Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Wie Friedrich Merz die große Staatskrise ausrief
In dem Text wird beschrieben, wie Friedrich Merz, der CDU-Vorsitzende, nach einem Messerangriff in Solingen seine Position zur Migrationspolitik verschärft hat. Merz zeigt sich bei einer Rede in Dresden äußerst wütend und fordert einen Kurswechsel in der deutschen Migrationspolitik. Er kritisiert bestehende Regelungen, wie das Dublin-Abkommen, und erklärt, dass Deutschland seine Grenzen kontrollieren und den Zuzug stoppen müsse. Merz beschreibt die aktuelle Lage als eine nationale Krise, bei der die demokratischen Parteien das Vertrauen der Bürger verlieren. Er stellt fest, dass Migration das gesellschaftliche Zusammenleben erheblich belastet und die Schulen kaum noch in der Lage seien, ordentlichen Unterricht durchzuführen. Merz spricht von einem „Kontrollverlust“ der Regierung und fordert eine radikale Änderung der Migrationspolitik. Diese neue Rhetorik markiert einen Bruch mit der bisherigen Politik der CDU und könnte als Versuch gesehen werden, Wähler von der AfD zurückzugewinnen. Merz schlägt vor, das Dublin-Abkommen wieder strikt anzuwenden, was bedeutet, dass Flüchtlinge in den ersten EU-Staaten bleiben sollen, die sie betreten. Falls dies europarechtlich nicht durchsetzbar sei, müsse Deutschland eine nationale Notlage erklären und die Gesetze ändern. Die CDU bereitet sich darauf vor, in den anstehenden Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen von dieser neuen Strategie zu profitieren. Es gibt jedoch auch die Befürchtung, dass Merz durch die hohen Erwartungen, die er schürt, später scheitern könnte, wenn diese nicht erfüllt werden. Merz fordert Kanzler Scholz auf, Maßnahmen zur Änderung der Gesetze zu ergreifen, jedoch ist unklar, ob dies tatsächlich passieren wird. Der Text endet mit der Überlegung, dass die radikalen Maßnahmen, die Merz fordert, möglicherweise nicht umgesetzt werden und die Regierung noch ein weiteres Jahr weitermachen könnte, während die CDU die Ampelkoalition weiterhin für die vermeintliche Notlage verantwortlich macht. (Jonas Schaible, Spiegel)
Diese ganze Chose ist ein Trauerspiel. Ausnahmsweise bin ich mal bei Alexander Neubacher, der in seiner Kolumne "Lügner gegen Leugner" schreibt, dass letztlich beide Seiten keinen guten Umgang mit der Thematik pflegen. Ich verstehe auch besser als viele meiner progressiven Freunde, wie die CDU angesichts Klimakrise, Ukrainekrieg und Co ausgerechnet Migration zum entscheidenden und größten Thema und der "Mutter aller Probleme" erklären kann, ohne dass das Merz' oder Spahns völlig überzogene, apokalyptische Rhetorik rechtfertigen würde. Aber zweifellos war der Umgang mit dem Thema in der Vergangenheit nicht glücklich, ist Transparenz vermutlich im Sinne aller Beteiligten und ist die Stimmung in der breiten Mehrheit der Bevölkerung so, dass der Staat hier Handeln demonstrieren muss. Dass dabei nichts Sinnvolles herauskommt, vor allem mit der stupiden Abschieberhetorik - geschenkt. Aber es ist ein Thema, in dem es politisch nichts kostet, mit rhetorischen Extremen aufzutreten und wo Zustimmung geradezu garantiert ist. Nur wird auch Merz merken, dass diese Rhetorik nicht rechtsstaatlich folgbar ist. Und wir haben mindestens eine Partei in diesem Land, der diese Qualifikation egal ist.
