Dienstag, 5. März 2013

Die Zukunft der EU: Don't Mention the War

Von Theophil (@stheophil)

Die Idee eines friedlichen Europas genügt schon lange nicht mehr als Begründung weiterer politischer Einigung. Wenn Europa nicht den Europäern dient, dann muss es scheitern. Dafür müssen Deutschland und Frankreich verbal abrüsten und zu einem nüchternen Eigeninteresse finden. Dann ließe sich die Europäische Union gemeinsam mit Großbritannien auf eine neue, solide Basis stellen, die ein weiteres Zusammenwachsen der Europäer erst ermöglicht.

Die zukünftige Entwicklung der Europäischen Union ist von weltpolitischer Bedeutung. Nicht weil Europa der Nabel der Welt wäre, sondern weil die Welt wirtschaftlich zusammenwächst, die globale Ungleichheit zu sinken beginnt. In Zukunft werden mehr Länder mit geteilter Geschichte vor der Frage stehen, wie sie wirtschaftlich zusammenwachsen können, und ob die wirtschaftliche und gesellschaftliche Integration auch eine Integration der politischen Institutionen nach sich ziehen soll.

Können sich souveräne Staaten ohne Krieg, Bürgerkrieg und Revolution aus freien Stücken zusammenschließen? Stärkt das den Wohlstand, stärkt es die Demokratie? Ab welchem Grad der Integration und Harmonisierung übersteigen die Kosten den Nutzen und das Zusammengehörigkeitsgefühl?

So lange die Europäische Union Agrarsubventionen verteilte und Investitionen in die Infrastruktur förderte, blieben die Kosten für die reicheren Mitgliedsstaaten überschaubar. Mit der Einführung des Euro und seiner im Nachhinein zu erwartenden Krise reizen die Kosten des Einigungsprojekts zum ersten Mal die Belastbarkeit der europäischen Idee aus. Europa steht an einer Wegscheide, wie die USA im 19. Jahrhundert: Mehr Souveränität für die Staaten oder eine Union, ewig und unteilbar.

David Cameron stellte sich in seiner Rede deutlich auf die Seite derer, die eine Rückkehr von Souveränität an die Nationalstaaten fordern. Laut Cameron müsse das europäische Projekt den Europäern dienen, ihrem Wohlstand und ihrer Freiheit. Eine Einigung der Einigung wegen sei mit  Großbritannien nicht zu machen. Die Quelle des europäischen Wohlstands sei der einheitliche europäische Markt, die Freizügigkeit von Arbeit, Gütern, Dienstleistungen und Kapital.

In seiner Rede erweckt David Cameron den Eindruck, die Schaffung und Erhaltung dieses einheitlichen Binnenmarktes sei ein einfaches, vielleicht technisches Problem. Jedenfalls ein Problem, dass "weniger Europa" benötige, vielleicht sogar weniger europäische Institutionen und ganz sicher weniger Regulierung. Daran muss man zweifeln, wenn man sich vor Augen führt, was der einheitliche Binnenmarkt in jedem Bereich bedeutet: 

  •  Jedes in einem EU Land nach geltenden Vorschriften produzierte Gut, darf in der gesamten EU verkauft werden. Das erfordert notwendigerweise eine Harmonisierung der Regulierungen erlaubter Produktionsmittel und Inhaltsstoffe. Hier die Liste europäischer Vorschriften, die das Fürstentum Liechtenstein übernommen hat, um Teil des europäischen Wirtschaftsraums zu sein. 
  • Wer in mehren EU Ländern gearbeitet hat, in einem anderen Land wohnt als er arbeitet oder sich in einem weiteren Land zur Ruhe setzt, der beansprucht u.U. die Sozialsysteme verschiedener Länder. Insbesondere bezieht er Leistungen nicht in dem Land, in dem er Ansprüche erworben hat.  
  • Wenn die Europäer häufiger zwischen verschiedenen EU Staaten umziehen, werden auch andere Gesetze und Vorschriften relevant: Nach welchem Recht werden Ehescheidungen vollzogen, wer entscheidet über das Sorgerecht? 
  • Die Freizügigkeit von Kapital ist vielleicht primär eine technische Frage, aber solange Investitionen einem Wechselkursrisiko ausgesetzt sind bzw waren, ist eine echte Integration unwahrscheinlich.
  • Die Freizügigkeit von Dienstleistungen wird durch nationale Regulierungen des wichtigsten Wirtschaftssektors begrenzt. Insbesondere auch in Deutschland. 
Welche politischen Institutionen bräuchte eine Europäische Union, die primär den freien Handel zwischen ihren Mitgliedsstaaten sichern sollte? Braucht es dafür ein europäisches Parlament, so imperfekt es auch ist, oder reichen zwischenstaatliche Institutionen? Denken wir an die Bereiche unseres Lebens, in denen nachwievor nationale Regelungen vorherrschen: Ist der Bahnverkehr zwischen europäischen Ländern wirklich integriert? Gelten die Verwertungsrechte für Filme & Musik europaweit? Werden immernoch Roaminggebühren für Gespräche zwischen verschiedenen europäischen Ländern berechnet? 

