Freitag, 16. August 2024

Rezension: Mary Robinette Kowal - The Calculating Stars

 

Mary Robinette Kowal - The Calculating Stars (Hörbuch) - Mary Robinette Kowal - Die Berechnung der Sterne (Hörbuch)

Die Erforschung des Weltraums regt immer wieder die Fantasie der Menschen an. Eine Geschichte über die frühe Zeit des Space Race in einer alternativen Timeline ist daher genau das richtige für mich. Mary Robinette Kowals "Lady Astronaut"-Serie kommt gerade recht, um diesen spezifischen popkulturellen Juckreiz bei mir zu kratzen. Die Prämisse läst mich vor allem an drei Werke denken, die mir bekannt sind: Der Film "Hidden Figures", in dem Kevin Costner das Problem des Rassismus in den 1960er Jahren löst und in dem es um die weiblichen "Computer" geht, die marginalisierten Frauen, die (natürlich unter männlicher Anleitung) die Berechnungen für das Raumprogramm ausführten; das Meisterwerk "The Martian", in dem hoch kompetente NASA-Leute eine desaströs gescheiterte Marsexpedition retten; und die Serie "For All Mankind", in der das Space Race niemals endet und USA und Sowjetunion bis in die 2000er Jahre hinein um den Weltraum wetteifern. Kowals Roman von 2018 wirkt ein bisschen wie als ob man diese drei Werke (und vermutlich diverse weitere, die mir gerade nicht einfallen) zusammengerührt hätte - und das soll gar nicht despektierlich klingen, solche Remixes produzieren oft guten Stoff. Ob das hier genauso ist, soll die folgende Rezension erörtern.

Die Geschichte beginnt 1952, kurz nach dem erfolgreichen Start des ersten amerikanischen Satelliten in diee Umlaufbahn, als ein Meteorit in die Chesapeake Bay einschlägt und einen katastrophalen Schaden anrichtet. Elma York, "Computer" bei der NASA, und ihr Mann Nathaniel, Raketeningenieur, überleben die Katastrophe nur knapp. Dieser Vorfall löst nicht nur eine sofortige Zerstörung an der Ostküste der Vereinigten Staaten aus, sondern verursacht auch extreme klimatische Veränderungen. Die globale Erwärmung wird beschleunigt, was langfristig die Erde unbewohnbar machen könnte. Die Menschheit steht vor einer existenziellen Krise, und die Regierungen der Welt erkennen, dass die einzige Möglichkeit, das Überleben der menschlichen Rasse zu sichern, darin besteht, andere Planeten zu kolonisieren.

Aufgrund der Bedrohung durch den Meteoriteneinschlag wird das internationale Raumfahrtprogramm stark beschleunigt. Die USA, in Zusammenarbeit mit anderen Nationen, gründet die „International Aerospace Coalition“ (IAC), eine Organisation, die das Ziel hat, den Mond und andere Planeten zu erreichen und zu besiedeln. Dieses Programm soll langfristig eine sichere Zuflucht für die Menschheit schaffen. Elma York, die Protagonistin der Geschichte, arbeitet zunächst als Rechnerin – eine „Computer" – bei der IAC. Ihre mathematischen Fähigkeiten sind wichtig für die Berechnungen, die die Missionen ins All ermöglichen.

Elma, die während des Zweiten Weltkriegs Pilotin war, träumt davon, selbst Astronautin zu werden. Doch in der von Männern dominierten Welt der 1950er Jahre stößt sie auf erhebliche Widerstände. Frauen werden in der IAC zwar als Rechnerinnen geschätzt, aber die Idee, dass eine Frau Astronautin werden könnte, wird von vielen belächelt oder als unsinnig abgetan. Elma muss sich gegen Vorurteile und Diskriminierung behaupten, um ihren Traum zu verwirklichen. So läuft sie gegen den entschlossenen Widerstand ihres früheren Vorgesetzten Colonel Parker, über den sie sich einst wegen sexueller Belästigung beschwerte, was dieser ihr nie verziehen hat. Doch auch weniger belastete Männer sind durch ihre Vorurteile und systemischen Sexismus beeinflusst und nehmen die Idee von Frauen im Weltraumprogramm nucht ernst.

