Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Sehnsucht nach dem großen Knall
Der Text reflektiert gesellschaftliche und politische Dynamiken im Kontext des Anschlags in Magdeburg und globaler Entwicklungen. Der Autor stellt fest, dass das Vertrauen in die Fähigkeit der Gesellschaft, Schocks zu bewältigen, schwinde. Terroranschläge riefen früher Routinen der Beruhigung hervor, heute scheine Ohnmacht die Regel zu werden. Die Politik werde von Unsicherheit geprägt, die aktuelle Unzufriedenheit mit Spitzenpolitikern spiegele dies wider. Zudem wachse die Bereitschaft, etablierte Systeme und Normen zu durchbrechen, sichtbar in Migrations- und Klimapolitik. Der Wunsch nach radikaler Veränderung werde durch Gefühle von Kontrollverlust und Instabilität genährt. Parteien wie CDU und FDP versuchten, diesen Sehnsüchten gerecht zu werden, indem sie disruptive Programme ankündigten. Doch diese seien oft unrealistisch und riskant. Der Text warnt, dass echte Veränderung Zeit und Präzision erfordere, während destruktive Maßnahmen oft langfristige Schäden anrichteten. Abschließend wird betont, dass die Sehnsucht nach dem "großen Knall" gefährlich sei und populistische Bewegungen diese Emotionen geschickt ausnutzen. (Jonas Schaible, beimwort)
Jonas Schaible hat hier wie so häufig sehr profunde Überlegungen angestellt. Die Sehnsucht nach dem "großen Knall" gehört definitiv in diese Kreise; es gab sie ja auch immer wieder. Die Extremisten beider Seiten in Weimar hofften ja auch, aus der Asche des Vergangenen etwas Neues zu bekommen. In der radikalen Linken ist die Idee des "Schärfens der Widersprüche" nicht totzukriegen, nachdem wenn die Lage nur schlimm genug wird die Leute nur noch den Ausweg der sozialistischen Revolution sehen würden. Und auch die radikale Rechte liebt das Spiel mit dem Untergang. Es ist an der demokratischen Mitte, dagegen einen Punkt zu setzen, weswegen das Untergangsgejammer nach allen Richtungen auch ein solches Problem ist, ob man nun die Klima-Apokalypse befürchtet, den Niedergang Deutschlands in kultureller und wirtschaftlicher Dekadenz oder die Neofeudal-Neoliberale Wirtschaftsordnung.
Es gibt auch nur wenige Beispiele, in denen der "große Knall" zu einer direkten Verbesserung geführt hätte. Manchmal mag es sein, dass aus der Asche langfristig etwas Besseres kommt (etwa Deutschlands Niederlage im Zweiten Weltkrieg), aber sowohl der Knall als auch die Zeit danach sind nicht eben gute Zeiten. Ich denke, Jonas hat auch einen Punkt mit der Betonung, dass es vor allem um gefühltes Vertrauen gehe. Da gehört das Messaging der demokratischen Mitte, die weder Alternativen noch Hoffnungen anzubieten bereit scheint, direkt mit hinein.
Der Artikel thematisiert die zunehmende Unsicherheit und den Pessimismus in Deutschland, die mittlerweile eine Mehrheit der Bevölkerung prägen. Eine Verschiebung von Optimismus zu Pessimismus wurde seit 2022 deutlich, beeinflusst durch ständige schlechte Nachrichten, politische Extreme und eine multipolare Weltordnung. Dies verstärkt Ängste und führt zu einer "Gesellschaft der Angst", wie Heinz Bude es beschreibt, in der kollektive Negativität das Handeln und Denken dominiert. Besonders rechtspopulistische Parteien profitieren von dieser Dynamik, ihre Anhänger jedoch bleiben unzufrieden und unglücklich. Der Artikel beleuchtet auch die wirtschaftlichen Folgen, wie das "Angstsparen", das die Konjunktur hemmt. Alternde Gesellschaften tragen ebenfalls zu diesem Pessimismus bei. Trotz der düsteren Lage gibt es eine Sehnsucht nach Hoffnung und positiven Nachrichten. Der Text schlägt vor, sich auf Fortschritte und gute Entwicklungen zu konzentrieren, um dem Negativtrend entgegenzuwirken. (Robert Misik, taz)
Ich halte diesen Mangel an Optimismus und Vertrauen sowie die Beliebtheit für apokalyptische Szenarien für zentrale Probleme unserer Zeit. Das wirkt wie ein zersetzendes Gift, das überall hineinfließt und alle Lebensbereiche betrifft. Ich möchte die Betonung vor allem auf das Vertrauen legen, denn das scheint mir im Vergleich zu früher der größte Unterschied zu sein. Es fehlt das Vertrauen in die Institutionen, aber auch in unsere Mitmenschen. Ich fand das besonders während der Corona-Pandemie für sehr auffällig, und meine Arbeitshypothese bleibt, dass dies eine unvermeidliche Begleiterscheinung, quasi die Kehrseite, unseres allgemeinen Trends zur Individualisierung und Liberalisierung ist. Mehr Freiheit als je zuvor sorgt eben auch dafür.
