Samstag, 26. August 2023

Lässliche Jugendsünde oder Offenlegung einer Gesinnung? Der Aiwanger-Skandal

 

Nachdem der bayerische Landtagswahlkampf - im Oktober wird im Freistaat gewählt - bisher eigentlich ausschließlich aus Angriffen auf die Ampelregierung in Berlin bestand, hat sich der Fokus nun dieses Wochenende ein klein wenig verlagert: Hubert Aiwanger, Vorsitzender der Freien Wähler, stellvertretender Ministerpräsident und Wirtschaftsminister Bayerns, der bereits in der Vergangenheit durch rechtspopulistische und teilweise schlicht wirre Aussagen aufgefallen war, soll als 17jähriger Schüler ein Flugblatt verfasst haben, das den Holocaust relativieren, antisemitisch und generell rechtsradikal sein soll. Er wurde als Schüler für diese Urheberschaft bestraft und hat sie abgestritten. Ich habe zwiespältige Gedanken zu diesem Thema, die ich im Folgenden gerne etwas näher darlegen möchte.

Meine erste Reaktion auf das Bekanntwerden des Skandals war es, festzustellen, dass ich im Alter von 17 Jahren auch eine ganze Menge Scheiße geschrieben habe. Nicht nur das, ich hatte damals sogar so etwas wie eine kleine rechtsradikale Phase: ihr ironisch und als Ausdruck von Rebellion denn aus genuiner Überzeugung, aber nichtsdestotrotz mit dämlichen Aussagen, dem höheren einschlägigen Musik und dem ständigen Kokettieren mit dem Tabubruch. Dazu gehört selbstverständlich auch das Witze Reißen über Konzentrationslager. Von daher tue ich mich schwer damit, einen dem Rentenalter nahekommenden Aiwanger damit zu kritisieren, was er als Pennäler verfasst hat.

Natürlich gibt es dafür klare Grenzen: relevant ist, ob er sich von seinen damaligen Positionen distanziert und für die Geschmacksverwirrung entschuldigt. Sofern er - was zu dem Moment, in dem ich dies schreibe, noch unklar ist - ihr mit Uneinsichtigkeit oder sogar mit Angriffen nach vorne reagieren sollte, ist das ein anderes Thema; es wäre dann allerdings eines, das den Gegenwarts-Aiwanger betrifft und nicht den Schüler aus den 1980er Jahren. Solange dies nicht der Fall ist, also Aiwanger sich aufrichtig und glaubhaft von seiner früheren Tat distanziert, sehe ich keinerlei Notwendigkeit, sie ihm weiter um den Hals zu hängen.

Das ist auch nicht notwendig, weil ich Aiwanger völlig problemlos mit dem kritisieren kann, was er als stellvertretender Ministerpräsident und Wirtschaftsminister sowie Vorsitzender seiner Partei von sich gibt. Von Impfgegnerschaft über Kulturkriege um ein angebliches Fleischverbot ist alles dabei, was der rechte Rand der Republik so zusammenbraut. Dafür habe ich ihn in der Vergangenheit ja auch immer wieder kritisiert. Wäre er nicht der Vorsitzende einer 10%-Partei, könnte es einem beiläufigen beobachtenden auch leicht verziehen werden, ihn und seine Aussagen für einen willkürlichen Kommentator auf Facebook zu halten, der einfach nur irgendwelchen Blödsinn schreibt.

Leider ist Aiwanger das nicht, sondern ein nicht unerheblicher Teil des Machtgefüges zumindest in Bayern und damit über den Umweg des Bundesrats auch in der Bundesrepublik, von dem ständig enttäuschten Potential der Freien Wähler zu einem Reüssieren auf Bundesebene einmal zu schweigen. Es gibt also genügend Gründe, Aiwanger führt das zu kritisieren, was er aktuell tut. Dass sich die Debatte nicht über diesen Blödsinn, sondern über 45 Jahre alten Blödsinn entspannt, ist ärgerlich und leider typisch für den öffentlichen Diskurs.

Aber ich will auch für einen Moment bei dem Flugplatz selbst bleiben.

