Mittwoch, 14. März 2012

Das Zerbröckeln der europäischen Peripherie

Von Stefan Sasse

Die europäische Krise ist noch lange nicht ausgestanden. Während immer wieder das Gefühl aufkommt, dass die Euro-Krise doch irgendwann einmal vorbeisein müsste, tun sich ganz neue Abgründe auf. Die kurzsichtige Politik der letzten zehn, fünfzehn Jahre beginnt sich zu rächen, und die Konstruktionsfehler der EU treten immer deutlicher zutage. Inwiefern der Euro von Anfang an ein Konstruktionsfehler war - ob es nur die Aufnahme von einigen Wackelkandidaten, gleich die komplette Idee oder nur die mangelnde Koordination von Fiskalpolitik war - ist umstritten. Fakt ist, dass die Krise Sollbruchstellen innerhalb der EU aufdeckt. Es gibt immer noch keine effektiven Lösungsmechanismen für Probleme, bei denen nicht alle Mitglieder einer Meinung sind. Seit den Reformversuchen von Nizza 2004 und der Osterweiterung des gleichen Jahres wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass das Konsensprinzip die 27-Mitglieder-EU vor gewaltige Probleme stellen wird. Inzwischen ist es soweit; erst gestern haben Großbritannien, die Niederlande und Schweden die Einführung einer Finanztransaktionssteuer abgelehnt und das Projekt damit abgeschossen. 

Dabei berührt diese komplette Handlungsfähigkeitsproblematik noch nicht einmal die gewaltigen Legitimationsschwächen der EU, deren einzige gewählte Körperschaft, das Europäische Parlament, deutlich weniger Rechte als die Ausschüsse und Gremien der Europäischen Kommission oder der Ministerräte hat. Früher wurde dieses Demokratiedefizit hauptsächlich von Linken angeprangert; inzwischen ist es zusätzlich noch zur liebsten Spielwiese der Rechtspopulisten geworden. Viel von dem, was in der EU geschieht, geschieht abseits des Fokus der Öffentlichkeit und wird nur sehr verzerrt überhaupt in den EU-Ländern wahrgenommen. Nationale Regierungen machen sich diese Informationslücke ständig zunutze, um Verantwortung abzuladen, und werden im Gegenzug darin gehemmt, in der EU aktive Beiträge zur Problemlösung durchzuführen. Die EU ist häufiger eine Erweiterung innenpolitischer Arenen als ernsthaftes Diskussionsforum - Camerons Blockadehaltung, mit der er seine sinkende Beliebtheit in Großbritannien zu kompensieren hofft zeigt dies etwa deutlich auf. 

Doch die Peripherie Europas - Spanien, Italien, Griechenland - ist nicht nur in Bezug auf die Euro-Krise ein ernsthaftes Problem. Vor einigen Tagen ließ Sarkozy einen Testballon steigen, indem er das Schengenabkommen kritisierte. Da Marie Le Pen inzwischen zur Präsidentschaftswahl zugelassen wurde, ist das Bedienen rechtspopulistischer Klientel für Sarkozy überlebensnotwendig, der im zweiten Wahlgang die Stimmen der Rechten benötigt, wenn er auf eine Wiederwahl hofft. Bereits vor kurzem hatte Dänemark mit seiner aufsehenserregenden Außerkraftsetzung des Schengenabkommens mit einem rein innenpolitischen, rechtspopulistischen Manöver für Schlagzeilen gesorgt. Nun spielt Sarkozy auf der gleichen Geige, und es ist noch keine zwei Jahre her, dass er im Verbund mit Fidesz-Ungarn Sinti und Roma diskriminierte. Gleichzeitig ignorieren Spanien, Griechenland und Italien mehr und mehr die Regelungen des Schengenabkommens (besonders die Anfang der 2000er Jahre von Deutschland durchgesetzten Verschärfungen) und sorgen so für Streit. 

