Mittwoch, 8. Januar 2025

Rezension: Ulrich Herbert - Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert

 

Ulrich Herbert - Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert

Es besteht vermutlich kein Mangel an Überblickswerken über die jüngere deutsche Geschichte. Das allein allerdings kann kein Grund sein, nicht eine neue zu verfassen. Neue Erkenntnisse, neue Blickwinkel, neue Forschungsfragen treten konstant auf und beleben die Geschichtswissenschaft. In der deutschen herrscht ohnehin die Tendenz kleinteiligerer Arbeiten zu spezifischen Expert*innenthemen vor, die für die breite Öffentlichkeit wenig konsumierbar sind. Umso willkommener sind Werke von gestandenen Fachhistoriker*innen, die einen Überblick über eine Epoche geben und so auch einem in der Forschungsdiskussion weniger intensiv verankerten Publikum die Chance geben, von der historischen Wissenschaft zu profitieren. Mit Ulrich Herbert besteht auch wenig die Gefahr, die solchen Werken gerne zu eigen ist und in allzu populärwissenschaftliche Richtungen abzurutschen. Auch der schiere Umfang von 1450 großformatigen, eng bedruckten Seiten und ein stattliches Kampfgewicht, das es als Waffe klassifizieren könnte, legen eine nicht unbedingt leichte Kost nahe. Aber das alles sind Äußerlichkeiten. Die Frage ist, ob es Herbert gelingt, das deutsche 20. Jahrhundert auf der Höhe der Zeit, erkenntnisreich und dennoch lesbar zu untersuchen.

Ausgehen von der Frage, wie die deutsche Geschichte überhaupt eingeteilt werden kann - angesichts der Katastrophe des Dritten Reichs, des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts  - und wie sich das "20. Jahrhundert" überhaupt sinnvoll datieren lässt, nutzt Herbert eine recht großzügige Definition aus. Seine Geschichte beginnt im ersten Teil, "1870 bis 1918", im Jahr 1870 und entwickelt eine Geschichte des Kaiserreichs, um in Riesenschritten bei der Wegmarke 1900 anzukommen. Hier zeigt sich der Aufbau des Buchs zum ersten Mal: im ersten Kapitel unternimmt Herbert einen Querschnitt durch Deutschland zu einer bestimmten Zeit, in diesem Fall 1900, und versucht so, ein Porträt der Epoche zu entwickeln. Unter dem Schlagwort "Deutschland um 1900: der Fortschritt und seine Kosten" erkundet er die Ambivalenz zwischen Fortschritt in Wirtschaft und Technik und der Beharrung in gesellschaftlichen Kräften, ohne dabei die ohne Zweifel bestehenden Ambivalenzen innerhalb jeder Kategorie aus dem Blick zu verlieren. Angesichts dessen, dass das Buch 2013 geschrieben wurde und die Kaiserreichdebatten um Jürgen Zimmerer, Hedwig Richter, Oliver Haardt und Christoph Nonn noch gar nicht geführt waren, zeigt dies bereits Herberts scharfen Blick und großartiges Überblickswissen, an dem er die Lesenden auf den kommenden 1250 Seiten (plus 200 Seiten Bibliografie und Fußnoten) Anteil haben lässt.

"Das Neue Reich" steht dann im folgenden zweiten Kapitel vertieft im Blick Herberts, wo er die Ära nach Bismarck genauer in den Blick nimmt und die Zeit vor 1900 somit vor allem als Grundlage in der Vergangenheit begreift. Das dritte und letzte Kapitel des Teils, "Die Macht des Krieges", ist dann dem Ersten Weltkrieg gewidmet, dessen zerstörerische Kraft und wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche und nicht zuletzt militärische Dynamiken für die weitere deutsche Geschichte so bedeutend sein würden. In diesen Kapiteln zeigt sich natürlich auch bereits das Problem, das jede solche Überblicksdarstellung immer haben wird: obwohl Herbert pflichtschuldig immer wieder die restliche Welt in den Blick nimmt, um Geschehnisse in Deutschland zu erklären, so bleibt es doch eine klassisch deutsche Geschichte und kann dies angesichts des gewählten Blickwinkels auch gar nicht anders sein. Das soll explizit kein Manko sein; wie den Zeilen vielleicht bereits anzumerken ist, habe ich das Buch mit großem Genuss und Erkenntnisgewinn gelesen und kann es nur nachdrücklich empfehlen. Man sollte nur nicht den Fehler machen zu glauben, es könne als Grundlage alleine ausreichen.

