Dienstag, 28. Januar 2025

Die Mafia verlernt die Demokratie beim Spielen von Kingdom Come: Deliverance 2, baut aber global Bürokratie ab - Vermischtes 28.01.2025

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Verlernen wir die Demokratie?

Der Artikel beleuchtet die Herausforderungen der liberalen Demokratie angesichts des Aufstiegs populistischer Bewegungen und die Bedeutung der Einhegung des Volkswillens durch Gesetze und Werte. Während demokratische Entscheidungen grundsätzlich die Macht des Volkes widerspiegeln, wird hervorgehoben, dass eine liberale Demokratie mehr erfordert als nur Mehrheitsentscheidungen: Sie ist an universelle Werte wie die Menschenwürde und den Rechtsstaat gebunden, die nicht zur Disposition stehen. Die Krise der liberalen Demokratie wird weniger durch ungelöste Probleme wie Ungleichheit, Klimawandel oder Migration ausgelöst, sondern durch das Erodieren des Nachkriegskonsenses, der einst die Grundordnung trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten schützte. Populisten bieten scheinbare Lösungen, doch ihre Regierungsbilanzen – etwa bei Berlusconi, Johnson oder Trump – entlarven oft Gestaltungsillusionen. Der Artikel mahnt, dass die Demokratie nicht nur Probleme lösen, sondern auch als System legitim bleiben muss. Ernst-Wolfgang Böckenfördes Überlegung, dass der freiheitliche Staat von Voraussetzungen lebt, die er nicht garantieren kann, wird als zentral angesehen. Die liberale Demokratie benötigt eine innere Haltung und den Willen der Bürger, sie um ihrer selbst willen zu bewahren. (Mark Schieritz, ZEIT)

Wieder ein Artikel, der mich etwas ratlos zurücklässt. Ich teile die Analyse vollkommen. Ja, die Wählenden haben Verantwortung, ja, offensichtlich ist die Notwendigkeit von Kompromiss und Interessenausgleich vielen nicht einsichtig und so weiter. Nur, was folgt daraus? Diese Art von Analysen sieht immer ziemlich ähnlich aus: Problem mit der Mentalität der Leute --> * ---> weniger Rechts Wählende. Wie das Sternchen gefüllt werden soll, bleibt immer etwas unklar. Vor allem im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten (Abschalten des Internets gehört da sicher nicht dazu, um nur ein Beispiel zu nennen). Wir sehen dasselbe Thema im Fundstück 5 wieder auftauchen.

2) Bürokratieabbau? Dann so!

Der Artikel beleuchtet die Debatte um Bürokratieabbau in Deutschland, betont jedoch, dass Bürokratie oft zu Unrecht als Hauptschuldige für die kriselnde Konjunktur herangezogen wird. Statistiken zeigen, dass Bürokratiekosten in den letzten Jahren sogar gesunken sind, teils durch Digitalisierung und effizientere Verfahren. Dennoch wird Bürokratieabbau häufig von Politikern wie Christian Lindner als Synonym für Deregulierung verwendet, was oft zugunsten von Arbeitgebern und zulasten von Arbeitnehmern oder der Umwelt erfolgt. Der Text schlägt eine gezielte Reduzierung unnötiger Bürokratie und die Priorisierung wichtiger gesellschaftlicher Aufgaben wie Klimaschutz und Bildung vor. Dazu gehört ein umfassender 10-Punkte-Plan, der unter anderem Bagatellsteuern abschaffen, Steuerfreibeträge erhöhen und Fachkräfte effizient einsetzen will. Beispiele sind die Abschaffung von Kleinsteinnahmen wie der Kaffeesteuer oder eine Vereinfachung der Steuererklärung durch höhere Freibeträge. Zudem werden strukturelle Reformen vorgeschlagen, etwa die Vereinheitlichung der Krankenkassen, ein kostenloser öffentlicher Nahverkehr und Investitionen in das Handwerk und den öffentlichen Dienst. Der Plan zielt darauf ab, Ressourcen besser zu nutzen, den Fachkräftemangel zu bekämpfen und die Bürokratie gezielt zu entlasten, um wichtige gesellschaftliche Ziele effektiver zu erreichen. (Maurice Höfgen, Geld für die Welt)

