Dienstag, 8. August 2023

Weimarer Bomberstaffeln lenken Volker Wissing von guter Klimapolitik ab - Vermischtes 08.08.2023

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal komplett zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Burning Hamburg 1943 - the first culmination of liberal militarism

Der Text behandelt die Bombardierung der deutschen Stadt Hamburg im Jahr 1943, bei der amerikanische und britische Bomber große Teile der Stadt zerstörten und eine verheerende Feuersturm-Katastrophe verursachten, bei der Zehntausende von Menschen starben. Dieses Ereignis wird als Vorläufer für die späteren Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki betrachtet. Der Autor diskutiert auch, wie strategisches Bombardement eine charakteristische Strategie des britischen und amerikanischen Militärapparats war und als liberale Kriegsführung betrachtet werden kann, die darauf abzielte, den Feind von der Heimatfront aus zu treffen und eine vergleichsweise geringe Anzahl von Personal einzusetzen. Der Text schließt mit einer Empfehlung von Lesematerial zum Thema und erwähnt auch eine weitere Bombardierung der Stadt Halberstadt, die ähnlich zerstört wurde wie Hamburg. Insgesamt beleuchtet der Text die verheerenden Auswirkungen des Luftkriegs auf Städte und die kontroverse Rolle, die strategische Bombardements im Verlauf des Zweiten Weltkriegs spielten. (Adam Tooze, Chartbook)

Es ist absolut faszinierend, wie ein Ereignis, das dermaßen ausführlich erforscht ist wie der Zweite Weltkrieg, immer noch so krasse Fehleinschätzungen zentrale Strategien und Elemente hervorbringen kann. Und da sag mal einer, Geschichte ändere sich nicht mehr und Geschichtswissenschaft sei überflüssig! Ich empfehle diesen Artikel schon alleine wegen der zentralen Rolle, die der Luftkrieg für die Kriegserfahrung der Deutschen einerseits und für die heutige Struktur der deutschen Städte andererseits bedeutet.

Die Erfahrungen des strategischen Bombenkriegs werfen aber ihre Schatten bis heute, da weiterhin umstritten bleibt, wie effektiv Kriegführung aus der Luft überhaupt sein kann. Da ist es gut zu verstehen, wie das historische Vorbild überhaupt funktioniert hat. Ein vernebelter Blick auf historische Realitäten, wie er besonders in Großbritannien unter der massiven Last eine jahrzehntelangen Blitz-Folklore entstanden ist, keine reale negative Konsequenzen auf die Gegenwart haben. Allein deswegen ist die Beschäftigung immer wertvoll.

2) Warnstufe Weimar. Historische Analogien in Israel

Der Text beschäftigt sich mit der geplanten Reform des israelischen Rechtssystems und den damit verbundenen Protesten. Demonstranten ziehen Parallelen zur Weimarer Republik und warnen vor der Gefährdung der Demokratie in Israel. Der Autor zeigt anhand verschiedener Beispiele aus den letzten zehn Jahren, wie die Wahrnehmung dieser Gefahren im israelischen Diskurs an Bedeutung gewonnen hat. Dabei geht es um Themen wie religiösen Radikalismus, die Einbindung von Minderheiten in die Regierung und die Rolle der Gerichte als Schutz vor autoritären Tendenzen. Die Ärzteschaft warnt vor möglichen Folgen einer Reform für das Gesundheitssystem und bezieht sich dabei auf das Jahr 1933 in Deutschland. Der Text betont die Bedeutung eines funktionierenden Rechtssystems und einer aktiven Zivilgesellschaft, um die Demokratie in Israel zu schützen. (Alfred Bodenheimer, Geschichte der Gegenwart)

Es ist absolut faszinierend, nicht dass nicht nur Deutschland, sondern auch andere Länder eine Obsession mit Weimarvergleichen haben. Bedenkt man den durchschnittlichen Wissensstand, auf dem solche Vergleiche in Deutschland beruhen, stimmt das bezüglich Israel nicht unbedingt optimistisch, dürften doch intimere Kenntnisse über die Weimarer Republik jenseits von „ging unter und dann kam Hitler“ eher dünn gesät sein. Das ist nicht wirklich eine Kritik; die Deutschen sind auch gut darin, unbeleckt von tieferer Sachkenntnis irgendwelche weitreichenden Aussagen über die israelisch-palästinensische Geschichte zu machen.