Im zweiten Teil, "1919-1933", steht dann erwartungsgemäß die Weimarer Republik im Mittelpunkt. Das Anfangsdatum verweist auf ihre turbulenten Beginne in Revolution, Bürgerkrieg und Friedensvertrag, während das Enddatum unvermeidlich ihr Scheitern mit der Machtübergabe an Hitler markiert. Das ist eine klassische Einteilung, die sich auch durch die Kapitel fortzieht. Das erste, "Revolution und Republik", nimmt die Zeit bis 1923 in den Blick, in der eine prekäre Stabilisierung einsetzt. Bereits hier zeigt sich eine typisch deutsche Zurückhaltung gegenüber kontrafaktischen Überlegungen; Herbert beschreibt vor allem, was geschah und warum; die Möglichkeitsspielräume sind für ihn nicht so relevant. Auch hier ist das angesichts des Umfangs des Werks eine durchaus weise Selbstbescheidung, sollte aber trotzdem Erwähnung finden.

Das zweite Kapitel, "Deutschland um 1926: Zwischen Krieg und Krise", spring erneut in den Querschnittsmodus und erzählt die Geschichte Weimars ähnlich wie des Kaiserreichs als eine zwischen Herausforderungen der Moderne und den Reaktionen darauf. Auch hier zeigt sich Herbert als ein Avantgardist der Geschichtswissenschaft, indem er diese Ambivalenzen in den Mittelpunkt seiner Darstellung rückt. Der große Diskurs um die Frage der Moderne und ihrer Reaktionen darauf, die mittlerweile sogar prominent Einzug in die Bildungspläne gefunden hat, ermöglicht zahlreiche Blickwinkel auf die deutsche Gesellschaft der Zeit, die alleine die Lektüre lesenswert machen. Das dritte Kapitel, "Die Zerstörung der Republik", ist demgegenüber wieder eher klassisch aufgestellt und erklärt die Hinwendung zu Hitler aus der Weltwirtschaftskrise, dem Erstarken der Ränder und dem Versagen der konservativ-reaktionären Eliten.

Der dritte Teil, "1933 bis 1945", nimmt dann bereits deutlich umfänglicher die Zeit des Nationalsozialismus in den Blick. Seine klaren Start- und Enddaten machen eine Diskussion über die Kategorisierung praktisch überflüssig; seine einschneidende Wirkung ebenso. Das erste Kapitel, "Die Dynamik der Gewalt", zeigt in einem Längsschnitt die Dimension der Gewalttätigkeit des Regimes, die wirklich immer wieder herausgestellt werden muss, gerade auch gegen das Selbstbild der Diktatur als Bringerin der Ordnung (eine Strategie, mit der Rechtsextremisten überall heute auch wieder punkten). Herberts Blick geht dabei von dem wilden Straßenterror im Winter 1933 bis hin zum "Vorabend des Krieges" und der Vorbereitung desselben. Mir fällt es etwas schwer, die innenpolitische Gewalt im selben Kapitel betrachtet zu sehen wie die Vorbereitungen des Krieges und die Außenpolitik; sicher, alles ist Gewalt und Vorbereitung zur Gewalt, und die Entgrenzung im Inneren bereitete die Entgrenzung nach Außen vor. Trotzdem scheinen mir das sehr unterschiedliche Phänomene zu sein, besonders wenn es um die Strategie der Außenpolitik geht. Auch wird quasi die ganze andere Zeit der Diktatur mit all ihren Facetten hier verhandelt, die demgegenüber beinahe zwangsläufig etwas kurz kommen. Das ist vor dem Hintergrund des vierten Teils, der hier wesentlich differenzierter arbeitet, umso bemerkenswerter.