Der Text beschreibt die dramatische Verschiebung der politischen Präferenzen der Arbeiterklasse in Deutschland, die sich zunehmend von der SPD ab- und der AfD zuwendet. Während die SPD historisch als Vertreterin der Arbeiter galt, zeigt die jüngste Europawahl, dass nur noch 12 Prozent der Arbeiter die SPD unterstützen, während 33 Prozent für die AfD stimmen. Diese Entwicklung spiegelt einen internationalen Trend wider, bei dem rechtspopulistische Parteien wie die FPÖ in Österreich und der Rassemblement National in Frankreich ähnliche Erfolge bei Arbeitern feiern. Die SPD, die einst eine dominierende Kraft in Ostdeutschland war, steht nun in Bundesländern wie Thüringen vor dem politischen Abgrund, wo sie in Umfragen nur noch knapp über der Fünf-Prozent-Hürde liegt. Der Verlust der Arbeiterschaft an die AfD wird als Ausdruck tiefer Enttäuschung und Frustration gedeutet. Historiker wie Jürgen Schmidt betonen, dass die Arbeiterbewegung immer stark von einem Gefühl der Ungleichheit und Ungerechtigkeit geprägt war, was heute zunehmend von der AfD ausgenutzt wird. Der Text beschreibt weiterhin, wie die SPD versucht, mit traditionellen Themen wie Mindestlohn und Renten im Wahlkampf zu punkten, aber viele Arbeiter diese Botschaften nicht mehr hören wollen. Kevin Kühnert, Generalsekretär der SPD, erkennt an, dass viele Menschen das Gefühl haben, dass Wahlentscheidungen keinen Unterschied mehr machen, was die SPD weiter schwächt. Der Soziologe Klaus Dörre weist darauf hin, dass viele Menschen in Ostdeutschland sich mehrfach abgewertet fühlen – als Arbeiter, als Ostdeutsche und als Männer – und daher empfänglich für die Anerkennung sind, die ihnen die AfD verspricht. Gewerkschaften sind laut Dörre die einzigen Organisationen, die noch einen Zugang zu diesen Arbeitern haben. Abschließend wird beschrieben, wie SPD-Mitglied Denny Möller Hoffnung aus seinen direkten Gesprächen mit Arbeitern schöpft, aber auch erkennt, dass die SPD möglicherweise erst wieder in die Opposition gehen muss, um das Vertrauen der Arbeiter zurückzugewinnen. Der Text endet mit der düsteren Aussicht, dass die SPD weiterhin an Einfluss verlieren könnte, während die AfD von der zunehmenden Entfremdung der Arbeiterklasse profitiert. (Ferdinand Otto, ZEIT)
Ohne Witz, ich habe das Gefühl, ich lese seit 2005 immer denselben Artikel. "Warum scheitert die SPD?" Allmählich wird es öde. Und die "Arbeiterklasse"? Die ist nicht die Basis der SPD seit den 1950er Jahren. Davon abgesehen wird "die Arbeiterklasse" ohnehin nur als Code verwendet, denn die ist weiß, männlich und biodeutsch. Dass das überhaupt nicht der real existierenden "Arbeiterklasse" entspricht, die überwiegend weiblich und migrantisch ist - geschenkt. Aber wer seine Analysen auf Narrativen aufbaut statt auf Wählendenanalysen, wird damit wenig sinnvolle zugänge produzieren können. Gleiches gilt für die fixe Idee der "Regeneration in der Opposition". Das wird nur dann etwas helfen, wenn da ein relevanter Wandel passiert, und das ist bei der SPD nicht absehbar, einmal davon abgesehen, dass sie wohl 2025 als Juniorpartner Friedrich Merz zum Kanzler machen wird.
3) Ich stimme ja zu, aber der Nachbar eben nicht… (tut er doch!)