Ein zentrales Thema des Romans ist die Diskriminierung, die Elma und andere Frauen in der Wissenschaft und Raumfahrt erfahren. Diese Diskriminierung ist nicht nur auf das Geschlecht beschränkt, sondern betrifft auch ethnische Minderheiten, die ebenfalls in der IAC unterrepräsentiert sind. Besonders hart trifft es schwarze Frauen, die trotz ihrer Kompetenz und Fachkenntnis ignoriert werden. Elma wird oft mit dem Spitznamen „Lady Astronaut“ verspottet, doch sie gibt nicht auf und setzt sich unermüdlich für die Anerkennung von Frauen in der Raumfahrt ein. Sie kämpft nicht nur gegen die Vorurteile ihrer männlichen Kollegen, sondern auch gegen ihre eigenen Unsicherheiten und Ängste. Dazu gehören auch offizielle Auftritte: eher zufällig und wider Willen wird Elma eines der Gesichter des Weltraumprogramms und erklärt im Fernsehen immer wieder die wissenschaftlichen Hintergründe. Die Öffentlichkeit kennt sie bald tatsächlich als "Lady Astronaut".

Elmas Beziehung zu ihrem Ehemann Nathaniel, einem leitenden Ingenieur bei der IAC, spielt ebenfalls eine wichtige Rolle in der Geschichte. Die beiden teilen nicht nur eine tiefe Liebe zueinander, sondern auch eine gemeinsame Leidenschaft für die Raumfahrt. Nathaniel unterstützt Elma in ihrem Bestreben, Astronautin zu werden, und ermutigt sie, ihre Träume trotz der Hindernisse zu verfolgen. Ihre Ehe wird jedoch auch auf die Probe gestellt, als Elma zunehmend ins Rampenlicht rückt und sich den Herausforderungen stellt, die mit ihrem öffentlichen Profil einhergehen.

Im Laufe des Romans gelingt es Elma, sich in der von Männern dominierten Raumfahrtwelt durchzusetzen. Ihre Fähigkeiten und ihr Wissen werden von ihren Kollegen und Vorgesetzten anerkannt, und schließlich erhält sie die Gelegenheit, am Astronautentraining teilzunehmen. Dabei muss sie nicht nur ihre körperlichen Fähigkeiten unter Beweis stellen, sondern auch psychische Belastungen und Vorurteile überwinden. Elma entwickelt sich von einer brillanten, aber zurückhaltenden Mathematikerin zu einer selbstbewussten und entschlossenen Frau, die bereit ist, für ihre Träume zu kämpfen.

Der Höhepunkt des Romans ist die Vorbereitung auf die erste bemannte Mondmission. Elma, die als eine der ersten Frauen für das Astronautenprogramm ausgewählt wird, steht vor der Herausforderung, nicht nur sich selbst, sondern auch die gesamte Menschheit zu repräsentieren. Die Mission hat nicht nur wissenschaftliche, sondern auch symbolische Bedeutung, da sie den Beginn einer neuen Ära in der Raumfahrt darstellt. Elma muss sich den physischen und emotionalen Herausforderungen des Raumflugs stellen, während sie gleichzeitig die Erwartungen einer ganzen Welt auf ihren Schultern trägt.

---

Wann immer jemand alternate history schreibt, ist die Logik der Welt etwas, das gerade ein Historiker wie ich mit besonderer Aufmerksamkeit betrachtet. Der Absprungpunkt hier liegt nur wenig nach dem Zweiten Weltkrieg, als aus weitgehend ungeklärten Gründen die USA den ersten Satelliten ins Weltall schießen und die UdSSR darin scheitert. Der zentrale Punkt aber ist offensichtlich der Einschlag des Meteoriten in der Chesepeake Bay, der nicht nur die Ostküste der USA auslöscht, sondern auch das weltweite Klima durcheinander bringt und damit den Impetus für die ganze Geschichte legt. Kowal ist allerdings wenig an den Konsequenzen dieser Entscheidung interessiert; sie schreibt keinen Politthriller, sondern braucht ein Setting, das eine drastische Beschleunigung der Weltraumerforschung erlaubt. Am Kalten Krieg hat Kowal ohnehin kein Interesse: die UdSSR lösen sich off-page in die heute bekannten Länder auf, die problemlos an der internationalen Kooperation teilnehmen. Wer also auf eine Fortsetzung des Kalten Kriegs mit anderen Mitteln gehofft hat, muss weiterhin Ronald D. Moores "For All Mankind" anschauen.

