Samstag, 9. Mai 2020

Erdbeben aus Karlruhe

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat dieser Tage ein Urteil gefällt, das wie ein Donnerschlag wirkte und dessen Schockwellen gerade durch die EU laufen. Wie immer, wenn es um EU-Recht geht, sind die eigentlichen Hintergründe eher technischer Natur. Konkret ging es um Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) im Rahmen der Corona-Krise. Zum ersten Mal in seiner Geschichte hat das BVerfG dem Europäischen Gerichtshof (EUGH) offen den Fehdehandschuh erklärt und das Grundgesetz der Anwendung europäischen Rechts offen übergeordnet. Dieses Urteil kommt natürlich nicht aus heiterem Himmel. Bevor wir uns damit beschäftigen, warum es wie ein Erdbeben wirkt, müssen wir daher einen kurzen Blick auf die bisherige Rechtssprechungspraxis des BVerfG in Fragen des Europarechts werfen.

Die Vorgeschichte

Grundsätzlich erlaubt das Grundgesetz eine Übergabe von Souveränitätsrechten an supranationale Organisationen wie die EU. Die beschränkte Integration von Montanunion, EWG und EG war daher üblicherweise nicht Gegenstand großer verfassungsrechtlicher Debatten in Deutschland. Dies änderte sich erst mit den Verträgen von Maastricht, die die Umwandlung der Europäischen Gemeinschaft in die Europäische Union regelten und dabei zahlreiche schwerwiegende Eingriffe unternahmen, die Souveränitätsrechte in nie gekanntem Rahmen an eine supranationale Organisation übertrugen. Verbunden sind diese mit dem Schengenabkommen, dass die Grenzsicherung effektiv den Peripheriestaaten der EU und der Organisation FRONTEX übertrug, der Vertrag von Maastricht über die Gründung einer Union mitsamt einer EU-Staatsbürgerschaft und, vor allem, die Einführung einer gemeinsamen Währung, die später den Namen Euro erhielt und 1999 als Buchgeld und 2002 als Bargeld eingeführt wurde. Vor allem die Gemeinschaftswährung hat seit der Euro-Krise ab 2010 immer wieder für Verfassungskonflikte gesorgt. Der Grundkonflikt ist recht einfach nachvollziehbar. Das Parlament ist höchster Ausdruck der Souveränität des Volkes. Dementsprechend kann die Übertragung von Souveränität von dieser Einrichtung über das Mittel internationaler Verträge nur dann erfolgen, wenn die demokratische Legitimation gegeben ist. Dies ist aber für solche Verträge, die ja grundsätzlich im Parlament "nur" ratifiziert werden müssen, nur eingeschränkt gegeben. In einem wegweisenden BVerfG-Urteil zum Vertrag von Maastricht urteilte der damalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof federführend das seither die Leitlinien deutscher Politik bestimmende "Ja, aber"-Urteil. "Ja, aber" heißt in diesem Fall: Ein grundsätzliches "Ja" zur Übertragung von Souveränitätsrechten an die EU, "aber" nur bis zu einem gewissen Punkt. Dieser Punkt wurde nie klar definiert (und kann dies auch gar nicht werden), aber das BVerfG ließ wenig Zweifel daran, dass es eine grundsätzliche Umgestaltung des