Das ist ein verdammt merkwürdiger Artikel. Angeblich stellt Höfgen hier Möglichkeiten des Bürokratieabbaus vor, aber von seiner 10-Punkte-Liste ist der Großteil eigentlich nur eine Neuverpackung von linken Positionen. Vielleicht etwas unorthodox, aber das meiste davon hat mit Bürokratieabbau relativ wenig zu tun. Das unterscheidet ihn natürlich nicht von seinen Gegnern im bürgerlichen Lager, aber wenn man in seiner Bürokratieabbau-Liste die Einführung der Bürgerversicherung und das Anheben der Löhne im öffentlichen Dienst hat, hebe ich die Augenbraue, egal, wie sehr ich diese Policies vielleicht befürworte. Das ist eigentlich schade, weil einige von Höfgens Vorschlägen durchaus Sinn machen und auch massive Steuersenkungen mit sich bringen, die selbst die FDP toll finden sollte. Natürlich hört die Gemeinsamkeit spätestens beim MMT-inspirierten "fuck die Gegenfinanzierung" auf, aber das liegt in der Natur der Sache.

3) The Gamergator rhetoric of historical accuracy has come back to bite Kingdom Come on the arse

Der Artikel setzt sich kritisch mit dem historischen Anspruch und den sozialen Kontroversen rund um das Spiel Kingdom Come: Deliverance 2 auseinander. Das Spiel wird als sorgfältige Rekonstruktion des mittelalterlichen Böhmens beworben, enthält jedoch viele genretypische, "spielmechanische" Elemente, die den historischen Anspruch konterkarieren. Gleichzeitig wurden Darstellungen von Geschlecht und Ethnizität in der Vergangenheit kritisiert, insbesondere die Abwesenheit von nicht-weißen Personen und die stereotypisierte Darstellung von Frauen. Der Entwickler Daniel Vávra hat in der Vergangenheit vehement auf diese Kritiken reagiert, sich gegen progressive Ansätze gestellt und sich mit kontroversen Gruppen wie Gamergate solidarisiert. Diese Haltung hat Teile der Spielerschaft angezogen, die eine "authentische" mittelalterliche Welt als Vorwand für kulturelle Reinheit sehen. Doch der zweite Teil führt Elemente ein, wie eine gleichgeschlechtliche Romanze und einen schwarzen Charakter, was bei einigen Fans empörte Reaktionen hervorruft. Der Artikel argumentiert, dass der Fokus auf "historische Authentizität" oft reaktionär sei, da er eine einseitige, statische Sicht auf die Vergangenheit fördere. Stattdessen sollte Geschichte als interpretatives, dialogisches Projekt begriffen werden. Ironischerweise scheinen diese nuancierten Ansätze im Spiel selbst vorhanden zu sein, könnten jedoch durch den Streit um Authentizität und den Einfluss problematischer Fankreise unterdrückt werden. (Edwin Evans-Thirlwell, Rock, Paper, Shotgun)

Ich muss sagen, ich kann mir die Schadenfreude auch nicht verkneifen. Vávras Argument, dass "Kingdome Come: Deliverance" (was für ein sperriger Titel, by the way) einfach nur historisch so korrekt wie möglich sein wolle und deswegen dieses oder jenes nicht drin habe, war noch nie sonderlich glaubhaft. Es war schon damals eine dünne Schicht über seinem Weltbild, das er eben auf das Spiel packen wollte. Und das kann er ja machen. Aber dann doch bitte ehrlich. Das Team von Assassin's Creed packt ja auch immer einen Disclaimer vor das Spiel. Vávras Mission ist auch, selbst wenn sie ehrlich gemeint wäre, einfach unmöglich. Einerseits können wir nicht wissen, wie die Geschichte "wirklich" war, wir interpretieren sie immer. Andererseits könnten wir selbst dann kein objektives Bild wiedergeben, weil wir stets auswählen müssen, was wir darstellen und womit man wie interagieren kann. Jede dieser Festlegungen ist eine Entscheidung. Und jede dieser Entscheidungen, ob bewusst oder unterbewusst, hat Folgen.