Das alles ist kein Manko, per se. Kowal vermeidet weitgehend die Falle, in die so viele Romane dieses Genres rutschen, indem sie einfach nur reale Geschehnisse parallelisiert und als plumpe Analogien wiederkäut. Der Verzicht darauf, abgesehen von einigen rudimentären und notwendigen Setzungen wie der Schaffung einer internationalen Raumfahrtbehörde, politische Ereignisse zu diskutieren, ist da vermutlich nur folgerichtig. Die Geschichte wird aus personaler Ich-Perspektive erzählt und gibt uns nichts als die Sicht Elma Yorks. In dieser Anlage ähnelt Kowals Werk der "Tribute von Panem"-Trilogie, ohne allerdings dasselbe Niveau an Figurentiefe zu erreichen. Elma ist keine Katniss. Glücklicherweise ist sie aber auch kein reines Gefäß für irgendwelche technische Exposition oder philosophischen Ergüsse. Wir haben es tatsächlich mit einer Science-Fiction-Geschichte zu tun, die glaubhafte und halbwegs interessante Charaktere mit einer Charakterentwicklung hat. Die Hürde hängt tief, aber immerhin nimmt Kowal sie.

Die personale Erzählperspektive passt gut zu der Zurückhaltung beim world building. Denn während Kowal wenig Interesse an den politischen Zusammenhängen hat, liegt ihr Schwerpunkt auf zwei anderen Feldern: einmal der technologischen Entwicklung und einmal den gesellschaftlichen Zwängen der 1950er Jahre. Die Setzung der Geschichte im Jahr 1952ff. markiert zwar eine subtile Änderung gegenüber der Hochphase des Space Race in den 1960er Jahren, aber die Unterschiede sind zwischen den Zeilen durchaus zu greifen, und Kowal nimmt sie sensibel auf. Der Feminismus ist noch überhaupt nicht aktiv. Die Bürgerrechtsbewegung ist als Thema noch praktisch nicht präsent. John F. Kennedys Jugendlichkeit liegt in weiter Ferne, ebenso Elvis Presley. Stattdessen leben die Charaktere in einem wesentlich konservativeren Amerika, in dem die WASPs das Sagen haben und das in klassischen Hierarchien arbeitet.

Entsprechend ist Elmas Reiben an diesen Strukturen auch immer gedämpft, weil sie selbst die Werte und Systeme nicht infragezustellen bereit ist, von denen sie geprägt wurde (ihre jüdische Südstaatenidentität fügt dem noch eine weitere Dimension hinzu). Erst langsam und Stück für Stück befreit sich Elma von den Zwängen, in denen sie aufgewachsen ist, und ist bereit, ihren eigenen Wert mehr anzuerkennen. Zu Beginn kommt sie nicht einmal auf die Idee, selbst Astronautin werden zu können. Die Vorstellung, dass irgendeine Frau ins All sollte, kommt erst mit der Zeit, und dass sie es selbst tun könnte, braucht noch viel mehr. Das Imposter-Syndrom ist nur schwer zu überwinden, und Kowal zeichnet es mit großer Empathie nach.

Die andere Seite dieser Medaille ist Elmas Ehemann Nathaniel. Würde man sich den perfekten Ehemann zusammenrühren wollen, käme wohl er heraus. Kompetent und in seinem Job etabliert und geschätzt respektiert und unterstützt er Elma permanent, fördert ihre Ambitionen und gibt ihr bedingungslose Liebe und Support. Man könnte sicherlich kritisieren, dass Nathaniel sowohl ein anachronistisches als auch unrealistisch perfektes Element im Charaktermix der Geschichte ist. Auf der einen Seite halte ich dem aber entgegen, dass es eine Freude ist, einmal einen solchen Charakter zu lesen, und auf der anderen Seite kommt er mir vor wie ein Gender-Swap des Modells der unterstützenden Ehefrau aus der Ära: letztlich ist es Nathaniel, der immer wieder seine eigenen Bedürfnisse hintenanstellt, um die Träume seiner Frau zu unterstützen; das einmal in dieser Geschlechterdynamik zu lesen, ohne dass es besonders betont wird, ist sehr erfrischend.

Der Roman kennt, ähnlich wie "The Martian", keine wirklichen Antagonisten. Parker, der Elmas Karriere zu blockieren versucht, kommt dem am nächsten, aber Kowals Realismus bei der Darstellung von Institutionen sorgt dafür, dass sein Einfluss notwendigerweise begrenzt bleiben muss. Es sind gesellschaftliche Kräfte im Hintergrund, die die Geschehnisse treiben. Elma reitet sie eher wie eine Welle als dass sie sie bestimmen würde. Auch das passt zum personalen Erzählausschnitt der Geschichte.

Es dürfte aus der Rezension deutlich geworden sein, dass ich die Lektüre des Buchs genossen habe. Für Interessierte des Genres kann ich den Roman daher völlig empfehlen. Man darf sich nur kein literarisches Feuerwerk erwarten; Kowals Schreibe ist komptent, aber nicht meisterhaft. Für einige unterhaltsame Stunden reicht es aber allemal.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.