Grundgesetzes bräuchte. Wie genau ist offen; das Volk als Souverän sollte dabei aber beteiligt sein, was Möglichkeiten wie eine Volksabstimmung oder gar eine neue verfassungsgebende Versammlung ermöglicht. Wenig überraschend, dass die Politik vor diesen Schritten bislang zurückwich. Aber das BVerfG hat die Grenzen nicht derart binär gezogen; grundsätzlich ist auch eine Reihe "normaler" Gesetzes- und Grundgesetzänderungen möglich, die zumindest einen weiteren Rahmen stecken würden, als dies aktuell in der Lesart des BVerfG erlaubt ist. Nur: Diese BVerfG-Urteile hatten für die EU die Folge, ein deutsches Sonderrecht zu etablieren. Das BVerfG nahm für sich in Anspruch, eine ultimative Veto-Position in der EU innezuhaben und als letzter Arbiter eines jeden Verfassungskonflikts aufzutreten - eine Rolle, die eigentlich dem EUGH zusteht, dessen Urteile laut den EU-Verträgen letztliche Gültigkeit haben. Die BVerfG-Rechtsprechung seit Kirchhof birgt daher immer den Keim einer Verfassungskrise in sich, der mit solcher Regelmäßigkeit durch weitere "Ja, aber"-Urteile - wie etwa zum ESM - entgangen wurde, dass es sich als neuer Normalzustand etabliert hatte. Die Praxis der Politik (und wir reden hier effektiv von den Kabinetten Merkel I-IV, weil das Thema zu Schröders Zeiten noch keine große Relevanz besaß) bestand darin, Systemreformen zu vermeiden, indem komplizierte juristische Konstruktionen gefunden wurden, die um die Probleme herumarbeiteten. Genau diese Konstruktionen waren stets das Einfalltor für EU-Gegner, das BVerfG mit Klagen zu überziehen und die "Ja, aber"-Rechtsprechung weiter zu vertiefen. Die saubere Lösung wäre gewesen, die entsprechenden Gesetzesänderungen vorzunehmen oder grundsätzlich festzustellen, dass Deutschland für weitere Integrationsschritte nicht bereit ist, was die Auflösung des Euro bedeutet hätte. Nun ist Merkel für Vieles bekannt, aber sicherlich nicht für eine Vorliebe juristisch sauberer Schritte, die gigantische politische Krisen auslösen. Stattdessen werkelte sie drumherum. Man wirft Merkel gerne Beliebigkeit in ihrer politischen Ausrichtung vor, aber zumindest europapolitisch hat sie sich in all ihren Koalitionen kein Jota bewegt. Stets lehnte sie eine Transferunion ab, lehnte eine gemeinsame Wirtschaftspolitik ab, lehnte einen gemeinsamen Haushalt ab - alles Faktoren, die für das Funktionieren einer gemeinsamen Währung erforderlich ist. Da sie sich aber, anders als die auf ihren Prinzipien beharrenden CDU- und FDP-Hinterbänkler, den politischen Folgen dieser Festsetzungen nicht entziehen konnte, stellte sie sich den immer gewagteren juristischen Konstruktionen der EU-Organe nicht in den Weg. Letztlich konstruierte die deutsche Politik ein Kartenhaus, das nun akut vom Einsturz bedroht ist. Es ist unwahrscheinlich, dass Merkel auf ihre alten Tage noch den großen Wurf wagen wird; dieses Desaster wird sie ihren NachfolgerInnen im Kanzleramt hinterlassen.