3) We’ve caught the distraction disease – we do anything to avoid the problems we face

Der Text kritisiert die Ablenkungen und mangelnde Handlungsfähigkeit in der britischen Politik und Gesellschaft. Es wird betont, dass dringende Probleme nicht effektiv angegangen werden, wie stagnierende Löhne, geringes Wachstum der Produktivität, steigende Armut und Umweltbelastung. Die Politiker werden von irrelevanten Themen abgelenkt, wie Steuersenkungen, Wasserstofftechnologie oder "degrowth"-Diskussionen. Die Notwendigkeit einer umfassenden Steuerreform wird übersehen, ebenso wie die Förderung von Technologien und Investitionen zur Bewältigung der wirtschaftlichen Herausforderungen. Der Text betont, dass Großbritannien seine Stärken erkennen und nutzen muss, um effektive Lösungen für bestehende Probleme zu finden, wie den Ausbau von erneuerbaren Energien und die Förderung von Schlüsselindustrien. Eine gezielte Politik und konkrete Maßnahmen sind dringend erforderlich, um die Situation zu verbessern. (Thorsten Bell, Guardian)

Nichts von dem, was in dem Text kritisiert wird, ist in irgendeiner Art und Weise spezifisch für Großbritannien. Dieses kleine Element zeigt eher, wie national verengt der eigene Blick häufig ist und darf allen, mich eingeschlossen, zur Mahnung gereichen. Davon abgesehen empfinde ich das Framing der Ablenkung nur für bedingt hilfreich. Ablenkung impliziert entweder eine bewusste Täuschung oder eine an Unmündigkeit grenzende Ignoranz. Die Prozesse, die unbestreitbar existierenden Probleme, die Bell hier auflistet, bedingen, scheinen mir allerdings eher grundsätzlich psychologischer Natur zu sein. Hier ist allerdings ein wertmäßig so aufgeladenes Wort wie Ablenkung nur eingeschränkt hilfreich.

Das führt dann letztlich auch zum Fazit des Artikels. Denn sowohl die Problembeschreibung als auch die Lösung dürften wohl unwidersprochen dastehen. Allein, die genauen Ursachen einerseits und die konkreten Maßnahmen andererseits sind ja das, was umstritten ist. Wer ist schon gegen eine gezielte Politik und konkrete Maßnahmen? Ich habe noch nie jemanden für ungezielte Politik und unkonkrete Maßnahmen argumentieren hören. Das ist ja aber auch nicht das Problem. Vielmehr, und damit sind wir wieder beim Systemischen, sind gerade gezielte und konkrete Maßnahmen politisch normalerweise nicht durchsetzbar. Sobald es nämlich gezielt und konkret wird, regt sich Widerstand. Das allgemeine Wortgeklingel, wie es auch das Fazit dieses Artikels durchzieht, ist ebenso konsensfähig wie nutzlos.

4) Klüngelei-Verdacht im Verkehrsministerium – der große Aufschrei bleibt aus

Nach der Graichen-Affäre, in der es um familiäre Verbindungen zwischen dem Wirtschaftsministerium und dem Öko-Institut ging, wird nun auch das Verkehrsministerium unter Volker Wissing (FDP) beschuldigt, Compliance-Regeln zu missachten. Der Vorwurf lautet auf mutmaßliche Freundschaften zwischen einem Abteilungsleiter, einem Unternehmer und einem Verbandschef im Zusammenhang mit einem Wasserstoff-Förderprogramm. Das "Handelsblatt" berichtet von "mehreren unabhängigen Quellen innerhalb der Bundesregierung", die behaupten, dass die Freunde des Abteilungsleiters Zusagen über Gelder in zweistelliger Millionenhöhe erhalten haben. Obwohl der Abteilungsleiter selbst sich nicht zu den Vorwürfen äußern wollte und das Ministerium die Klüngelei weder bestätigte noch dementierte, ist der Skandal nicht so aufsehenerregend wie die vorherige Affäre. Dabei soll der Abteilungsleiter als Geschäftsführer einer Programmgesellschaft für die Vergabe von Fördergeldern für Wasserstoffprojekte im Verkehrssektor mitverantwortlich gewesen sein. Der Verbandschef bestreitet jedoch, sich inhaltlich mit dem Abteilungsleiter ausgetauscht zu haben. (Rebecca Sawicki, Watson)

Es ist bereits das zweite Mal seitdem alles überschattenden Graichenskandal, dass ähnliche Vorgänge aus dem Verkehrsministerium bekannt werden. In beiden Fällen hält sich der öffentliche Aufschrei, höflich gesagt, in Grenzen. Ich halte hier wie im Falle des Umweltministeriums die Complianceregeln für insgesamt allzuhäufig wirklichkeitsfremd. Genauso wie es kaum überraschen kann, dass nach längerer Oppositionszeit neu ins Ministerium gelangte Minister sich aus mit ihnen verbundenen Expertisekreisen Leute ins Haus holen, so kann es leider auch kaum überraschen, dass der offensichtliche Doppelstandard bei der Frage, welchen dieser „Skandale“ BILD und Co auf die Titelseiten hieven, so offenkundig ist. Auch, dass der Verkehrssektor hauptschuldig am Verfehlen der Klimaziele ist und die FDP die ohnehin unzureichenden Ziele weiter zerstört, wird viel zu wenig thematisiert.

