sich überhaupt nicht um einen Gegenstand des politischen Diskurses. Man kann ja problemlos etwa Ausprägungen der Moderne wie die Ehe für Alle ins Feld ziehen, oder gegen die NATO-Politik in Osteuropa. Aber ein Virus? Das existiert entweder oder es existiert nicht. Aber nicht einmal darüber ist mehr wirklich Einigkeit erzielbar, so scheint es.

Der friktionslose Überlapp diverser Randerscheinungen, von Neonazis über Chemtrails-Jünger bis hin nun zu Corona-Leugnern ist bemerkenswert. In einem Interview mit dem Spiegel wies der Soziologe Matthias Quendt auf zunehmende Unterwanderung der Corona-Proteste durch Rechtsextremisten hin:
SPIEGEL: Auf den Demos selbst findet also keine klare Distanzierung statt – verschwimmt da die Grenze zwischen Rechtsaußen und bürgerlicher Mitte? Quent: Diese Grenze ist längst verschwommen, da sind die Straßenproteste nur die Spitze des Eisbergs. Meine Sorge ist, dass sich die Normalisierung von Antisemitismus, Rechtsradikalen, Irrationalismus und Hass in einer kommenden Wirtschaftskrise in noch größerem Umfang rächen wird.
Warum gerade die Rechtspopulisten so konstant die Pandemie leugnen, ist vor diesem Hintergrund leicht zu verstehen. Für sie ist das öffentliche Leugnen der Pandemie business as usual. Der konkrete Gegenstand spielt gar keine große Rolle. Von dem Niveau dessen, was in den USA passiert, sind wir zwar glücklicherweise noch weit entfernt. Die drei Hauptstrategien, die von rechts zur Erschütterung der Gegenwart eingesetzt werden, die Joel Mathis in The Week nennt, funktionieren allerdings auch hier: Künstliche Kontroversen über Fakten schaffen, wo keine besteht; die Quelle abweichender Nachrichten (wie etwa unabhängige Behörden) abwürgen; einfach die Auswirkungen leugnen. Nur sind bei uns die Nutzer solcher Strategien noch auf Demos beschränkt und sitzen nicht an den Schaltstellen der Macht.

Doch auch bei uns ist die Politik nicht von dieser Polarisierung gefeit. Die oben beschriebene Unsicherheit wird gerade auch von Intellektuellen, teils sicherlich unbewusst, ausgenutzt. Thomas Schmid beschreibt das Problem so:
Im „Spiegel“ schreiben Alexander Kekulé, Julian Nida Rümelin, Juli Zeh und drei weitere Autoren: “Wir müssen aus dem Lockdown so rasch wie möglich in eine Phase übergehen, die unsere Volkswirtschaft aus dem Winterschlaf weckt, Eingriffe in unsere Grundrechte minimiert und uns dennoch hinreichend vor einem Wiederaufflammen der Gesundheitskrise schützt.“ Wer wollte das nicht? Doch mit ihrem Rezept geben sich diese Autoren sicherer als sie sein können. Sie mögen Recht haben, können das aber nicht beweisen. Mit ihrer Regierungskritik spielen sie ein altes Spiel. Sie bringen die Zivilgesellschaft, der unausgesprochen eine apriorische Überlegenheit zugewiesen wird, gegen Politik, Regierung, Staat in Stellung. 
Und kommt zum Schluss:
Ein wenig Vertrauen in die Vernunft der Regierenden täte derzeit not.
Genau an diesem Vertrauen fehlt es aber. Stattdessen werden dumpf brodelnde Zweifel gesät. Die Erklärung, wie sie etwa Wolfgang Kubicki letzthin bei Anne Will abgab, dass die Zahlen wie etwa die Reproduktionsrate nicht für konkrete Handlungsanweisungen zu gebrauchen seien, ist ja durchaus richtig. Nur führt das in die Irre, wenn dadurch die verkürzte Variante wird, dass die Zahlen generell unzuverlässig und nutzlos seien - ein Spiel mit populistischen Ressentiments, das zwar aktuell auf viel Zuspruch stößt, aber gefährlich ist. Denn, wie Markus Feldenkirchen im Spiegel richtig feststellt:
Die Unterstellung, Virologen strebten eine Herrschaft an, wie sie Laschet unternimmt, oder das Beklagen angeblicher Maulkörbe, wie es Christian Lindner bejammert hat, dienen dem Aufbauen eines Strohmanns, der danach unter Getöse attackiert werden kann. Mit der Realität hat das wenig zu tun, es dient vielmehr der identitätspolitischen Selbstvergewisserung. Es ist auch, wie Malte Lehming im Tagesspiegel vermerkt, nicht eben so, als würde eine Debatte fehlen:
Das ist die offensive Variante der Das-muss-mal-gesagt-werden-Pose. Die defensive Variante kommt subtiler daher. Ihre Vertreter eint ein diffuses Unbehagen über die massiven wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Coronapolitik. Aber sie scheuen sich, konkrete Alternativen vorzuschlagen. Stattdessen fordern sei eine breite Debatte über Alternativen, was suggerieren soll, dass es eine solche Debatte nicht gibt. „Das ist keine Debatte. Das ist Manipulation!“, schrieb ein Kommentator in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Doch natürlich gibt es die Debatte. Es kennzeichnet die Coronapolitik, dass über alles diskutiert wird. Über deren Folgen, den Wert des Lebens, die Dauer eines Lockdowns, die Freiheitsrechte, das Modell Schweden, das Modell Südkorea, die drohende Rezession. Nichts wird ausgespart. Auf Talkshow folgt Talkshow. Politiker, Ökonomen, Virologen, Sänger und Schauspielerinnen kommen zu Wort. Und wenn die Bundeskanzlerin vor „Öffnungsdiskussionsorgien“ warnt, dann ist auch das nur eine Meinung unter vielen, die gehört oder ignoriert werden kann. Mehrere Ministerpräsidenten gehen bereits eigene Wege.
Auch das BVerfG beginnt in der Krise, seine jahrzehntelange überparteiliche Reputation zu verlieren. Der scheidende Vorsitzende Voßkuhle sprach von "liberalen Eliten", die sein Urteil kritisierten, und machte einen Gegensatz zu den "Normalen" auf, also der breiten Bevölkerung. Die Polarisierung macht nirgends mehr Halt.