Ein zweistufiges Urteil

Kommen wir nun mit diesen Hintergründen bewaffnet zum konkreten Karlsruher Urteil. Dieses besteht, grob vereinfachend, aus zwei Teilen. Der eine Teil befasst sich mit der eigentlichen Substanz der Klage, nämlich dass die Anleihekäufe der EZB eine verdeckte Form der Staatsfinanzierung darstellten und damit dem Mandat der EZB, das einzig auf Preisstabilität ausgerichtet sei, widersprächen. Das BVerfG kommt hier zu einem Schluss, der bei Beobachtern sehr starkes Kopfkratzen verursacht hat. Karlsruhe urteilte, dass die EZB grundsätzlich zu ihrer Währungspolitik berechtigt sei; gleichwohl habe es die Zentralbank versäumt, die Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen mit Hinblick auf die wirtschaftspolitischen Auswirkungen darzustellen. Speziell hervorgehoben wurden hier die Auswirkungen auf die deutschen Sparer. In einfacheren Worten erklärt heißt das Folgendes. Jede geldpolitische Maßnahme einer Zentralbank hat zwangsläufig Auswirkungen auf die Realwirtschaft. Senkt die EZB die Zinsen und erhöht die Geldmenge, so macht dies Kredite billiger und fördert der reinen Lehre nach die Inflation; dieser Zusammenhang ist aber seit der Eurokrise nicht mehr ohne Weiteres nachweisbar. Erhöht die EZB die Zinsen, sinkt die Inflation und werden Kredite teurer; Wirtschaftskrisen sind die unmittelbare Folge. Karlsruhe erklärt nun, dass die EZB zu beiden möglichen Politiken kraft ihres Mandats zwar berufen ist, dass sie aber zu erklären hat, ob und inwiefern ihre geldpolitischen Maßnahmen (die das Ziel der Preisstabilität haben) Auswirkungen auf die Realwirtschaft haben. Das konkrete Beispiel, an dem sich das BVerfG auch aufgehängt hat, sind die deutschen Sparer. Verfolgt die EZB eine Politik der Niedrigzinsen, werden Anleger de facto enteignet. Die EZB habe also, so das BVerfG, nachzuweisen, dass ihre Maßnahmen gegenüber den potenziell entstehenden Auswirkungen verhältnismäßig seien. Der zweite Teil des Urteils bezieht sich auf den EUGH. Diesem wirft Karlsruhe nämlich vor, nicht wie das BVerfG erkannt zu haben, dass es an dieser Verhältnismäßigkeit mangelt, und deswegen ultra vires entschieden zu haben - Juristendeutsch für "außerhalb des eigenen Kompetenzbereichs". Es ist der schlimmste Vorwurf, den man einem Gericht machen kann. Auf gut Deutsch gesagt erklärt das BVerfG, dass der EUGH die Erklärung der EZB nicht hätte akzeptieren dürfen und dass der Rechtsakt des EUGH damit für die Bundesrepublik keinen Bestand hat. Aus "Ja, aber" wurde "Nein, aber". Die Gründe für das "Nein" sollten damit hinreichend erklärt sein, das "aber" kommt in typischer Manier damit einher, dass das BVerfG erklärte, grundsätzlich könne die EZB-Entscheidung so schon erfolgen - man müsse nur eben die Verhältnismäßigkeit deutlich machen.