Das sind "nur" rechtliche Probleme. Wie schwierig war dagegen die Integration der bulgarischen und rumänischen EU Bürger in den europäischen Arbeitsmarkt? Wieviele Mitgliedsländer zweifelten plötzlich an einer zu großzügig verstandenen Freizügigkeit von Arbeitnehmern? 

Diese Beispiele zeigen, dass schon die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarkts Europa so tiefgreifend verändert, dass es ohne gemeinsame politische Institutionen nicht geht. Insbesondere nicht ohne ein Parlament, das die europäischen Bürger direkt repräsentiert.

Kann sich die Europäische Union auf die Schaffung dieses Binnenmarktes zurückziehen oder hat Europa eine politische Mission? David Cameron schien zu meinen, die Europäische Union sei ein Zusammenschluss gefestigter liberaler Demokratien mit langer rechtsstaatlicher Tradition, denen die Union nicht in ihre inneren Angelegenheiten pfuschen müsse. Aber das war die Europäische Gemeinschaft nicht als sie mit Deutschland und Italien gegründet wurde, das war sie nicht als sie Spanien, Portugal und Griechenland aufnahm, das ist sie heute mit Ungarn nicht, und das wird sie morgen mit Kroatien, Serbien, Mazedonien und der Türkei nicht sein.

Aber sichert Europa Demokratie und Rechtsstaat wenn sie die maximal erlaubte Arbeitszeit englischer Krankenschwestern vorschreibt? Die maximalen Lärmwerte von Autobahnen? Oder schützen die westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten sich so vor der Konkurrenz durch den gemeinsamen Binnenmarkt? 

Es ist höchste Zeit für ein europäisches Abrüstungsprojekt, höchste Zeit für die Abrüstung unseres Arsenals großer Metaphern. Der Krieg ist vorbei. Das ist er spätestens seit 1989. Mit uns postmodernen und postheroischen Hedonisten ist kein Krieg zu machen. Die europäische Einigung war ein politisches Projekt und ist zu einem wirtschaftlichen geworden. Das ist eine gute Entwicklung denn sie bedeutet, dass jetzt ein einiges Europa von unten wachsen kann. 

Je mehr Europa die Europäer leben, desto mehr wächst das Bewusstsein für europaweite Probleme und daraus erwächst eine europäische Öffentlichkeit. Die Europäische Union sollte ihre unbestrittenen Erfolge jetzt sichern und sich eine neue Verfassung geben. Analog zur Verfassung der USA sollte die europäische Verfassung die Zuständigkeiten der europäischen Ebene einzeln aufzählen. Die Europäische Union sollte sich beschränken auf die Garantie weniger elementarer Grundrechte, die Regelung des innereuropäischen Handels, der Außenzölle, des Wettbewerbs -- also auf die Sicherung des Binnenmarkts -- und auf die gemeinsame Fischereipolitik. 

Das verlangt von den kontinentaleuropäischen Staaten, dass sie sich von fehlgeleiteten Ideen über ihre eigenen Interessen lösen. Frankreich von der Idee, Deutschlands Hegemonie in Europa einzuhegen. Deutschland von der Idee, nur innerhalb einer politischen Union eine internationale Rolle spielen zu dürfen, und beide von der Idee, ihre sozialstaatlichen Ideale zu einer europäischen Norm zu erklären. 

9 Kommentare:

  1. Off Topic

    Hallo,

    ich möchte auf diesen Text über den Zusammenhang einer asozialen (neoliberalen) Politik und feministischer Politik aufmerksam machen, den ich jedem Linken ans Herz legen:

    http://www.genderama.blogspot.de/2013/03/gastbeitrag-links-feministisch-vom-sinn.html

    Ich bitte um Weiterverbreitung.

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  2. Und prompt liefert die EU Kommission wieder eine Steilvorlage mit dem Grundrecht auf ein Girokonto

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  3. Da der Gedanke eines friedlich geeinten Europas seit Jahrzehnten zunehmend von neoliberalen Ideologen zwecks rein wirtschaftlicher Interessen gekapert wurde, handelt es sich bei der EU nur noch um ein weiteres Projekt zu Umverteilung von Ressourcen jenseits von Staaten und ihren Steuern. Und da machen weder Frankreich noch Großbritannien wohl noch lange mit, und das ist gut so.

