Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Die Brandmauer wird zur Ruine
Der Artikel beschreibt die aktuellen Herausforderungen der CDU im Umgang mit der AfD auf kommunaler Ebene in Deutschland. Offiziell hält die CDU an ihrer "Brandmauer" fest, die jede Zusammenarbeit mit der AfD ablehnt, um ihre Glaubwürdigkeit und christdemokratischen Werte zu schützen. In der Praxis bröckelt diese Abgrenzung jedoch zunehmend, besonders in Ostdeutschland. In mehreren Kommunen wurden AfD-Kandidaten in Positionen gewählt, wobei Hinweise auf eine stillschweigende Unterstützung durch CDU-Abgeordnete bestehen. Parteichef Friedrich Merz hatte ursprünglich jede Zusammenarbeit ausgeschlossen, doch seine Aussagen und die Reaktionen der Landesverbände zeigen, dass die Grenzen zunehmend verschwimmen. Kritiker innerhalb der CDU fordern eine klare Haltung, da das Vorgehen auf kommunaler Ebene nicht nur der Partei, sondern auch dem Land schade. Es wird deutlich, dass die einst feste Abgrenzung zur AfD zunehmend erodiert und die Parteiführung unter Druck steht, eine klare Linie zu definieren. (Peter Maxwill/Ann-Katrin Müller/Jonas Schaible/Jean-Pierre Ziegler, Spiegel)
Es wird nicht mehr lange dauern, bis die CDU mit der AfD koaliert. In den Ostlandesverbänden ist das bereits jetzt der dringende Wunsch der Leute. Zu offenkundig sind die inhaltlichen Überlappungen. Das wird sich durch Torpfostenverschiebung immer weiter nach oben bewegen. Erst Zusammenarbeit in den Kommunen (bereits Realität), dann in den Kreisen (so gut wie), dann kommt es im Land (absehbar). Das einzige, was vermutlich vorerst halten wird, ist die Brandmauer im Bund. Gleichzeitig wird es auch zu Verschiebungen in der Horizontalen kommen: da wird dann nicht nur für den täglichen Verwaltungskram zusammengearbeitet, sondern auch bei den krasseren AfD-Vorhaben, etwa den klar rechtswidrigen Ankündigungen, geltende Gesetze (etwa den Verteilungsschlüssel) nicht einhalten zu wollen. Für die CDU ist das ein Riesenproblem, weil es die Partei zerreißen kann. Wenn eine CDU-AfD-Koalition in Thüringen etwa tatsächlich den Verteilungsschlüssel aussetzt - wird die Bundes-CDU dann zum Bundeszwang greifen? Oder wird sie den renitenten Landesverband decken? Solche Schritte werden es sein, die die Demokratie und den Rechtsstaat ernsthaft beschädigen.
Gleichzeitig steht die Partei natürlich in einem Dilemma. Sie ist neben Einiges Russland (AfD und BSW) die einzige relevante Partei im Osten. FDP und Grüne sind in vielen Landtagen nicht oder absehbar bald nicht mehr vertreten; der Liberalismus ist in den neuen Bundesländern damit praktisch tot. Die SPD ist in vielen Ländern marginalisiert. Eine Koalition ohne die AfD ist bereits schwierig; will man LINKE und BSW auch noch ausschließen, ist das manchmal schon arithmetisch nicht mehr möglich, manchmal politisch kaum durchführbar. Es wird sich zeigen, ob die aktuelle Annäherung zwischen CDU und BSW ein Alternativmodell sein könnte. Es ist quasi die Definition von "vom Regen in die Traufe", aber zumindest hat der BSW noch nicht angekündigt, die Verfassungsstruktur ins Wanken bringen zu wollen.
