Freitag, 1. März 2013

Ich würde so gerne etwas tun, bitte zwing mich dazu!


Die USA hangeln sich von Haushaltskürzungsmechanismus zu Haushaltskürzungsmechanismus. Deutschland hat sich eine Schuldenbremse ins Grundgesetz geschrieben und führt den Kreuzzug des wahrlich Gerechten, um sie in ganz Europa einzuführen. Das Diktum der "Alternativlosigkeit" ist mittlerweile zu seiner eigenen Karikatur geworden. Die ungemeine Popularität dieser Art von Politik in den letzten zwei, drei Jahren hat aber handfeste Gründe, die in mehr als nur einer zynischen Einstellung der Politiker zu ihrem eigenen Geschäft beruhen. 

Die schwarz-gelbe Koalition wird allgemein als eine gescheiterte Unternehmung angesehen. Von den selbstgesetzten Zielen hat sie praktisch keine erreicht, und wenn sie einmal handelte, so erschien sie fast immer als von den Ereignissen und gesellschaftlichen Kräften getrieben - siehe Fukushima, siehe Mindestlohn, siehe Homo-Ehe. Allgemein wird dies als Versagen wahrgenommen, das der allenfalls mittelmäßigen Qualität der Politiker zuzuschreiben ist, die derzeit die Amtsstuben füllen. Während dies für einige sicher zutrifft, sind andere wesentlich geschickter, ohne aus diesem Verhaltensmuster herauszufallen. Woran liegt das? 

Die Wahrnehmung von Politik hat sich in den letzten Jahren entscheidend geändert. Das Diktum der Transparenz, das weniger von der Piratenpartei selbst eingeführt wurde als sie vielmehr beflügelte, hat praktisch alle Beobachter des politischen Prozesses, ob professionell (Journalisten) oder eher passiv (Bürger) erfasst. Und da das alte Diktum wahr bleibt, nachdem es zwei Dinge gibt, von denen niemand sehen will wie sie gemacht werden - Würste und Gesetze -, muss die Politik neue Verrenkungen eingehen, um ihr Handeln präsentabel zu machen. Während früher vieles in Hinterzimmern ausgehandelt wurde, gilt dies inzwischen als Ursünde der Politik. Es ist ein bisschen so wie die "Geheimdiplomatie", die durch den Ersten Weltkrieg so in Verruch geriet. 

Da notgedrungen viele Prozesse öffentlich stattfinden müssen oder doch zumindest an die Öffentlichkeit gezerrt werden, während gleichzeitig eine Art Rationalisierungsprozess stattfindet (man denke nur an Nate Silvers empirisch gestützte Wahlprognosemethode), schrecken immer mehr politische Akteure vor Entscheidungen zurück. Beispiele gefällig? 

Ein Paradebeispiel für den von außen auferlegten Handlungszwang ist Stuttgart21. Zwei Partner mit konträren Ideen gingen eine Koalition ein, ohne in der einen konträren Frage einen Kompromiss zu finden. Stattdessen ließen sie das Volk entscheiden, weil sie die Konsequenzen einer Entscheidung fürchteten. Weder wollte man den Ausstieg und die damit verbundenen Kosten verantworten noch die zahlreichen Gegner des Projekts enttäuschen. Man ließ sich also zu einer Entscheidung zwingen. 

Eine andere solche Variante ist die Schuldenbremse. Da das Parlament sich außerstande sah, eine eigenständige Entscheidung darüber zu treffen, wie Einnahmen und Ausgaben auf ein ähnliches Niveau gebraucht werden können, fesselten sie sich selbst durch das Grundgesetz um so einen künstlichen, juristischen Handlungszwang zu schaffen anstatt sich dem politischen zu ergeben. Auch hier erkennt man eine Flucht aus der Verantwortung durch die Politik, die stattdessen in die Hände des Bundesverfassungsgerichts gelegt wird. 