4) Deutsches Mafia-Brettspiel sorgt in Italien für Kritik

Das Brettspiel La Famiglia – The Great Mafia War sorgt in Italien für heftige Kritik, da es die Mafia als zentrales Thema behandelt. Spieler übernehmen die Kontrolle über rivalisierende Mafiafamilien, errichten Drogenlabore und setzen Kämpfer sowie Bomben ein, um Regionen zu dominieren. Das Spiel basiert auf den Mafiakriegen der 1980er-Jahre und wurde 2024 veröffentlicht. Trotz seines Erfolgs – es gewann den Kritikerpreis Goldenes Ass – wird ihm vorgeworfen, das Leid und die Opfer der Mafia zu verharmlosen. Maria Falcone, Schwester des ermordeten Richters Giovanni Falcone, kritisierte das Spiel scharf. Sie betonte, dass die Mafia Sizilien Tod und Zerstörung gebracht habe, und nannte das Spiel eine Beleidigung des Andenkens an jene, die gegen die Mafia kämpften. Auch der Regionalpolitiker Alessandro Di Leo forderte ein Verkaufsverbot, da das Spiel Werkzeuge wie Autobomben trivialisieren würde. Der Autor Maximilian Maria Thiel verteidigt das Spiel als abstrakt und distanziert vom realen Leid. Dennoch löst die Thematik kontroverse Diskussionen über moralische Grenzen in der Darstellung von organisiertem Verbrechen aus. (Spiegel)

Es ist immer wieder faszinierend, wie solche Stürme im Wasserglas entstehen. Irgendwie hat eine 88jährige Rentnerin in Sizilien von einem nischigen Eurogame gehört und einen Rappel bekommen, und in der globalisierten Nachrichtenwelt schafft es das bis in den Spiegel. Abgesehen von diesem Kuriosum ist auch der Stein des Anstoßes irgendwie merkwürdig: es gibt eine ganze Tonne von Mafiaspielen, die üblicherweise noch viel expliziter die Gewalt in den Vordergrund stellen. Aber dann spielen die natürlich üblicherweise in New York und nicht in Sizilien. Und wen interessiert Gewalt in New York?

Das Thema selbst ist in der Brettspielszene nicht neu und trifft gerade die deutschen Eurogames immer wieder. Das verwundert nicht, die sind da auch völlig unsensibel und der Überzeugung, dass sie komplett unpolitisch sind. Das war schon so, als Puerto Rico in der Post-Kolonialismus-Debatte gelandet ist (zusammen mit, am Rande, Siedler von Catan). There is no such thing as a unpolitisches Spiel. Das hatten wir ja gerade in Fundstück 3 auch. Im Übrigen ist die Argumentation des Designers, dass man ja extra Holzklötze nutze, um die Gewalt zu verstecken, ein Fall von "wenn du im Loch sitzt, hör auf zu graben": mit dem Argument könnte ich ein Brettspiel machen, bei dem man möglichst effizient Züge nach Auschwitz schicken muss, solange wir eben gelbe Klötzchen auf die Reise schicken. Aber auch die Diskussion ist nicht neu: das wesentlich sensiblere "The Underground Railroad" musste sich angesichts seiner Klötzchenfizierung der Sklaven Kritik gefallen lassen. Manchmal ist die valide, manchmal nicht, aber deswegen führen wie solche Diskussionen ja.