Die Attribute, mit denen es beständig kontextualisiert wird und die ich in der Einleitung Vorsichtigerweise in den Konjunktiv gesetzt habe, sind vor allem „antisemitisch“ (ZEIT, ZDF, FAZ, unter anderem) - das klassische Todesurteil im politischen deutschen Diskurs -, "Verhöhnung der Opfer des Holocaust" (Schulze), "Hetzschrift" (BR) und Variationen von Ablehnungsbekundungen wie „menschenverachtend“ und „eklig“ (Markus Söder) oder "rechtsextrem" (Welt). Ich habe mit einigen dieser Zuschreibungen ein gehöriges Problem, vor allem mit „antisemitisch“. Das liegt an zwei Gründen.

Grund Nummer 1 ist, dass das Flugblatt keinerlei Referenz auf Juden, antisemitische Ideologie oder den Holocaust erkennen lässt. Grund Nummer 2 ist, dass hier eine Gleichsetzung der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und ihre Opfer mit dem Holocaust stattfindet, die für die deutsche Erinnerungskultur leider typisch ist. Das erfordert eine etwas ausführlichere Erklärung.

Die Konzentrations- und Vernichtungslager, allen voran Auschwitz und Dachau, werden oft synonym für den Holocaust. Im Falle Auschwitz‘ ist das verständlich: das Tor von Birkenau mit den hineinführenden Gleisen oder das schmiedeeiserne Eingangstor von Auschwitz mit dem Schriftzug „Arbeit macht frei“ sind ikonisch. In Auschwitz wurden vermutlich rund eine Million Juden ermordet, etwa ein Sechstel der Gesamtzahl des Holocaust. In den Vernichtungslagern starben insgesamt rund drei Millionen Juden, etwa die Hälfte der Opfer. Allerdings ignoriert diese öffentliche Erinnerung mit ihrem starken Fokus auf Auschwitz üblicherweise die andere Hälfte, die vor allem bei Massenerschießungen wie etwa bei Babi Yar in der Ukraine quasi „in Handarbeit“ ermordet wurde. Diese simplifizierende Betrachtung steht einem Verständnis des Holocaust immer wieder im Weg.

Wesentlich relevanter für unsere Thematik allerdings ist, dass die Nazis bei weitem nicht nur Juden in den Lagern ermordeten, sondern auch Sinti und Roma, Homosexuelle, Linke, Behinderte, Staatsangehörige der Sowjetunion, Polen und viele weitere Minderheiten, auf die sie ihren mörderischen Fokus legten. Die Gleichsetzung der Lager mit dem Holocaust ignoriert all diese Opfer und ignoriert auch all jene jüdischen Opfer, die nicht in den Lagern zu Tode kamen. Dies ist ein beständiges Problem in der deutschen Erinnerungskultur, weil sie nicht nur millionenfaches Leid ausblendet, sondern auch erschwert, die Mechanismen des Holocaust zu verstehen und damit aus seiner Geschichte Lehren zu ziehen.

Wo liegt nun der Bezug zu Aiwanger und seinem dämlichen Flugblatt? Ich glaube, dass der 17jährige Aiwanger absurderweise mehr geschichtliches Verständnis an den Tag gelegt hat als manche der heutigen Kritiker*innen. Zumindest lese ich ohne weiteren Kontext und intime biographische Kenntnisse des jungen Aiwanger das Flugblatt nicht als antisemitisch, sondern viel mehr als diffus antilinks und rechtsradikal.

Was meine ich damit? Zum einen richtet sich das Flugblatt an „Vaterlandsverräter“. Das allerdings schließt Juden effektiv aus: diesen wird ja in der nationalsozialistischen Ideologie die Zugehörigkeit zum deutschen Vaterland explizit abgesprochen. Dementsprechend können Sie es auch nicht verraten. Der Vorwurf des Vaterlandsverrats richtet sich vielmehr gegen Links, also gegen Sozialisten, Kommunisten und Sozialdemokraten.

Das passt auch viel besser zum politischen Klima in der der 1980er Jahre. Die Friedensbewegung war damals sehr stark, hatte (über den Umweg des NATO-Doppelbeschlusses) mit zum Bruch der sozialliberalen Regierung und zur „geistig-moralischen Wende“ geführt und war stark antinationalistisch eingestellt. Die genannte „Wende“ war ihrem Anspruch nach zudem eine des Schlussstrichs und eine Art Neubewertung der Vergangenheit, wie sie vor allem in Helmut Kohls Besuch des Soldatenfriedhofs in Bitburg augenscheinlich wurde. Geschmacklose und Geschichtsvergessenen Nazivergleiche waren damals ebenfalls keine Neuheit, wenn man etwa an Kohls Vergleich Gorbatschows mit Goebbels denkt.