Ein dritter solcher Fall ist das Sequester in den USA, also die automatischen Haushaltskürzungen, die im Falle einer Nicht-Einigung des Kongresses in Kraft treten. Auch hier entziehen sich die politischen Akteure der Notwendigkeit eines Kompromisses, indem sie das Gesetz in die Verantwortung nehmen und sich zu einer unpopulären Maßnahme zwingen lassen. 

In einem vierten und letzten Beispiel können wir die griechische Regierung beobachten, die sich ebenfalls der Entscheidung entzogen hat, entweder die Konfrontation mit Deutschland zu suchen oder aber seine Auflagen für Hilfe zu erfüllen. Stattdessen ließ man die Sache so lange laufen, bis beide Seiten auf die Troika und damit eine weitere nicht durch Wahlen legitimierte Institution zurückgreifen konnten, die entsprechend auch keine Bestrafung durch den Wähler fürchten musste. 

Ich möchte hier keinesfalls nur einseitig mit dem Finger zeigen. Wenn es für die beteiligten Politiker noch irgendeines Beweises bedurft hätte, dass ihr Kurs weise war (weise, wenn man seinen Posten behalten möchte), dann reichte ein Blick nach Italien. Ungewöhnlich für den bisherigen Verlauf der Euro-Krise waren die Maßnahmen nämlich von jemandem durchgeführt worden, der sich tatsächlich der politischen Verantwortung stellte (und prompt mit desaströsem Ergebnis abgewählt wurde). Auch in den USA erfährt der republikanische Gouverneur von New Jersey, Chris Christie, gerade, welche Konsequenzen seine Kompromisspolitik mit Obama hat: Er wird von seinen Parteifreunden geradezu gemobbt.

Für die Politiker stellt sich die Lage relativ klar dar. Institutionen, die nicht demokratisch gewählt werden und relativ unabhängig sind - Verfassungsgerichte, Zentralbanken etc. - genießen ein geradezu irrational hohes Vertrauen und ebenso hohe Zustimmung, während die durch nie dagewesene Level an Transparenz kontrollierten demokratischen Institutionen auf einem absoluten Tiefpunkt angelangt sind. Der paradoxe Effekt ist eindeutig: Je mehr Transparenz in den politischen Prozess fließt und ihn öffentlich macht, desto abgeneigter sind die Bürger und desto weniger Vertrauen haben sie. Zu der Zeit, als noch praktisch alle großen Entscheidungen in Hinterzimmern ausgemacht wurden (niemand wäre auch nur auf die Idee gekommen, Willy Brandt zum Kandidaten zu wählen, das wurde ausgebrokert) war das Vertrauen ungleich höher. Die rationale Reaktion ist also, für die (transparenten) Entscheidungen nicht verantwortlich zu sein. Die Politik hat quasi die Flucht nach vorne angetreten. 

Die große Frage ist nun, ob wir es mit einer Zeit des Übergangs zu tun haben und die zu beobachtenden Effekte reine Reibungsverluste sind, oder ob das Transparenzversprechen inhärent fehlerhaft ist und dieser Effekt zwangsläufig hervorgerufen wird. Ich muss offen gestehen, dass ich es nicht weiß. Es gibt für beide Deutungen gute Argumente. Eines aber ist sicher: Der Effekt der Flucht aus der Verantwortung ist eindeutig und von Angela Merkel zur Perfektion getrieben worden, die einen eindeutig brillanten politischen Instinkt beweist. Die dominante Deutung, dass sie à la Kohl einfach alles aussitzt ist falsch. Diese Frau ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.

15 Kommentare:

  1. Ich würde zu den Beobachtungen hinzufügen, dass es bis jetzt keinen Politiker gab, der die politische Verantwortung übernommen hat und gleichzeitig konsequent eine Politik zum Wohle der Bevölkerung verfolgt hat.