2) Steuererklärung in den Lehrplan? Klingt modern, ist aber vor allem ungebildet
Der Text argumentiert, dass die Entwertung von Bildung in der modernen Gesellschaft mit einer falschen Vorstellung von Gleichheit zusammenhängt. Wilhelm von Humboldt sah Bildung als den wahren Zweck des Menschen, doch heute wird sie oft als nutzlos betrachtet, wenn sie keinen direkten praktischen Nutzen hat. Diese Sichtweise führt dazu, dass nur noch "lebenspraktische" Inhalte gefordert werden, während klassische Bildungsinhalte wie Mathematik, Literatur oder Geschichte als irrelevant erscheinen. Der Autor betont, dass Bildung weit mehr ist als nur das Erlernen von nützlichen Fertigkeiten. Sie fördert Selbstbewusstsein und hilft dabei, die Welt zu verstehen. Die Tendenz, Bildung zu vereinfachen und Standards zu senken, führt laut dem Autor zu einer oberflächlichen Gleichheit, die das Leistungsprinzip und die individuelle Entwicklung untergräbt. Die Idee, dass jeder ungeachtet seines Wissens mitreden kann, sei ein Trugschluss, der letztlich zur "selbstverschuldeten Unmündigkeit" führe. Bildung, so der Autor, bedeutet nicht Gleichmacherei, sondern die Fähigkeit, sich selbst und die Welt zu erkennen. (Hanna Bethke, Welt)
Eine Grundregel für alle Bildungsdiskussionen, mit der ich eigentlich recht gut fahre: jede Forderung nach einem neuen Fach wird nicht ernstgenommen; jede Forderung, irgendwelche Allerweltsthemen in den Bildungsplan zu schreiben genausowenig. Die Idee von "Steuererklärung unterrichten" ist so eine, weswegen ich froh über Bethkes Intervention bin. Einfach einmal kurz ausbuchstabiert: wann genau lehre ich die Steuererklärung? Nehmen wir mal an, ich mache es in der Abschlussklasse. Da es nicht Prüfungsstoff ist, mache ich es nach den Prüfungen, wo die Aufmerksamkeit der Schüler*innen eher ausbaufähig ist. Die erste eigene Steuererklärung liegt noch weit in der Zukunft: die allermeisten Schüler*innen werden noch mehrere Jahre primären oder sekundären Bildungsweg anhängen. Da es Schüler*innen sind und die Steuererklärung ein rein theoretisches und wenig spannendes Thema ist, ist das für die genauso abstrakter Stoff wie der Aufbau einer Zelle oder die Gründung des Deutschen Reiches. Wenn sie es überhaupt lernen, ist es schnell wieder vergessen. Die Steuererklärung lernt man wie so vieles durch Praxis, wenn man sie braucht. Es ist die Aufgabe der Schule, den Schüler*innen das Rüstzeug zu geben, mit dem sie es dann schnell lernen können. DAS ist Bildung.
Gleichzeitig stimme ich Bethke auch beim notwendigen Wissen zu. Welches das genau ist, ist natürlich ein endloser Streitpunkt. Aber es ist in jedem Falle so, dass auch komplizierte, abstrakte und theoretische Inhalte großen Wert haben. Es ist übrigens auffällig, dass Forderungen wie "Steuererklärung unterrichten!" oft aus derselben Ecke kommen wie "unbedingt alle Faust lesen lassen!" Diese Imperative sich gegenseitig ausschließen entgeht denen meisten - wobei die Fordernden meist viel zu wenig Sachkenntnis haben um überhaupt zu bemerken warum ihre Forderungen unrealistisch sind.
3) Zwei jüdische Welten prallen aufeinander
Der Text beschreibt einen Konflikt innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, der durch die geplante Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille an Meron Mendel und seine Frau Saba-Nur Cheema ausgelöst wurde. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, kritisiert diese Entscheidung, da er Mendels Positionen als israelkritisch und von der Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft nicht getragen ansieht. Der Konflikt spiegelt tiefere Differenzen zwischen jüdischen Perspektiven wider: Mendel, der als Israeli mit direkter Erfahrung im Nahostkonflikt spricht, und Schuster, der als in Deutschland sozialisierter Jude die Bedeutung Israels als Zufluchtsort betont. Der Artikel thematisiert auch die unterschiedliche Wahrnehmung von Juden in der deutschen Öffentlichkeit, wo ihre Meinungsvielfalt oft als ungewöhnlich betrachtet wird, was auf tiefe historische Vorurteile zurückgeführt wird. Die Diskussion zeigt die Spannungen zwischen verschiedenen jüdischen Identitäten und deren Einfluss auf öffentliche Debatten. (Richard C. Schneider, Spiegel)
Ich finde den Artikel vor allem deswegen spannend, weil der Diskurs in der Öffentlichkeit meist viel zu reduziert ist: da wird gerne von "den Juden" gesprochen, oder doch zumindest "Israel". Zu ignorieren, dass letzteres Land eine Demokratie ist, in der es eine große und breite Opposition gibt, hat ja quasi Tradition. Da wird dann gerne ein Extremist wie Netanjahu als repräsentativ für eine ganze Bevölkerung angenommen, und die Bevölkerung dann gerne als identisch mit allen Juden weltweit. Auf der anderen Seite ist es schön zu sehen, dass natürlich auch in dem Bereich Leute versuchen, sich gegenseitig zu canceln. Die Mechanismen sind überall dieselben.