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    1. Die EU ist mehr als ein neoliberaler Wirtschaftszusammenschluss, sie verhindert auch Kriege zwischen den europäischen Ländern und "zwingt" die Staaten dazu Kopromisse für die Zukunft Europas zu finden. Außerdem müssen sich die Länder, die in den Staatenbund EU eingetreten sind, in Zeiten wirtschaftlicher Notlagen solidarisch beistehen, und das ist wichtig, nur so funktioniert die europäische Gesellschaft.

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  4. Dagegen steht ja der derzeit dominierende kontinentaleuropäische Diskurs, den Sloterdijk kürzlich die "Flucht nach vorn" nannte, d. h. das Plädoyer für "mehr" Europa. Wenn ich Sloterdijk richtig verstanden habe, ist diese Flucht in die Vision eher einer Ohnmacht geschuldet, den Status quo zu handhaben. Stattdessen werden neue, politische Institutionen erwogen, die eher zentralistisch (vor allem aber nicht demokratisch) agieren. Passend dazu neulich die Revitalisierung der Idee der "Vereinigten Staaten von Europa".

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    1. Ich sehe die "Flucht nach vorn" eher als ein Ergebnis der Euro-Einführung, weniger als eine Entwicklung der EU selbst. Da ist sie (leider) auch konsequent. Es gibt nur gar keine Währungsunion oder eine vollständige Währungsunion inkl gemeinsamer Institutionen.

      Unter dem jetzigen Druck müssen schnell Entscheidungen getroffen werden, die besser mehr Zeit hätten. Die beste Lösung, den Euro gar nciht erst eingeführt zu haben, steht uns leider nicht mehr zur Verfügung.

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  5. Gutes Plädoyer für ein striktes Subsidiaritätsprinzip. Leider liegt bei diesen Themen häufig der Teufel im Detail. Wie auch beim Steuerrecht können sich alle einig sein, dass eine Vereinfachung sinnvoll ist. Über die konkrete Umsetzung ist dann aber doch keine Einigung möglich, weil sich die Partikularinteressen gegenseitig blockieren. Wer ist z. B. dafür zuständig, ob Roaming-Entgelte oder Überweisungs-Gebühren innerhalb der EU zulässig sind? Sind das Themen, die den gemeinsamen Binnenmarkt betreffen? Oder warum sollen Fischereirechte europäisch gestaltet werden, Umweltschutz-Bestimmungen aber nicht?

    Wie sähe also der Anfang eine erfolgreichen Initiative aus? Deutschland setzt sich mit GB und NL zusammen und erarbeitet einen Vorschlag?

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    1. Das Argument für die Fischereirechte ist das wir die Meere teilen, das hat per se nichts mit dem Binnenmarkt zu tun sondern nur mit der Tragedy of the Commons. Im Gegensatz zu gemeinsamer Agrarpolitik.

      Wenn man sich auf eine Verfassung mit enumerierten Kompetenzen einigen könnte (ein großes Wenn), wäre es sicherlich immer noch Sache des europäischen "Verfassungs"gerichts, die Zuständigkeit genau zu bestimmen. Wie in den USA auch. Man sieht in den USA allerdings auch, wie weit sich die Commerce Clause dehnen lässt. Auch jetzt entscheidet der EUGH über die Zuständigkeit der europäischen Ebene.

      Jede Regelung wie eben Roaming-Gebühren in denen Kunden nach Herkunftsland unterschieden würden, wäre sicherlich unzulässig. Auch nationale Verwertungsrechte für Musik, Film etc gingen per Definition nicht.

      In der Praxis käme es auch darauf an, welcher Verfassungsgeist im obersten Gericht weht. Auch das ist in den USA ja nicht anders.

      Umweltschutz würde ich von Lebensmittelsicherheit unterscheiden. Handelbare Güter müssen natürlich in der ganzen Union die gleichen Mindeststandards erfüllen.

      Der Punkt, dass der Teufel im Detail steckt, ist natürlich absolut richtig. Der jetzige Zustand ist ja auch nicht durch Zufall erreicht worden, sondern weil eine europa-weite Regulierung eben im Interesse derjenigen ist, die aktuell die strengste Regulierung haben.

      Wie sähe der Anfang so einer Initiative aus? Man erklärt sie als alternativlos, ist doch klar ;-)

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