    Es ist kein Wunder werden Politiker abgewählt, die politische Verantwortung übernehmen und gegen die Interessen der Bevölkerung regieren. Solange es aber niemandem mit einer echten Alternative gelingt, hinreichend medial wirksam seine Position zu vertreten, solange bleibt die Politiker, die sich der Verantwortung einfach entziehen, in einer labilen Gewinnerposition.

    Das extreme Risiko, das sie damit eingehen, ist das Erstarken von Rechtsstaats- und Demokratie-feindlichen Populisten. Im nächsten Land ist es nämlich vielleicht nicht ein Beppe Grillo, der nahezu aus dem Stand über 25% der Stimmen erhält.

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  2. Vielleicht sollten wir nach Lateinamerika blicken, da scheint das zu klappen. Correa, Morales, Kirchner, Chavez..

    Die tun genau das, was Nicolai gefordert hat. Und haben Erfolg.

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    1. Chavez zumindest hebelt den demokratischen Rechtsstaat aus und kann deswegen nur eingeschränkt als Beispiel dienen.

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  3. Es ist in der Politik nicht wie im richtigen Leben: Manchmal muss man zu seinem Glück gezwungen werden. Weil man es nicht selbst schafft, die gewonnene Einsicht in reales Handeln umzusetzen. Siehe Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Der Geist ist willig....

    Bei Umfragen gibt es große Zustimmung zu Themen wie Mindestlohn, Bankenregulierung, Umverteilung zugunsten von Bildung usw. In der Wahlkabine wirkt das nicht, noch nicht mal bei der Sonntagsfrage.

    Für mich ein Grund, das Demokratiekonzept der "Willensbildung von unten nach oben" zu überdenken. Vielleicht sind Schumpeter und Popper da doch näher an der Wirklichkeit.


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    1. Das interessante ist ja, dass die Politik selbst zwingt :)

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    2. Warum glauben Sie Umfragen eigentlich mehr als tatsächlichen Wahlergebnissen? Das "Phänomen", dass ein Einzelthema außerordentlich populär ist ohne dass die dies unterstützende Parteien an der Urne nutzen könnten, ist so als wie die Demokratie. Denn tatsächlich ist die repräsentative Wahl eine höchst komplexe Sache. Sie erwarten schließlich auch, dass Ihr Arbeitgeber bei der Bewertung Ihrer Leistung eine Abwägung vornimmt, die nicht nur seine eigenen Einstellungen widerspiegeln.

      Dreiviertel aller Grünwähler hatten sich 2009 für die Ökos entschieden, weil diese "für die Umwelt" sind. Jedes andere Thema zählte für die überwiegende Mehrheit der Grünenanhänger nicht. Finden Sie das besser?

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    3. Du hast definitiv Recht, was das Phänomen angeht. Ich sag das ja auch dauernd.

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    4. Du bist ja auch kein typischer Linker. ;-)

      Tatsächlich lese ich eigentlich nur in linken Blogs, dass der Wähler einfach zu dumm sei, seine Interessen wahrzunehmen. Schließlich ist richtig das, wofür man selber steht. Der Respekt vor einem demokratischen Votum geht vielen leider ab.

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    5. @ In Dubio. Rationales Abwägen bei der Wahlentscheidung (oder auch nur bei der Sonntagsfrage) ist mE die Ausnahme. Gefühle und Loyalitäten spielen sicher die größere Rolle.

      Der eingeforderte Respekt vor der anderen Meinung/Einstellung wäre dann gerechtfertigt, wenn alle Bürger die gleichen Voraussetzungen hätten: Informationen, Urteilsfähigkeit durch Bildung usw.). Die schlimmen Linken kritisieren eben das.

      @ Ariane
      Konfliktfähigkeit kann man auch übertreiben, wie die USA derzeit eindrucksvoll vorführen. Wenn die demokratische Auseinandersetzung keine Lösung findet, bringt die Entscheidung einer übergeordneten Instanz Erleichterung. Lieber ein Ende mit Schrecken (für die unterlegene Seite) ....
      (Gilt auch für S21 - der Volksentscheid hätte den Gordischen Knoten nur durchschlagen können mit Fair Play und Ehrlichkeit).