5) The Green Transition Is Becoming an Electoral Minefield

Der Text betont, dass öffentliche Unterstützung für Umweltreformen in Europa oft bröckelt, wenn die Wähler mit den Kosten konfrontiert werden. Rechtspopulistische Parteien nutzen diese Situation, um Umweltpolitik als aufgezwungene grüne Ideologie darzustellen und progressive Reformen zu untergraben. Dieser Trend ist in verschiedenen europäischen Ländern zu beobachten, darunter Deutschland, Österreich, die Niederlande, Italien und Spanien. In Deutschland haben die konservativen Parteien CDU/CSU gegen Klimaschutzmaßnahmen opponiert, während die Grünen in der Regierung koalieren. Rechtsextreme wie die AfD nutzen Umweltthemen, um eine Basis zu mobilisieren, die eine nostalgische Rückkehr zu einer vermeintlich besseren Vergangenheit befürwortet. Ähnliche ideologische Tendenzen zeigen sich in den USA, wo die republikanische Partei unter Trump den Umstieg von fossilen Brennstoffen ablehnte. Republikanische Argumente werden in Europa als Inspiration für Sabotageversuche bei Umweltreformen verwendet. Clarkson warnt, dass europäische Regierungen politische Fallen vermeiden müssen, indem sie professionelles Handeln und geschickte politische Fähigkeiten einsetzen, um Umweltreformen erfolgreich umzusetzen. Investitionen in Arbeitsplätze und Infrastruktur müssen spürbare positive Auswirkungen haben, um breite Unterstützung zu gewinnen. Die Biden-Regierung in den USA zeigt mit dem Inflation Reduction Act, wie Umweltpolitik erfolgreich gestaltet werden kann. Dennoch ist es wichtig zu erkennen, dass die Unterstützung für Umweltreformen nicht selbstverständlich ist und dass politische Gegner sie nutzen könnten, um Unmut zu schüren und progressive Maßnahmen zu blockieren. (Alexander Clarkson, WPR)

Passend zu Fundstück 3 liefert Alex hier eine wesentlich profundere Analyse des Problems. Der Backlash gegen Klimaschutzmaßnahmen ist ein sehr reales Problem, das wir in den letzten Jahren mehrfach beobachten konnten, zuletzt beim Thema Heizungen. Mir scheint es mittlerweile Konsens unter allen Beobachtenden zu sein, das sowohl die handwerkliche Ausfertigung als auch vor allem die Kommunikation des Gesetzes ein ziemlicher Schuss in den Ofen waren.

Zwar ist das Vorbild von Bidens Gesetzgebung auf der Policy-Ebene durchaus nachahmenswert, jedoch ist es nicht so, als ob der IRA keinen Backlash produziert oder die eigene Basis zu Begeisterungsstürmen hingerissen hätte. Ob der unbestreitbare wirtschaftliche Erfolg an der Wahlurne irgendeinen Effekt haben wird - sprich, ob gute Politik von den Wählenden tatsächlich belohnt wird - bleibt abzuwarten. Ich habe da eine gewisse Grundskepsis.

Resterampe

a) Guter Thread zu Lindners gefährlicher Wirtschafts- und Finanzpolitik.

b) Autoland Deutschland. Der Vergleich zur Letzten Generation ist geradezu schreiend offensichtlich. Siehe dazu auch die BZ.

c) Als Nachtrag zu der Debatte um Söder aus dem vorletzten Vermischten.

d) Als Nachtrag zu den AfD-Podcasts: ich verstehe nicht, dass die CDU solch ein Geschenk nicht aggressiver ausnutzt.

e) Oh, wie überraschend: Musk macht mit Tesla mal wieder illegale Sachen.

f) Es braucht einen armutsfesten Mindestlohn. Siehe auch hierzu.

g) Die ersten politischen Konsequenzen der Letzten Generation sind da. Ich fühle mich bestätigt.

h) Woran erkennt man Autokraten?, Modi-Edition.

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