Das zweite Kapitel, "Die Zerstörung Europas", passt allerdings zu diesem Fokus. Der Terror der Besatzung, der beginnende Judenmord, die Euthanasie und die "Umsteuerung auf einen langen Krieg" bilden die Eckmarken dieser Betrachtung, die nahtlos ins dritte Kapitel, den nächsten Querschnitt, überleitet: "Deutschland um 1942: Völkermord und Volksgemeinschaft". Hier findet sich nun auch der vertiefte Blick auf die NS-Gesellschaft, den ich im ersten Kapitel noch vermisst habe, aber glücklich macht mich die Setzung trotzdem nicht. 1942 ist als das Jahr der Endlösung und der Wende im Krieg sicherlich ein guter Zeitpunkt für einen Querschnitt, aber gleichzeitig auch nur eingeschränkt repräsentativ für den NS-Staat, der hier schon stark vom Ende her gedacht wird. Herbert entgeht der Gefahr der Teleologie normalerweise gut; es ist mein Empfinden, dass es in diesem Kapitel am meisten durchbricht. Das vierte Kapitel, "Untergang", fügt sich in diese Struktur dann (erneut folgerichtig) ein.

Der vierte Teil, "1945 bis 1973", muss die Herausforderung bestehen, künftig von zwei Deutschland zu berichten. Das erste Kapitel, "Nachkrieg", kommt um diese Problematik natürlich noch herum; es ist hauptsächlich die Geschichte einer Trümmerlandschaft, in der gleichwohl Kontinuitäten bestehen. Herbert legt sein Gewicht hier besonders auf die politischen Prozesse. Das zweite Kapitel, "Wiederaufbau in Westdeutschland", zeichnet dann ohne falsche Verklärung und unter geradezu beiläufigem Beiseiteräumen von Mythen die Zeit des Booms im Westen nach. Auch die Behandlung der NS-Vergangenheit spielt dabei eine prominente Rolle, wie sie es im weiteren Verlauf immer wieder tun wird. Spiegelbildlich dzau steht das dritte Kapitel, "Das sozialistische Experiment", das bis zum Ende der Ära Ulbricht vor allem herauszeichnet, wie die Sowjetisierung und Technisierung vor der Kontrastfolie der Unterdrückung das Herrschaftssystem auszeichneten. Besonders im Vergleich mit der folgenden Honecker-Ära wird Herbert sehr gut deutlich machen, wie der wirtschaftliche Modus der DDR die Prioritätensetzung zwischen sozialistischem Aufbau einerseits und Heben des Lebensstandards andererseits nicht leistete - und nie leisten konnte.

Das vierte Kapitel, "Vorboten des Wandels", bereitet durch das Ende der Adenauer-Ära und den Beginn der Vergangenheitsbewältigung vor allem das folgende fünfte Kapitel, "Deutschland um 1965: Zwischen den Zeiten", vor. Einmal mehr zeigt sich hier Herberts Blick auf die Moderne und ihre Ambivalenzen sehr deutlich: vom Planungsoptimismus zum Atomboom zeigt sich die ganze Machbarkeitsvorstellung einer Epoche, die bereits wenige Jahre später völlig in Scherben gehen und einem neuen Zeitalter Platz machen wird. Gerade die relative Fremdheit des Deutschland um 1965 zeigt deutlich, wie gut gewählt auch der Schnitt für 1973 ist. Natürlich kann in dieser Betrachtung auch die "Reform und Revolte" nicht fehlen, die in Kapitel sechs besprochen wird. Die Herausforderung der Gesellschaft und der Systeme zumindest im Westen - und die Unterdrückung dieser Aspekte im Osten - zeichnen deutlich ein Kernelement jener Zeit nach, aus dem erkennbar unsere moderne Gesellschaft geboren werden wird. "Zwischen den Zeiten" scheint daher eine angemessene Beschreibung.

Der fünfte Teil, "1973 bis 2000", beginnt dann kaum überraschend mit der großen Krise des Westens. Das erste Kapitel, "Krise und Strukturwandel", zeigt erneut Herberts klarsichtigen Blick, noch bevor Historiker wie Lutz Raphael diesen Strukturwandel verstärkt untersuchten. Vom Ende von Bretton Woods über den Niedergang der Montanindustrie zeigt sich hier eine Verschiebung, deren Bedeutung den Zeitgenossen kaum ersichtlich war und die erst in der letzten Dekade verstärkt in die Aufmerksamkeit gerückt ist. Dagegen nimmt sich die Betrachtung des RAF-Terrorismus beinahe beschaulich aus und ist vor allem als Artefakt der Epoche relevant. Zu der Erscheinung dieser Moderne gehört natürlich auch die ständig wachsende Interdependenz mit dem Rest der Welt, die Herbert im zweiten Kapitel, "Weltwirtschaft und nationale Politik", scharfsichtig in diesem Antagonismus untersucht. Auch hier zeigt sich wieder sein scharfsinniger analytischer Blick, mit dem er nie in die Versuchung verfällt, bestehende (meist teleologische) Narrative zu unterstützen, sondern hochgradig differenziert Wirkungsdynamiken seziert und erläutert.