Die Folgen, Teil 1: Die EZB

Für die EZB hat das Gesetz daher keine sonderlich weitreichenden Folgen. Letztlich ist, pointiert gesagt, die Auflage des BVerfG erfüllt, wenn die EZB ihren entsprechenden bisherigen Unterlagen ein Zettelchen beifügt auf dem steht, dass sie die geldpolitischen Maßnahmen für wirtschaftspolitisch verhältnismäßig hält. Die EZB tat sich damit auch nicht sonderlich schwer; keine drei Tage nach dem BVerfG-Urteil lag eine entsprechende Stellungnahme vor. Dieses Urteil ist aus völlig anderen Gründen eines zum Am-Kopf-kratzen. Zum Einen verlangt das BVerfG einen Nachweis, der praktisch nicht zu erbringen ist. Die EZB kann zwar "belegen", sich über die Verhältnismäßigkeit Gedanken gemacht zu haben, aber darüber hinaus ist nur wenig Substanzielles möglich, aus zweierlei Gründen. Grund Nummer 1 ist, dass Voraussagen immer schwierig sind, vor allem aber, wenn sie die Zukunft betreffen. Der Job der EZB wäre um einiges leichter, könnte sie konkret abschätzen, was die realwirtschaftlichen Folgen ihres Tuns sein werden. Das kann sie aber nicht, wie die Notenbankpolitik der letzten Jahre hinreichend beweisen sollte. Deswegen ist über die Behauptung, sich damit beschäftigt zu haben, hinaus wenig zu erwarten. Grund Nummer 2 ist, dass eine Notenbank nur dann sinnvoll agieren kann, wenn sie die Gründe für ihr Handeln NICHT immer offen legt. Handelt die Notenbank etwa, um eine Panik an den Aktienmärkten zu verhindern, wäre es ziemlich dämlich, das offen auszusprechen. Eine Notenbank funktioniert vor allem deswegen, weil ihre Signale von den Marktteilnehmern in ihrem Sinne aufgenommen werden; unbedingte Ehrlichkeit ist da gegenüber strategischem Schweigen von zweifelhaftem Nutzen. Das Urteil ist aber auch aus anderen Gründen in dieser Beziehung merkwürdig. So fügt es sich gut in eine lange Tradition von Bedenken der orthodoxen deutschen wirtschaftlichen Meinung, dass die EZB nicht für nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik sorgen soll, dass also weder bewusst die Investitionstätigkeit durch niedrige Zinsen angeregt noch eine direkte oder indirekte Staatsfinanzierung betrieben werden solle. Soweit, so gut. Nur schneidet das BVerfG-Urteil in beide Richtungen. Angenommen wir hätten bald eine Inflation im Rahmen von 4-8%, also Raten, wie wir sie zuletzt während der Stagnation in den 1970er Jahren gesehen haben. Damals haben die Notenbanken nach dem Paradigmenwechsel zur angebotsorientierten Politik ("Neoliberalismus", ein Begriff von solcher Nebulösität, dass ich ihn hier nicht weiter verwende) die Zinsen erhöht und die Inflation unter Kontrolle bekommen, um den Preis scharf ansteigender Arbeitslosigkeit und Ungleichheit und einer mittleren Rezession. Laut dem BVerfG-Urteil müsste die EZB nun die wirtschaftspolitischen Folgen mit einbeziehen. Und das hieße dann paradoxerweise, dem eigentlichen Mandat der Preisstabilität nicht mehr nachzukommen. Das BVerfG-Urteil ist in diesem Sinne sehr widersprüchlich, seine konkreten Auswirkungen auf die Notenbankpolitik unklar. An dieser Stelle verlassen wir den Pfad dessen, was quasi objektiv feststellbar ist, und gehen in die Interpretation. Woher kommt dieser Ansatz? Ich habe dafür eine Erklärung. Ob diese zutrifft weiß ich nicht, ich bin gespannt über die Diskussion. Vielleicht hat ja noch jemand Einblicke. Ein erster Grund liegt für mich in der einfachen Tatsache, dass die Verfassungsrichter Juristen sind, sich aber mit genuin wirtschaftlichen Themen beschäftigen müssen - in einem juristischen Rahmen. Das ist eine Quadratur des Kreises, aber die fehlenden Fachkenntnisse sorgen dafür, dass sie auf Expertenrat von außen angewiesen sind. Und hier tat sich das BVerfG keinen Gefallen. Nur zwei Wirtschaftswissenschaftler, beide aus der orthodoxen ordoliberalen Denkrichtung, wurden als Sachverständige geladen, aber nicht weniger als fünf (!) Sachverständige aus Banken- und Versicherungswesen. Dass diese Riege natürlich eine besondere Bedeutung für hohe Zinsen und den deutschen Sparer sieht, dürfte wenig überraschen. Diese Einseitigkeit ist aber nicht alles, denn das Gericht steht eben in der eingangs erwähnten Tradition der Kirchhof'schen "Ja, aber"-Rechtsprechung, die eine Art deutsches Sonderrecht konstruierte. Denn es ist eher zweifelhaft, ob den Bedenken des maltesischen Verfassungsgerichts zur Verhältnismäßigkeit der EZB-Maßnahmen ebenso viel Raum eingeräumt würde wie denen aus Karlsruhe. Letztlich maßt sich das BVerfG an, bedeutender zu sein als die Gerichte aller anderen Mitgliedsstaaten. Und das ist ein ernsthaftes Problem. Aus juristischer Sicht ist das nachvollziehbar. Das BVerfG hat die Aufgabe, Gesetze auf die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu prüfen. Alle anderen Überlegungen soll das BVerfG eigentlich ja überhaupt nicht wahrnehmen, um seiner Rolle als neutrale dritte Gewalt nachkommen zu können. Dazu gehören auch politische oder wirtschaftliche Folgeabwägungen, ein Konflikt, der gerade in der Corona-Krise auch wieder sichtbar wird. Nur hat die Bundesrepublik Deutschland ja mittlerweile so viele Kompetenzen an die EU abgegeben, dass diese eine hybride bundesstaatliche Natur hat. Und in dieser kann das BVerfG nur schlecht so tun, als sei es insular für Deutschland zuständig. Die vollen Folgen dieses Beanspruchens eines deutschen Sonderrechts sehen wir im zweiten Teil des Urteils.