Der Text thematisiert die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der eigenen Realität und der Einschätzung allgemeiner gesellschaftlicher Phänomene in Ostdeutschland, insbesondere im Vorfeld der anstehenden Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen. Eine Umfrage zeigt, dass viele Ostdeutsche die Demokratie als nur scheinbar existent betrachten und einen starken Führer bevorzugen, während sie gleichzeitig glauben, dass Ostdeutsche sich als Bürger zweiter Klasse fühlen, auch wenn sie dies selbst nicht so empfinden. Der Autor beleuchtet diese Widersprüche und weist darauf hin, dass sie oft auf verzerrten Wahrnehmungen beruhen. Beispielsweise wird die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft schlechter eingeschätzt als die eigene wirtschaftliche Situation. Diese Wahrnehmungskluft existiert auch in anderen Bereichen, wie etwa dem Klimaschutz, wo viele Menschen die Unterstützung für Klimaschutzmaßnahmen in der Bevölkerung unterschätzen. Der Text diskutiert weiter, wie Politiker diese verzerrten Wahrnehmungen oft falsch interpretieren und dabei die Wähler tendenziell konservativer einschätzen, als sie tatsächlich sind. Es wird betont, dass sowohl Umfragen als auch subjektive Eindrücke mit Vorsicht zu genießen sind. Der Autor plädiert dafür, dass Politik nicht nur den vermeintlichen Mehrheitswillen widerspiegeln sollte, sondern auch Raum für eigenständiges Denken und das Vertrauen in die Urteilsfähigkeit der Bürger lassen muss, um Zerrbilder und vereinfachte Karikaturen zu vermeiden. (Jonas Schaible, beimwort)
Diese Fehleinschätzungen, was andere Leute denken, sind eine absolut faszinierende psychologische Struktur im menschlichen Hirn. Dazu passt ja auch, dass irgendwie 80% der Autofahrenden sich als "überdurchschnittlich" einschätzen. Für mich passt der Artikel gut zu Fundstück 2, weil oft genug aus Basis solcher Verzerrungen und Annahmen reale Entscheidungen getroffen werden, anstatt sich entweder auf die eigene Urteilsfähigkeit zu verlassen oder tatsächliche Empirie zu befragen. Die im Text genannten Widersprüche hingegen, etwa zu glauben die Demokratie sei im Eimer und gleichzeitig einen starken Führer wünschen, sind effektiv keine. Man muss sich immer wieder klar machen, dass die meisten Leute Begriffe nicht so trennscharf benutzen. "Demokratie" ist dann genauso wie "die wirtschaftliche Lage" ein rein subjektives Kriterium: wenn es mir passt, ist es demokratisch, sonst nicht.
4) Eine unverschämte Offenbarung
Der Text beschreibt die ernste Lage innerhalb der aktuellen Ampelkoalition, wie sie im Sommerinterview des Grünenvorsitzenden Omid Nouripour offenbart wurde. Nouripour äußert, dass die Regierung als „Übergangskoalition“ nach der Ära Merkel fungiere und dass wesentliche Regierungsaufgaben wie Digitalisierung, Bildungs- und Verkehrspolitik in dieser Konstellation nicht ausreichend vorangebracht würden. Diese Aussagen wurden als schonungslose Selbstkritik und gleichzeitig als politisch bedenklich wahrgenommen. Der Text unterstreicht, dass die Mitglieder der Regierung verfassungsrechtlich verpflichtet sind, bis zum Ende ihrer Amtszeit mit voller Kraft zum Wohle des deutschen Volkes zu arbeiten. Die internen Konflikte der Ampelkoalition, wie sie etwa im Streit über die militärische Unterstützung der Ukraine deutlich werden, untergraben jedoch dieses Ziel. Insbesondere ein Brief von Finanzminister Christian Lindner, der auf finanzielle Einschränkungen bei der Ukrainehilfe hinwies, schürte Zweifel an der Verlässlichkeit der Regierung. Die Koalition, ursprünglich als Fortschrittskoalition gestartet, hat im Laufe der Zeit durch anhaltende Krisen ihre Einigkeit verloren. Der Text warnt, dass der fortwährende Streit und das Scheitern, gemeinsam an einem Strang zu ziehen, den Vertrauensverlust der Bürger in die Regierung weiter beschleunigen könnte. Wenn die Koalition ihre Konflikte nicht überwinden kann, wird nahegelegt, das Experiment der Ampelregierung vorzeitig zu beenden, um weiteren Schaden zu vermeiden. (Martin Knobbe, Spiegel)
Ich habe in den letzten Tagen Artikel gelesen, die sich darüber ärgern, dass Scholz keine öffentliche Selbstkritik übt, aber wenn dann jemand das macht, ist es eine Unverschämtheit. Dieses Spiel kann man nicht gewinnen, weswegen Scholz hier definitiv der Klügere ist. Aber die Grünen sind immer super dabei, sich selbst in den Fuß zu schießen und lernen, anders als die Democrats, einfach nicht aus ihren Fehlern. Dass die Koalition alle Hoffnungen enttäuscht hat, ist glaube ich wahrlich keine Offenbarung mehr, und dass sie sich zerstritten hat und nichts mehr zustandebringen wird auch nicht. Aber es ist Unfug, einen Koalitionsbruch zu fordern. Neuwahlen sind gerade nur für CDU und BSW vorteilhaft, und ein konstruktives Misstrauen zum Abwählen des eigenen Kanzlers Quatsch im Quadrat. Das wird sich bis 2025 weiterschleppen und dann kommt Friedrich Merz mit der SPD als geräuschlosem, loyalem Juniorpartner. Wie es die Deutschen lieben.