      Das ist ja Stefans These. Demokratietheoretisch nicht korrekt, aber lebensnah.

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    6. @CitizenK

      Also kann es nie Respekt geben? Eine sehr steile These.

      Die Biologie hat den Menschen mit guten Sensoren ausgestattet, wer ihm wohlgesonnen ist. Von daher sind Gefühl und Loyalität nicht die schlechtesten Kriterien bei einer Wahlentscheidung.

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  4. Ein Paradebeispiel für den von außen auferlegten Handlungszwang ist Stuttgart21. Zwei Partner mit konträren Ideen gingen eine Koalition ein, ohne in der einen konträren Frage einen Kompromiss zu finden.

    Darf ich mal höflich anfragen, wie so etwas aussehen soll, ein Kompromiss bei S21? Der Bahnhof wird nur halb gebaut? 2 Gleise oben, 2 Gleise unten?

    Für beide Seiten war Grün-Rot keine Wunschkonstellation. (Beide stehen in BW der CDU näher als dem jetzigen Partner.) Die Volksbefragung - die ja nur möglich war, weil die baden-württembergische Verfassung eine sehr seltsame Bestimmung enthält - war kein feiger Ausweg, sie hat den gordischen Knoten durchschlagen. Sie hat beiden Seiten die Möglichkeit gegeben, gesichtswahrend ihre Position zu verlassen. (Auch die SPD hätte es akzeptiert, wenn es umgekehrt gewesen wäre.)

    Beispiel 1 ist für mich kein Beispiel für das Versagen der Politik, sondern es zeigt, zu welchen respektablen Leistungen Politik imstande ist, wenn sich die Beteiligten zusammenreißen.

    (NB: Ich weiß nicht, ob Ihnen klar ist, mit welchem Fanatismus Minderheiten beider Seiten noch heute ihre Positionen vertreten. Ich bewundere Kretschmann und Schmid jedesmal, wenn ich sehe, wie die das im Griff behalten.)

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  5. Hm, ich hab oft eher das Gefühl, dass das Problem ein gravierender Mangel an Konfliktfähigkeit ist und sowohl Politik als auch Bürger zufrieden damit sind, das wegzuschieben oder auszulagern.
    Die Politiker merken, dass Ihr Handeln nicht so gut ankommt und lagern zb Entscheidungen ans Bundesverfassungsgericht aus und die Bürger finden das toll, weil sie (warum auch immer) meinen, das Gericht kann das alles viel besser. In meinen Augen widerspricht das eigentlich dem gesteigerten Transparanz- und Demokratiewunsch und trotzdem sind die meisten zufrieden damit, das ist doch eigentlich total absurd. Und hier meine ich, dass vielleicht eine Konfliktmüdigkeit dahintersteckt und statt Themen zu debattieren und auszufechten und auch mit unliebsamen Entscheidungen zu leben und stattdessen gehen Politiker und Bürger gemeinsam den Weg, den mühsamen Kram an eine höhere Instanz abzuschieben, die wirds schon richten.

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  6. Wenn der Autopilot regiert - http://www.sueddeutsche.de/politik/drastische-haushaltskuerzungen-in-den-usa-wenn-der-autopilot-regiert-1.1613708

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  7. Gut beschrieben worum es bei diesem Kürzungsdingens in den USA wirklich geht. Wiederwahl. Lässt sich übrigens auf Gerrymandering zurückführen ;)
    http://capitalgainsandgames.com/blog/stan-collender/2719/why-sequester-really-happened-hint-it-has-nothing-do-deficit

    Nochmal bzgl. Gerrymandering:
    http://election.princeton.edu/2013/02/03/slaying-the-gerrymander/

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