Ich bin nicht sonderlich optimistisch, was Misiks Vorschlag angeht, sich auf positive Entwicklungen zu konzentrieren. Diese Idee geistert ja schon seit Langem herum, aber ich habe noch nie jemanden gesehen, der sie erfolgreich umsetzt, auch von Menschen wie Misik, die ja sie ja eigentlich propagieren. Ich sammle hier im Vermischten ja auch weniger positive Nachrichten, auch wenn sich mal gelegentlich was findet. Und ich bin auch unsicher, ob das psychologisch überhaupt machbar ist.
Der Artikel der "Neuen Zürcher Zeitung" thematisiert die zunehmende Konsumhaltung der Schweizer Bevölkerung gegenüber dem Staat. Es wird kritisiert, dass viele Bürger weniger arbeiten, früher in Rente gehen und Studienfächer wie Kunstgeschichte wählen, die als weniger arbeitsmarktrelevant gelten. Diese Entwicklungen könnten langfristig die wirtschaftliche Stabilität und den Wohlstand der Schweiz gefährden. Die Autorin plädiert für ein Umdenken hin zu mehr Eigenverantwortung und einem stärkeren Beitrag des Einzelnen zur Gesellschaft, um die Nachhaltigkeit des Schweizer Wohlstands zu sichern. (Christina Neuhaus, NZZ)
Passend zu Fundstück 2) fand ich diesen Artikel der NZZ, weil hier in Deutschland die Schweiz im Allgemeinen und ihr Rentensystem im Besonderen ja gerne als Positivbeispiel herangezogen werden: die Schweizer haben, so das oft wiederholte Narrativ, niedrigere Sozialquoten, weniger Sozialleistungen, sind weniger abhängig vom Staat und haben vor allem ein stärker die Eigenverantwortung betonendes Rentensystem. Die harsche Kritik, die die NZZ hier am eigenen Land übt, scheint mir zum einen die generelle Lust an negativen Nachrichten zu betonen, andererseits aber auch ein gutes Beispiel für den Effekt zu sein, dass das Gras auf der anderen Seite immer grüner ist. Man schaut gerne auf andere Länder und stellt fest, wie viel besser es dort ist - bis man dort ist und dann doch wieder die Heimat zu schätzen lernt. Es ist eine Brille. Das war schon bei Tacitus so, als er seinen Zeitgenossen eine Fantasieversion der Germanen als moralische Folie präsentierte und hat sich fundamental nie geändert. - Marko Kovic hat einen wunderbaren Thread und Substack dazu.