Es ist gut möglich, dass die nächste EU-Krise aus genau diesem Grund ebenfalls Italien, Spanien und Griechenland beinhaltet. Um das zu erklären, ist ein kurzer Rückgriff auf die Schengen-Bestimmungen notwendig. Zu Beginn der 1990er Jahre waren die Asylbewerber ein beherrschendes Thema deutscher Schlagzeilen, da jährlich eine sechsstellige Zahl von Bewerbern um politisches Asyl bat und im Normalfall im Land verblieb. Die SPD und die CDU verschärften daraufhin den Asylparagraphen des Grundgesetzes stark, was zu einem Rückgang der Asylbewerberzahlen von über 170.000 im Jahr 1992 zu rund 20.000 im Jahr 2007 führte. Zugleich wurden immer weniger Anträge angenommen, und diejenigen, die angenommen wurden, waren mit einer deutlich höheren Rückkehrwahrscheinlichkeit behaftet als frühere (etwa Kosovo- und Afghanistankriegsflüchtlinge, die größtenteils bereits wieder zurückgeschickt wurden). Die folgenreichste Verschärfung aber gehört in das Umfeld des Schengenabkommens. Deutschland setzte hier die verhängnisvolle Regelung durch, dass Asylbewerber in dem Land Asyl beantragen müssen, in das sie zuerst kommen (Dublin-Abkommen). Das ist insofern vernünftig, als dass Asylbewerber ansonsten von einem Land zum anderen tingeln und den Abschiebeprozess endlos hinauszögern würden. Jedoch beinhaltet die Regelung einen schwerwiegenden Konstruktionsfehler, der frappant an den Euro erinnert: es gibt keinerlei ausreichende Ausgleichsmechanismen zwischen den EU-Staaten. 

Das verwundert nicht, denn Deutschland war es, das diese Regel wollte, und es hatte - wie die obigen Zahlen zeigen - auch großen Erfolg damit. Die einzige Möglichkeit, seit der Osterweiterung Asyl in Deutschland zu beantragen, ist eine Ankunft per Flugzeug, Ostsee oder Nordsee. Alle diese Möglichkeiten sind äußerst unwahrscheinlich für die meisten Asylbewerber. Da das Gros der Bewerber mittlerweile aus Afrika und über die Türkei kommt, sind es ausgerechnet Spanien, Italien und Griechenland, die das Problem bekämpfen müssen. Ihre inneren und finanziellen Probleme erlauben das aber kaum mehr, weswegen etwa Italien inzwischen entgegen dem Schengener Abkommen Asylbewerber einfach weiterreisen lässt, was wiederum Frankreich zu temporären Grenzschließungen gegen Italien verleitete. 

Eine Europäische Union, in der das wiedervereinigte Deutschland der mit Abstand stärkste Spieler ist kann auf Dauer nicht funktionieren, wenn dieses Deutschland einseitig Lasten auf die Länder der Peripherie abwälzt. Es hat dies ökonomisch getan, indem es seine eigenen Lohnstückkosten drastisch senkte und über die Währungspolitik einen fiskalischen Ausgleich durch Abwertung verhindern konnte, und es tat dies politisch, indem es das Problem mit den Asylbewerbern auf die Schultern der Mittelanrainer abschob. Dass diese aufzubegehren beginnen ist nachvollziehbar, und Sarkozys Schengen-Populismus könnte der Anfang vom Ende des Europas der freien und offenen Grenzen sein. Gerade Schengen aber war es, das als einer der größten Erfolge der Europapolitik - zu Recht - gefeiert wurde. Würde Schengen zu Grabe getragen werden, wäre dies für die Europa-Idee ein noch viel größeres Menetekel als ein eventueller Untergang des Euro. Wenn aber die EU-Staaten anfangen, ihre Grenzen zu schließen, wenn sie wieder zu einer rein egoistischen, interessengeleiteten Wirtschafts- und Finanzpolitik zurückkehren, welchen Sinn hat denn dann die EU noch? Der Untergang Schengens wäre der Anfang vom Ende der EU. Er ist eine wesentlich größere Bedrohung als die Probleme mit dem Euro.

1 Kommentar:

  1. Diesen Artikel finde ich sehr gut!

    “Jedoch beinhaltet die Regelung (Dublin-Abkommen) einen schwerwiegenden Konstruktionsfehler, der frappant an den Euro erinnert: es gibt keinerlei ausreichende Ausgleichsmechanismen zwischen den EU-Staaten.”

    Ich sehe darin auch eine Gefahr für die EU, denn diese Regelung ist den Ländern der südlichen Peripherie gegenüber total ungerecht. Italien und Griechenland sind mit den zuströmenden Asylsuchenden aus dem Maghreb und anderen Gebieten komplett überfordert. Sind diese Flüchtlinge einmal in der Schweiz oder Deutschland angekommen, werden sie mit viel Aufwand – dank dem Dublin-Abkommen – wieder in ihre “Ersteinreiseländer” zurückgeführt. Das kann auf die Dauer nicht gut gehen.

    Ausserdem: Wie viele libysche Flüchtlinge hatte das nicht auf Rosen gebettete Tunesien aufgenommen? Und wir empören uns hier über die Zahl der Asylsuchenden - mal (wieder) die Verhältnismässigkeit beachten!

    der Herr Karl

    AntwortenLöschen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.