Die Folgen, Teil 2: Der EUGH

Abgesehen von den Effekten auf die EZB und die Geldpolitik erklärte das BVerfG auch offiziell, dass der EUGH sich angemaßt habe, in nationale Rechtsprechung hinein zu urteilen und damit seine Kompetenzen überschritten habe. Dieser Teil des Urteils ist der wesentlich problematischere. Für Deutschland und vor allem die ordoliberalen Kritiker der EZB-Politik ist er verhältnismäßig irrelevant. Aber für das Erdbeben, das das Urteil in der EU ausgelöst hat, ist es entscheidend. Um das zu verstehen, muss man sich die Rolle des EUGH ansehen. Der Gerichtshof mit Sitz in Luxemburg ist das oberste Gericht der Europäischen Union. Seinen Urteilen muss sich die nationale Rechtsprechung beugen. Er ist höchste Appelationsinstanz in allen Fällen. Was das BVerfG mit seinem Urteil getan hat ist nichts weniger als zu erklären, dass es sich als nationales Verfassungsgericht das Recht herausnimmt, Urteile des EUGH für null und nichtig zu erklären. Im Englischen nennt man so etwas eine Nullification Crisis, und die dahinterstehende Rechtsauffassung hat den amerikanischen Bürgerkrieg ausgelöst (dort waren die Südstaaten der Überzeugung, ihnen nicht genehme politische Entscheidungen der Bundesregierung nullifizieren zu können). Ich verwende den Vergleich nicht um Ähnlichkeiten zwischen Andreas Voßkuhle und Jefferson Davies zu konstruieren, sondern um die potenzielle Sprengkraft deutlich zu machen. Nun ist es, erneut, nicht am BVerfG, juristische Urteile von einer politischen Folgenabwägung abhängig zu machen. Nicht ohne Grund trägt Justitia eine Augenbinde. Aber gleichzeitig ist das Aufkündigen eines Rechtsverbunds - in dem sich das BVerfG spätestens seit den Maastricht-Verträgen befindet und was es mit dem Urteil de facto tut - eine Entscheidung, die ihrerseits (welch Ironie!) die Kompetenzen des Verfassungsgerichts deutlich überschreitet. Nicht umsonst war es die polnische Regierung, die binnen Stunden nach der Verkündung des Urteils in einer jubilierenden Pressekonferenz bekanntgab, wie sehr man sich über das Urteil freue und wie sehr man damit übereinstimme. Die Begeisterung in Luxemburg war, gelinde gesagt, etwas verhaltener. Um die polnische Begeisterung zu verstehen, muss man wissen, dass das Land seit fünf Jahren in einer schweren Verfassungskrise steckt. Seit die PiS-Partei die Regierung übernommen hat, wurde die Judikative in Polen entmachtet und das Verfassungsgericht, dem ungarischen Vorbild folgend, praktisch entmachtet. Die PiS-Regierung beseitigte ihr nicht genehme RichterInnen und ersetzte sie durch linientreue AbnickerInnen. RichternInnen ist es verboten, die Regierung zu kritisieren, auch nach dem Ausscheiden in den Ruhestand (in den die Regierung ihr nicht genehme RichterInnen nolens volens versetzt). Die Strafen für Zuwiderhandlung belaufen sich auf permanente Rentenkürzungen, komplettes Entziehen der Pension und zehntausende von Euro in Strafzahlungen - viel effektiver kann ein Maulkorb nur durch die Methoden eines offenen Polizeistaats erreicht werden. Der Bruchpunkt jedoch war mit der Einrichtung der so genannten Disziplinarkammer geschaffen worden, einem Sondergericht voller PiS-Lakaien, das Entscheidungen über diese Strafmaßnahmen treffen sollte. Es war effektiv die Einführung einer parallelen politischen Gerichtsbarkeit und damit die Abschaffung des Rechtsstaats. Dieser offenkundige Verstoß war es auch, der die zögernde EU-Kommission, in der von der Leyen wegen ihrer Abhängigkeit von Stimmen der mit der PiS verbündeten rechtsextremen Fidesz-Partei aus Ungarn bisher von selbst verbalen Verurteilungen absah, dazu veranlasste, ein formelles Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 7 einzuleiten. Nicht, dass dieses angesichts der geeinten Front von ungarischen und polnischen Rechtsextremisten große Aussichten auf Erfolg hätte. Nun stellte sich die polnische Regierung natürlich bisher nicht hin und erklärte, den Rechtsstaat abschaffen zu wollen. Stattdessen zog man sich auf den Punkt zurück, dass die Kritik und das unvermeidliche Vertragsverletzungsverfahren des EUGH unrechtmäßig seien, weil sie einen Eingriff in die polnische Souveränität darstellten. Die PiS-Politiker droschen im Wahlkampf so viel wie möglich mit der "Polen den Polen"-Idee und der Darstellung der PiS-Politik als notwendige Abwehr gegen eine ausländische Invasion ihrer Rechte. Nun ist diese Rhetorik in Deutschland zwar nicht so vulgär wie von der PiS betrieben, aber wenn ein Friedrich Merz polternd verkündet, dass man nicht gedenke, Italiens Staatsschulden mit deutschen Steuergeldern zu bezahlen, bläst er in dasselbe Horn - und die EZB nun auch. Zwar sind die Unterschiede zwischen den Positionen immens. Weder Merz noch das BVerfG versuchen, eine autoritäre Regierung zu etablieren und den Rechtsstaat abzuschaffen. Aber für Menschen ohne juristische Grundlagenkenntnisse, mithin also eine überdeutliche Mehrheit in jedem Land, hört sich beides de facto gleich an. Demzufolge kann sich die PiS nun auf den Standpunkt zurückziehen, vom hoch angesehenen deutschen Bundesverfassungsgericht die Bestätigung ihrer eigenen Position erhalten zu kommen. Die Abschaffung des polnischen Rechtsstaats, präsentiert vom BVerfG, gewissermaßen. Das liegt den Karlsruher Richtern natürlich fern. Aber mit ihrem Beharren auf einem deutschen Sonderrecht, das europäische Recht jederzeit nullifizieren zu dürfen, haben sie einen Präzedenzfall geschaffen, der den Rechtsextremisten einen perfekten Propaganda-Coup verschafft.