4) How the Democrats Lost the Working Class
Der Artikel analysiert die langfristige Entfremdung der Demokratischen Partei von der amerikanischen Arbeiterklasse, die in den 1990er Jahren unter Präsident Bill Clinton begann. Arbeitsminister Robert Reich warnte damals vor einer "ängstlichen Klasse", die sich abgehängt fühlte. Doch diese Warnung blieb weitgehend unbeachtet. Nachfolgende Regierungen, sowohl demokratische als auch republikanische, setzten auf Globalisierung und Deregulierung der Märkte, was häufig zulasten von Industriearbeitsplätzen ging. Handelsabkommen wie NAFTA und die Öffnung Chinas für den Weltmarkt trugen dazu bei, die wirtschaftliche Unsicherheit vieler Arbeiter zu verstärken. Diese Entwicklungen ebneten den Weg für Politiker wie Donald Trump, der die wirtschaftlichen Ängste der Arbeiterklasse geschickt für sich nutzte – auch unter Minderheiten. Bemühungen von Demokraten wie Barack Obama, wirtschaftliche Erholung und globale Ziele in Einklang zu bringen, und Joe Bidens stärker auf Arbeiter fokussierte Politik konnten das Vertrauen dieser Wähler bisher nicht zurückgewinnen. Bidens Industriepolitik und die Unterstützung von Gewerkschaften markieren zwar eine Kehrtwende, doch Inflation und wirtschaftliche Unsicherheit überlagern diese Fortschritte und verstärken die Abwanderung von Arbeitern ohne College-Abschluss zu den Republikanern. (Jonathan Weisman, New York Times)
Ich bin skeptisch gegenüber jeder Theorie, die die Langfristigkeit dieser Entwicklung nicht in den Blick nimmt. Zu sehen, warum "die Arbeiterklasse" (ohnehin eine unglaublich aufgeladene Kategorie voller unausgesprochener Prämissen) zu Trump und den Republicans übergelaufen ist, macht nur wenig Sinn, wenn man nicht in Betracht zieht, dass diese Schicht seit den 1960er Jahren langsam, aber stetig von den Democrats zur GOP wandert. Dasselbe gilt übrigens auch für Deutschland; dass die SPD die Unterstützung der "Arbeiterklasse" verliert, muss ebenfalls als langfristiger Trend gesehen werden (siehe Resterampe x)).
Das hat auf der einen Seite identitäre Ursachen. In dem Maß, in dem sich die Linke liberalen und emanzipatorischen Themen öffnete, verlor sie Zustimmung in diesen Gruppen. So ist die Wanderung zu Nixon in den 1960er Jahren direkt mit den Bürgerrechten im Zusammenhang, oder die in den 2010er Jahren mit #BlackLivesMatter. (Siehe dazu auch Kevin Drum: The working class story is about culture, not economic anxiety.) Auch in Deutschland lässt sich das, abgeschwächter, beobachten. Auf der anderen Seite hat es Ursachen in der Hinwendung der Sozialdemokratie zum "neoliberalen Konsens", was im Artikel Weismans ja auch angerissen wird.
Dieser Aspekt wird in den Analysen in meinen Augen völlig unterschätzt; die "Arbeiterklasse" wurde durch diesen Konsens politisch heimatlos, und das aktuelle Realignment, bei dem die Rechten für geschlossene Märkte und Abschottung eintreten, was ehedem eine klassisch linke Position war, ist deutlich unterschätzt. Zuletzt ist die "Arbeiterschicht" eben auch untrennbar mit Industriearbeit verknüpft, und der Strukturwandel hat diese Basis deutlich verringert - und die Dienstleister sind eben keine klassische "Arbeiterklasse" in dem Sinne, in dem das Wort ständig verwendet wird. Die historische Forschung nimmt, wie etwa Lutz Raphael, diesen Strukturwandel ja gerade aus gutem Grund vermehrt in den Blick.
Der Artikel zieht Parallelen zwischen der historischen Weißen Terrorphase nach der Französischen Revolution und den aktuellen Entwicklungen in sozialen Medien, insbesondere auf Twitter (jetzt X). Es wird argumentiert, dass die „progressive Herrschaft“ der letzten Jahre, vergleichbar mit einer Reign of Terror, von einer rechten Gegenbewegung abgelöst werde, die zunehmend wütende und polemische Züge annehme. Ein zentrales Thema ist die jüngst in den USA entdeckte Problematik britischer Grooming-Gangs, die für Entrüstung und politische Spannungen sorgt. Der Autor reflektiert kritisch über die Rolle der Mittelschicht und deren moralische Selbstzufriedenheit, die es jahrelang versäumte, auf die Missstände aufmerksam zu machen. Klassen- und Bildungsunterschiede werden als zentrale Hindernisse für eine offene Debatte identifiziert. Die gesellschaftlichen Spannungen werden mit historischen Beispielen von Populismus und Revolten verglichen. Abschließend wird die moralische Ambivalenz hervorgehoben: Während Antirassismus als nobel dargestellt wird, habe er in der Praxis oft die Schwächsten im Stich gelassen, was nun zu einem wütenden Gegenschlag führe. (Ed West, Wrong Side of History)
Ich finde Wests Perspektive an der Stelle wahnsinnig spannend, weil er beide Seiten sieht: einmal die Normveränderungen und einmal die Reaktionen darauf - und beide haben ihre Berechtigung. Denn die Perspektive der tatsächlich am unteren Ende der Skala Stehenden anstatt immer das rechtsbürgerliche Empörungskarussell ist wesentlich spannender. Damit entzieht sich West auch den üblichen moralisierenden Zuschreibungen, wie sie etwa die Welt aufstellt (Die wehrlosen Opfer der politischen Korrektheit).