4) Nur auf die Grünen ist noch Verlass
Der Artikel behandelt die schwierige Lage der Grünen in Ostdeutschland, wo sie bei den Kommunalwahlen in vielen Regionen schwach abschneiden. Während die Grünen im Westen Deutschlands oft erfolgreich sind, haben sie im Osten deutlich weniger Rückhalt. Dies hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen, unter anderem mit der starken Präsenz der AfD, die in Ostdeutschland zunehmend an Einfluss gewinnt. Die Grünen hingegen scheitern oft an der 5-Prozent-Hürde und sind in vielen Kommunalvertretungen nicht vertreten. Der Artikel betont, dass die Grünen in Ostdeutschland kaum verlässliche politische Partner finden und es schwer haben, in der Region Fuß zu fassen. Zudem wird die Kluft zwischen Ost und West deutlich, sowohl in den Wahlergebnissen als auch in den politischen Einstellungen der Bevölkerung. Dies stellt die Partei vor große Herausforderungen und macht deutlich, wie unterschiedlich die politische Landschaft in den beiden Teilen Deutschlands ist. (Jasper von Altenbockum, FAZ)
Es ist eine der größten und faszinierendsten politischen Verschiebungen der letzten Jahre, dass die Fackel der Westbindung, NATO und des Transatlantizismus von der CDU zu den Grünen wandert. Der Prozess ist natürlich nicht gleichförmig: ein Friedrich Merz etwa ist weiterhin klassischer Transatlantiker, und bei den Grünen gibt es genug Restbestände aus der alten Friedensbewegung, deren reflexhafter Antiamerikanismus tief verhaftet ist. Aber die Bewegung ist unübersehbar: dank der Ostlandesverbände der CDU (siehe Fundstück 1) ist die Westbindung mittlerweile innerhalb der Partei effektiv umstritten. Das schlägt sich auf die Bundespolitik meist nicht so stark nieder, weil, wie diskutiert, die Länder da nichts zu sagen haben. Aber alleine die Meinungsumfragen im Osten mit ihren deutlich über zwei Dritteln Ablehnung von NATO und Westbindung sprechen eine deutliche Sprache. Von der SPD brauchen wir überhaupt nicht anfangen, die hatten mit dem Thema ja schon immer ihre liebe Not, und auch die FDP ist mittlerweile ein sehr unsicherer Kantonist, im Osten sowieso (wo sie da überhaupt noch existiert).
5) This is a misogyny emergency. A huge outpouring is coming in the runup to the US election
Der Artikel argumentiert, dass die US-Präsidentschaftswahl 2016, bei der Donald Trump gewann, einen beispiellosen Moment globaler Frauenfeindlichkeit darstellte, der weitgehend unbeachtet blieb und auch Jahre später kaum aufgearbeitet wurde. Die Autorin vertritt die Ansicht, dass soziale Medien mit ihrer enormen Reichweite und der Tendenz, hasserfüllte Inhalte zu verstärken, auf tief verwurzelte Frauenfeindlichkeit trafen und eine mächtige Kraft gegen Hillary Clinton erzeugten, die maßgeblich zu ihrer Niederlage beitrug. Dieses Ereignis habe gezeigt, wie Frauenfeindlichkeit, insbesondere in Kombination mit Rassismus, genutzt werden kann, um Frauen in Machtpositionen zu untergraben – wie es derzeit bei Kamala Harris geschieht. Der Artikel warnt vor der gefährlichen und allgegenwärtigen Natur der Frauenfeindlichkeit in der Politik und beschreibt sie als eine unsichtbare, aber tödliche Bedrohung für die Demokratie und die globale Sicherheit. Die Autorin fordert ein Bewusstsein und Handeln, um zu erkennen, dass Frauenfeindlichkeit nicht nur ein gesellschaftliches Problem, sondern eine entscheidende Bedrohung ist, die künftige Wahlen und die globale Stabilität beeinflussen könnte. (Carole Cadwalladr, The Guardian)
Wie ich in meiner Serie zu den Faktoren von Clintons Niederlage 2016 beschrieb, war Sexismus ein relevanter Effekt. Allerdings funktioniert er im Wahlkampf durchaus in beide Richtungen: wie Ariane und ich im Podcast diskutiert haben, ist die Krassheit der republikanischen Attacken und die Offenheit ihres Sexismus (und Rassismus) eine, die viele Menschen abstößt und auch einen gegenläufigen Mobilisierungseffekt hat. Aber: der grundsätzlich Punkt Cadwalladrs steht natürlich. Frauenfeindlichkeit ist weiterhin ein Problem, mit dem Frauen auf dem Weg in Führungspositionen viel zu kämpfen haben. Ich würde noch ergänzen wollen, dass es sich dabei um kein symmetrisches Problem von Männern vs. Frauen handelt. Viele Frauen leiden unter dem Imposter-Syndrom, und noch viel mehr Frauen ziehen ihre Geschlechtsgenossinnen mit aller Macht nach unten. Ich halte Frauen, die Frauen aufhalten, inzwischen für ein mindestens gleich großes Problem wie dass Männer das tun. Vom "sich zu wenig zutrauen" mal ganz abgesehen.
Resterampe
b) Völlig korrekt.
d) Zum Verhältnis von Klimabewegung und Grünen.
e) Wesentlich schlimmer als bei Biden, aber interessiert keine Sau.
h) Die Anti-Habeck-Kampagne der BILD in Zahlen.
i) Echt albern.
j) Wir machen unsere Zukunft völlig kaputt, aus reiner Ideologie und Unfähigkeit.
l) An den Rändern bricht leider der im letzten Vermischten gelobte demokratische Konsens immer wieder.
m) Typisch für Deutschland, aber besonders für die Bürgerlichen: Buschmann hat völlig Recht, dass nur mehr Wohnungen gegen höhere Mieten helfen. Aber seine Partei weigert sich, irgendetwas zu tun, damit sich der Zustand ändert.
Fertiggestellt am 13.08.2024
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