Auffällig ist auch die Rhetorik des Krieges, die von beiden Seiten der Polarisierung der Pandemie-Debatte genutzt wird. Wo Befürworter von Maßnahmen mit dem Verweis auf die Mobilisierung der Gesellschaft argumentieren - von den wirtschaftlichen und finanziellen Folgekosten hin zur Einschränkung von Konsum und Freiheit - wird die Kriegsmetaphorik auf Seiten der Normalitären dazu genutzt, gerade den Verzicht als Opfer für die Gesellschaft hochzustilisieren. So vertreten zahllose rechtsextreme Politiker und Moderatoren in den USA (vom texanischen Gouverneur bis zur Prime-Time-Riege von FOX News, und ja, alles Männer) die Linie, der komplette Verzicht auf Sicherheitsmaßnahmen entspreche der persönlichen Teilnahme am Krieg und sprechen davon, sich "für die jüngere Generation zu opfern". Auch die britische Hetzpresse ist auf diese Linie eingeschwungen; die Daily Mail etwa attackiert die Lehrergewerkschaft mit den Worten "Lasst die LehrerInnen Helden sein!" dafür, die Schulen nicht öffnen zu wollen. Heldenhafte LehrerInnen sind hier dadurch definiert, dass sie sich freiwillig in Gefahr begeben und Infektionsketten unter Kindern herstellen.

Doch nicht nur im politischen Bereich ist die Polarisierung als ein durch Corona beschleunigtes Phänomen wahrzunehmen. Auch im gesellschaftlichen Bereich verschieben sich Wahrnehmungen, wird die Gegenwart erschüttert, verschiebt sich das Verständnis dessen, was "normal" ist und was nicht.

In den USA etwa ist das Maskentragen inzwischen ein parteipolitisches Thema; über 20% mehr Anhänger der Democrats als Republicans empfinden es als sinnvoll. Und das von der niedrigen Baseline von kaum drei Vierteln überzeugten Maskenträgern auf Seiten der Democrats! Wenig überraschend ist das Thema stark mit toxischer Maskulinität verknüpft, denn auch zwischen Männern und Frauen tun sich Gräben auf. Viele Männer betrachten Masken als etwas Verweichlichendes, Feminines, ihrer nicht würdig. Sie versichern sich ihrer Stärke und Überlegenheit durch Ablehnung des Maskentragens oder Einhaltens von Sicherheitsabständen. Erst kürzlich erschien im Federalist, der Hauszeitung der Rechtsradikalen in den USA, ein Artikel, der argumentierte, Trump könne keine Maske tragen, weil das "Schwäche signalisiert".

Auffällig ist auch, unabhängig vom geographischen Standort, dass in der Corona-Krise fast nur Männer zu Wort kommen. Generell sorgt die Corona-Krise für eine scharfe Trendwende im Gleichstellungsbereich. Das DIW hat eine ganze Menge Zahlen darüber gesammelt, wie in der Corona-Krise die Belastung von Haushalt und Kindeserziehung verteilt sind - und die Ergebnisse sind ebenso wenig überraschend wie gleichzeitig erschütternd. Frauen tragen die Hauptlast auf beiden Feldern, auch wenn beide vollerwerbstätig sind, und selbst dann, wenn Frauen (was selten genug vorkommt) die Haupternährerinnen der Familie sind.

Die genauen Auswirkungen der Krise werden uns noch länger beschäftigen und sind sicherlich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht voll ersichtlich. Generell aber gilt, dass ein auseinander fallendes Verhältnis des Gegenwartsverständnisses, ein Begriff von Normalität, der sich in zwei Hälften der Gesellschaft fundamental unterscheidet, für den Zusammenhalt eben dieser Gesellschaft ein ernsthaftes Problem ist.

Corona leuchtet ein Schlaglicht auch diese Polarisierung vor allem deswegen, weil es ein Thema ist, das sich für eine Polarisierung eigentlich nicht eignet. Streits über die Eurorettung, über die Flüchtlingspolitik, über Steuern, sie alle sind als Gegenstände der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung verständlich. Aber eine Krise wie eine Pandemie würde eigentlich einen Effekt des Zusammenstehens erwarten lassen, der überhaupt nicht eintritt. Stattdessen versucht eine Seite, das Problem durch schiere Willenskraft klein zu halten. Und das ist besorgniserregend.

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