Das dritte Kapitel nimmt sich dann ganz der dem Osten an: in "Aufschwung, Krise und Zerfall der DDR" zeichnet Herbert den kurzen, scheinbaren Aufschwung der 1970er nach, der zwar den Lebensstandard deutlich zu heben vermochte - aber eben nur auf Kosten einer Substanz, die dann zu einer stets symbiotischeren Verbindung mit den Wirtschaften des Westens führte, aus denen sich der ganze Ostblock nicht mehr zu lösen vermochte und dessen Widersprüche ihn schließlich zerrissen. Gleichwohl zeigt Herbert, auch hier jeder teleologischen Versuchung widerstehend, im vierten Kapitel, "Deutschland um 1990: Zweierlei Vereinigungen", wie wichtig die Rolle Gorbatschows ist, die in der jüngsten Forschung wie etwa in den Werken Vladimir Zuboks, ja ebenfalls deutlich betont wurde. Die inneren Widersprüche des Systems blieben letztlich unauflösbar. Dasselbe gilt allerdings für die Kapitelstruktur; wie bereits in der NS-Zeit vermischt sich mit dem gewählten Querschnittsjahr 1990 die Augenblicksbetrachtung Deutschlands mit einem Extremmoment, der zudem noch von außenpolitischen Akteuren dominiert wird, was zusätzliches Kontextwissen mehr erforderlich macht als sonst.

Das fünfte Kapitel, "Neue Einheit", behandelt dann Deutschland in den 1990er Jahren, nun als wiedervereinigte Nation. Die Vereinigungskrise analysiert Herbert scharfsinnig mit großem Blick für die wirtschaftlichen Realitäten andererseits und die politischen Gegebenheiten andererseits, auch in den Folgewirkungen beider Dynamiken. Dasselbe gilt für die großen innenpolitischen Themen, vor allem die Asyldebatte (deren Ursprünge bereits im ersten Kapitel erkannt wurden) und der Generationenwechsel in der Vergangenheitsbewältigung, vor allem bei der Zwangsarbeitendenentschädigung und der Wehrmachtsausstellung den Nationalsozialismus betreffend und die Verfolgung der DDR-Verbrechen diese betreffend. Den Abschluss macht das sechste Kapitel, "Millenium", in dem der Generationenwechsel auch politisch nachvollzogen wird und gleichzeitig merkwürdig unspektakulär bleibt. Die rot-grüne Regierungszeit ist vor allem wegen der Geräuschlosigkeit des Machtwechsels bemerkenswert. Was die Agenda-Phase und die Finanzkrise anbelangt, bleibt Herbert insgesamt recht knapp, was angesichts der geringen Distanz nachvollziehbar ist. Hier zeigen sich die blinden Flecke am deutlichsten, wenn etwa von der Stabilität des Fünf-Parteien-Systems gesprochen wird oder Finanz- und Eurokrise wohl mehr Gewicht beigemessen werden, als sie haben. Oder vielleicht wird Herbert erneut als Avantgardist gelten dürfen, wenn wir in zehn bis zwanzig Jahren mit mehr Abstand auf die Ereignisse blicken.

Den geneigten Lesenden ist sicherlich aufgefallen, dass ich praktisch kaum inhaltliche Analysen Herberts wiedergegeben habe. Das ist beabsichtigt. Das Werk ist so umfangreich und so reichhaltig, dass man auf jeder Seite zwei bis drei Punkte finden kann; jede Wiedergabe meinerseits wäre grob verkürzend und selektiv, und damit habe ich in der Vergangenheit nicht immer die besten Erfahrungen gemacht. Ich kann daher allen an der Geschichte Interessierten (und wer hätte diesen Text bis hierher gelesen, zählte man sich nicht selbst darunter?), das Buch selbst zu lesen. Zumindest in der Kosten-Nutzen-Relation wird man kaum besser wegkommen können. Der Gewinn für den eigenen Intellekt ist bemerkenswert.

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