5) Aufstieg der Rechten: Fragmentierung statt Globalisierung

Der globale Rechtstrend zeigt sich nicht nur in Wahlerfolgen rechter Parteien, sondern auch in der Radikalisierung wirtschaftlicher und politischer Strategien. Sebastian Friedrich betont, dass diese Entwicklung weniger auf Armut oder ökonomische Notlagen zurückzuführen sei, sondern auf die verschärfte Konkurrenz um globale Macht und Ressourcen. Regierungen in reichen Nationen deuten die Bedrohung ihrer Wettbewerbsfähigkeit als existenziell und reagieren mit nationalistischen Maßnahmen wie Zöllen, Sanktionen und Leistungsdruck nach innen. Im Zentrum steht ein ökonomisches Gemeinschaftsbild, das Klassengegensätze ignoriert und die Bevölkerung zu einem "Dienst am Standort" verpflichtet. Sowohl Rechte als auch die politische Mitte propagieren Arbeit und Verzicht als Lösung. Gleichzeitig werden Migrantinnen und Sozialleistungsempfängerinnen strenger nach ihrer Nützlichkeit beurteilt. Die gesellschaftliche Linke plädiert für eine antifaschistische Wirtschaftspolitik, die soziale Absicherung und öffentliche Daseinsvorsorge priorisiert. Doch diese Ansätze stehen im Widerspruch zu den nationalistischen und marktradikalen Programmen der Mitte und Rechten. Der Rechtstrend, so Friedrich, basiert auf der Akzeptanz dieses Wirtschaftsbildes durch die Bevölkerung, die ihre persönlichen Nöte mit den Standortproblemen ihrer Nation identifiziert. (Stephan Kaufmann, Neues Deutschland)

Ich halte es für absolut zutreffend, dass die meisten Analysen des Aufstiegs der Rechten die ökonomische Dimension sträflich vernachlässigen,  vor allem die Frage weltweiter Konkurrenz und den wahrgenommenen relativen Statusverlust der eigenen Nation. Auch in der Erkenntnis, dass die Rechtsverschiebung kein exogener, sondern ein endogener Faktor der bürgerlichen Mitte ist, trifft den Nagel auf den Kopf. Wo mich Kaufmann aber verliert ist der Abschwung in die marxistische Theorie, wo Klassenkämpfe und das andere klassisch linke Vokabular um die Ecke kommen. Ich kann damit nicht viel anfangen und halte es für nicht sonderlich erklärungsstark. Aber jeder Versuch einer Begründung des Rechtstrends, der ohne die ökonomische Lage (steigende Ungleichheit, Statusverlust, Zukunftsangst, Inflation) auskommt ist genauso wenig tragfähig wie jeder, der die Migrationsfrage wegzudiskutieren versucht. Mir fehlt weiterhin eine Synthese zwischen den verschiedenen Ansätzen; jeder scheint auf seinem eigenen Auge blind zu sein.

Resterampe

a) You’re Being Alienated From Your Own Attention (The Atlantic). Weiß noch nicht ob ich das Buch lesen will, aber Chris Hayes ist eigentlich immer die Lektüre wert...

b) Gute Nachrichten aus Tübingen. (Spiegel)

c) Migration: Gewerkschaft der Polizei hält Merz-Pläne für neue Grenzkontollen nicht umsetzbar (Spiegel). Natürlich nicht, aber das weiß Merz auch. Rechtlich wahrscheinlich nicht möglich, teilweise verfassungswidrig, umsetzbar auch nicht. Aber Hauptsache Krach gemacht.

d) The Oscars Have Left the Mainstream Moviegoer Behind (The Atlantic). Sorry, aber die Oscars und die average moviegoer experience haben nur wenig mehr miteinander zu tun als die Spiegel Bestsellerliste und der Literaturnobelpreis.

e) Was mich an dieser Recherche verwundert ist, dass die Frage gar nicht beantwortet wird: warum wurden nur so wenige der gemeldeten Straftäter abgeschoben? (Welt)


Fertiggestellt am 26.01.2025

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