Am zentralsten jedoch dürfte der sogenannte Historikerstreit sein, bei dem der ihr rechtsgerichtete Ernst Nolte eine Art Neubewertung der Nazidiktatur forderte und heftigen Gegenwind aus dem liberalen Spektrum erhielt (am prominentesten von Martin Walser) und diesen Streit letztlich auch verlor (er gilt heute in der Geschichtswissenschaften weitgehend als widerlegt).

Aiwangers Flugblatt muss in diesem Kontext gesehen werden. Es richtet sich gegen seinen politischen Gegner, die natürlich reichlich diffus definierten Linken. Seine eigentliche Problematik liegt also nicht darin, antisemitisch zu sein - hier gibt der Text für mich keine belastbaren Punkte her - sondern letzten Endes die Verfolgung von Systemgegnern ab 1933 und den gegen sie gerichteten Terror zu legitimieren und, wenn auch nur ironisch mit völlig geschmacklosem Humor, in einer Neuauflage zu fordern.

Dafür spricht vor allem die Nennung von Dachau als Austragungsort. Dachau wurde als erstes Konzentrationslager im April 1933 gegründet (nicht zufällig in Bayern, nebenbei bemerkt) und diente der Inhaftierung und „Umerziehung“ der linken Gegner. Kommunisten und Sozialdemokraten waren die ersten Insassen. An dieser Stelle enden die historischen Fähigkeiten des jungen Aiwanger, der ebenfalls die Ikonographie der Gaskammern von Auschwitz mit diesem frühen Terror zusammenwirft. Die Auflistung der Maßnahmen, für die das Flugblatt agitiert, bleibt allerdings eine, die ihre Wurzeln nicht im Holocaust, sondern in der Verfolgung von Regimegegnern besitzt. Darunter fällt der Genickschuss, die Hinrichtung per Fallbeil (wie sie etwa die Geschwister Scholl betraf) oder der Verweis auf die Folterkeller der Gestapo.

Was Aiwanger hier also tut ist, sich in die Rolle eines ausführenden Organs des NS-Unterdrückungsapparat zu imaginieren. Inwieweit ihn das entlastet, seit dem Urteil der Lesenden überlassen; es taugt allerdings wenig für das umfassende Prädikat „antisemitisch“. Vielmehr findet hier eine Relativierung statt, und zwar nicht nur des Holocaust, sondern der nationalsozialistischen Verbrechen generell.

Damit schließt sich der Kreis zum Aiwanger der Gegenwart. Wenn meine Interpretation korrekt ist, wäre die angemessene Reaktion, sich einerseits zu entschuldigen und andererseits deutlich zu machen, dass diese Identifizierung mit einem diktatorischen Terrorapparat und seinen Methoden tatsächlich vor allem ein jugendlich-geschmackloses Spiel mit dem Tabubruch war und nicht, wie seine Gegner*innen behaupten, einen direkten Rückschluss auf seine aktuellen politischen Überzeugungen zulässt. Deswegen halte ich zur Stunde die Reaktionen von SPD-Chef von Brunn oder Grünen-Chefin Schulze, die den Rücktritt beziehungsweise die Entlassung Aiwangers fordern, noch für überzogen. Es liegt an Aiwanger selbst, inwieweit diese Forderungen noch Relevanz erhalten werden.

Das alles, und das sei noch einmal in aller Deutlichkeit gesagt, ist unabhängig von meiner eigenen Haltung zu Aiwanger. Ich halte ihn für einen Dampfplauderer, der mehr als schräge Positionen vertritt, hart am rechten Rand herumirrlichtert und generell eher ungeeignet ist, Regierungsverantwortung zu tragen. Diese ganze Affäre trägt wenig dazu bei, dieses wenig positive Bild zu revidieren. Gleichwohl halte ich es für sehr problematisch, Handlungen von Jugendlichen und selbst jungen Erwachsenen in eine direkte Traditionslinie zu den erwachsenen Politiker*innen zu stellen. Der Steinewerfer Joschka Fischer hatte schließlich mit dem Außenminister Joschka Fischer auch nur sehr bedingt zu tun. Auch Innenminister Otto Schily hatte wenig mit dem RAF-Sympathisanten von früher gemein. Ich möchte daher den stellvertretenden Ministerpräsidenten Aiwanger nicht auf Basis des Gymnasiasten Aiwanger, sondern der Person des Jahres 2023 und vielleicht des letzten Jahrzehnts bewerten.

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