Etwas merkwürdig ist allerdings, wie Kevin Drum das beschreibt (Elon’s puppets are at it again), der Zeitpunkt der Debatte. Denn der Skandal wurde weder verheimlicht noch ist er sonderlich neu. Die Geschichte eignet sich daher nicht nur für die beschriebenen Dynamiken zwischen den verschiedenen Moralismen und Empörungen, sondern auch dafür, wie Milliardäre mit riesigem Einfluss die Agenda setzen können - und wie alle traditionellen Medien darauf anspringen. Die Reflexe funktionieren.
Resterampe
a) Ziemlich relevanter Punkt zur Klimakrise in Deutschland (Twitter).
c) Ich forderte das schon im April 2020! (Twitter)
d) Backlash durch falsche Narrative (Twitter).
e) Zum Dauerthema Böllerverbot (Spiegel). Und das hier kommentarlos. Und dieser Erklärartikel.
f) Die Atomdiskussion bleibt eine Phantomdiskussion (Spiegel).
g) Schulamt verweigert Lehrerin Verbeamtung – wegen leicht erhöhtem BMI: Verwaltungsgericht gibt ihr Recht (News4Teachers). Ist auch eine völlig bekloppte Regelung. Genauso dass die niemand verbeamten, der je psychologische Hilfe hatte. Weil das wollen wir, dass die Leute vermeiden, zum Arzt zu gehen...Mann Mann Mann.
h) Auch Milliardäre dürfen eine Meinung haben (Welt). Gott ist das bekloppt. Ist meine Meinungsfreiheit gefährdet? Nein. Und trotzdem krieg ich keinen Leitartikel in der Welt. Go figure.
i) Dieses Interview mit Hans-Werner Sinn ist vor allem sprachlich interessant (Welt). Der Mann mag mal Wissenschaftler gewesen sein, aber hier spricht er einfach nur als Aktivist, unglaublich moralisierend und zuspitzend.
j) CDU wirkt. (RBB24)
k) Wen die Hintergründe des Elon-Musk-Artikels interessieren (Spiegel).
l) Warum es wenig bringen wird, Kindern soziale Medien zu verbieten (News4Teachers). Generell hab ich mal gehört, dass reflexhafte Rufe nach Verboten nicht so gut sind. Aber das gilt eben immer nur, solange es Sachen betrifft, die man gut findet. Und umgekehrt. Wie ich freimütig bekenne.
m) Offener Brief an den "Guller" - Meinungsbeitrag im Stile des "Stürmers" (Bob Blume). Diese Verrohung von Teilen des Bürgertums, die Selbstradikalisierung, ist ein gewaltiges Problem.
n) Was darf Satire? (Welt)
o) Guter Punkt zu Debatten über Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (Bluesky).
p) Auch ein richtiger Punkt (Twitter).
q) Super spannender Artikel zur Industriellen Revolution mit großartigem Schlusssatz (Global Developments).
r) How Hitler Dismantled a Democracy in 53 Days (The Atlantic). Häufiger Fehler. Die Demokratie wurde in drei Jahren zerstört. Das begann 1930 mit Brünings Regierungsantritt. Hitler zerstörte Rechtsstaat und formale Strukturen in 53 Tagen, aber das gelang, weil die Substanz bereits vorher zerstört worden war.
s) Correctiv hat sich ziemlich ins Abseits geschossen, wie es aussieht (Twitter).
t) Ganz guter Übersichtsartikel über Musk (Spiegel).
u) Christian Lindner: Linksjugend versucht, Schaumtorten-Angriff zu rechtfertigen (Spiegel). Vollidioten.
v) Just give it up. There’s no one to blame for the LA fires. (Kevin Drum)
w) Elon Musk is the new emperor of misinformation (Kevin Drum).
x) SPD – eine Partei macht sich überflüssig, weil sie die Arbeiter vergisst (Welt). Mein Lieblingsgrenre: die SPD muss machen, was ich für richtig halte, damit sie "die Arbeiter" zurückgewinnt.
y) Die Empörung über Trumps Grönland-Strategie ist verlogen (Welt). Ich halte "verlogen" für die falsche Kategorie, aber die Argumentation macht halbwegs Sinn.
Fertiggestellt am 13.01.2025
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