Und nun?

Es ist nicht gesagt, dass die Rechtsordnung der EU durch das Urteil gefährdet ist. Die Verfassungsrichter sind gegenüber den Auswirkungen ihrer Taten ja nicht blind; sie formulierten das Urteil deswegen wohlüberlegt als ein "Nein, aber" anstatt sich auf ein unnachgiebiges teutonisches "Nein" zu versteifen. Gleichwohl ist der Fehdehandschuh, den Karlsruhe nach Luxemburg warf, nicht zu übersehen. Es dürfte für die deutsche Politik, gleich unter welcher/welchem KanzlerIn, schwer sein, die bisherige ambivalente Politik Merkels aufrechtzuerhalten und zwar rhetorisch und politisch alles abzulehnen, es dann aber durch die Hintertür stillschweigend hinzunehmen. Diese Politik hat in der letzten Dekade die Legitimität der EU stark untergraben. Ein Ausweg aus dem Dilemma ist nicht leicht ersichtlich. Über den Ausgang eines Referendums zu mehr europäischer Integration, noch dazu in allen 27 Mitgliedsstaaten, muss sich glaube ich niemand Illusionen machen. Ein Zurückdrehen der Integration ist schlechterdings als bewusster Akt nicht vorstellbar. Bleiben nur die Optionen eines langsamen institutionellen Verfalls, an dessen Ende die europäische Rechtsordnung zwar nicht de iure, aber de facto abgeschafft ist, oder das Finden einer neuen juristischen Basis, die den Vorbehalten des BVerfG genüge tut und gleichzeitig die europäische Integration nicht gefährdet. Die Hürden hängen wahrlich hoch.

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