Der Text beleuchtet die Diskussionen und Herausforderungen rund um das Thema Gendern in der deutschen Sprache, insbesondere im Zusammenhang mit der jüngsten Entscheidung des Rats für deutsche Rechtschreibung, das Gendersternchen und ähnliche Sonderzeichen weiterhin zu beobachten, aber nicht in den offiziellen Kernbestand der deutschen Rechtschreibung aufzunehmen. Henning Lobin, Mitglied im Rat, betont, dass diese Entscheidung oft missverstanden wird und der Genderstern nicht verboten, sondern lediglich als nicht zum Kernbestand gehörig eingestuft wurde. Er spricht auch die extremen Reaktionen an, die von Zustimmung bis hin zu Morddrohungen reichen, was auf die starke Polarisierung des Themas hinweist. Annette Leßmöllmann und Olaf Kramer, beide Wissenschaftler im Bereich Wissenschaftskommunikation, diskutieren, warum das Thema Gendern in der Wissenschaftskommunikation wichtig, aber bisher unterrepräsentiert ist. Sie betonen, dass die Diskussion um das Gendern Teil größerer polariserender Debatten ist, die oft stark emotionalisiert und von Identitätsfragen überlagert werden. In ihrem Projekt „KoKoKom“ analysieren sie, wie polarisierende Kommunikation funktioniert und welche sprachlichen und rhetorischen Mittel dabei eine Rolle spielen. Ziel ist es, Kommunikationsstrategien zu entwickeln, die Polarisierung abbauen und den gesellschaftlichen Diskurs verbessern können. Ein wichtiger Aspekt ihres Projekts ist das Konzept der „Invitational Rhetorics“, das darauf abzielt, in Debatten verschiedene Perspektiven zuzulassen und dadurch die Diskussion zu deeskalieren. Sie plädieren dafür, dass Wissenschaftskommunikation nicht nur auf die Vermittlung von Fakten reduziert werden sollte, sondern auch auf die Förderung eines Verständnisses zwischen unterschiedlichen Standpunkten. Abschließend diskutieren die Wissenschaftler, wie sich ihre eigene Sprachverwendung im wissenschaftlichen Kontext verhält, und betonen, dass die Nutzung des Gendersterns nicht notwendigerweise eine ideologische Positionierung bedeutet, sondern vielmehr Teil eines bewussten Umgangs mit Sprache ist. Sie heben hervor, dass es in der Wissenschaft wichtig ist, einen distanzierten und reflektierten Blick auf die eigene Sprachpraxis zu wahren, um objektive Forschung zu gewährleisten. (Anna Henschel, Wissenschaftskommunikation)
Zwei Dinge wollen hier hervorgehoben werden. Erstens ist es unglaublich, dass Mitglieder des Rechtschreibrats Morddrohungen bekommen, weil ein paar rechte Kulturkrieger*innen ein Sternchen im Text sehen. Das ist auch so eine tickende Zeitbombe, und die ständige Hetze seitens des rechten und rechtsextremen Spektrums macht das nicht besser. Zweitens ist es morbide faszinierend, wie wenig von der Debatte überhaupt in irgendeiner Weise sprachwissenschaftlich unterfüttert ist. Aber das ist bei diesen moral panics und Kulturkämpfen leider immer so.
Resterampe
a) Super Thread zu unterschiedlichen Reaktionen auf Solingen.
b) The conservatives who turned to Trump.
d) In Memoriam: Alain Delon. Der Mann war schon Legende. Wusste gar nicht dass er noch lebt ehrlich gesagt...
e) Don’t touch Social Security.
f) Markus Söder: CSU-Chef will schwarz-grüne Bundesregierung verhindern. Was für eine Phantomdebatte.
g) Here’s how war in the Middle East ends.
h) The False Narrative of Settler Colonialism.
i) Relationen.
j) Polarisierung 1, Polarisierung 2.
k) Die Ökonomie von Libanon und Hisbollah.
Fertiggestellt am 28.08.2024
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