Das Grundgesetz ist dieses Jahr 60 Jahre alt geworden. Für viele Persönlichkeiten besonders der Politik war dies ein Grund zu feiern und die Überlegenheit dieses unseres Systems herauszustellen. Zu den Feierlichkeiten fanden sich genügend Menschen ein, die das Grundgesetz, auf dem unsere Demokratie fußt, sicherlich nicht eingeladen hätte. Welches Vergewaltigungsopfer lädt schon seine Täter? Diese Fragen rücken aber in die Ferne. In dem vorliegenden Buch, für das sich das FDP-Urgestein Hildegard Hamm-Brücher verantwortlich zeigt, die die Republik aktiv von 1949 bis 1994 begleitet hat (im letzten Jahr als Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten, das dann Roman Herzog errungen hatte), kommen Zeitzeugen der demokratischen Entwicklung zu Wort.
Die erste dieser Zeitzeugen ist dabei Hamm-Brücher selbst, die in einem sehr langen Beitrag die Geburtswehen der Bundesrepublik beschreibt und anhand ihres Beispiels, wie schwierig es damals für Frauen war, an der politischen Gestaltung Anteil zu haben. Doch ihre Beschreibung hört in den Trümmerjahren der Republik längst nicht auf. Die Zeit der 1960er Jahre mit der Großen Koalition und dem folgenden Machtwechsel zu Willy Brand, der Reinigung der FDP von den damals noch in Hülle und Fülle vorhandenen rechten und rechtsradikalen, häufig antisemitischen Elementen, ihr programmatischer Schwenk mit den Freiburger Thesen 1971 und letztlich der Verrat von 1982, den sie opponierte und letztlich dann doch mitmachte. Hamm-Brücher hat genügend Abstand zum Tagesgeschäft, als dass sie glaubwürdig darüber schweben und sich Gedanken allgemeiner Art machen kann.
Gleiches kann man beispielsweise von Egon Bahr behaupten. Bahr war Mitarchitekt der Ostverträge, Direkter des RIAS und hat von daher die Teilung hautnah erlebt und kann viel von dem berichten, was in den 1960er und 1970er Jahren zu ihrer Überwindung getan wurde. War Hamm-Brüchers Blick noch hauptsächlich auf die Innenpolitik konzentriert, widmet sich Egon Bahr mehr der Außenpolitik im Spannungsfeld zwischen Fremdbestimmung und Souveräntität.
Weitere Autoren, die mit größerer Distanz zu ihrem Wirken schreiben und dabei natürlich auch versuchen, am eigenen Mythos zu stricken, sind Hans-Dietrich Genscher und Jutta Limbach, die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. Sie haben sich zweifellos Verdienste erworben und wissen es auch, in deren Licht zu argumentieren. Daran ist nichts Verwerfliches, ihre Ansichten sind interessant.
Eine jüngere Generation findet Repräsentation in Franziska Augstein und Norbert Frei. Erstere ist als Journalistin schon häufig positiv aufgefallen und schreibt scharfsinnig; Frei ist Historiker, der mir bis zur Lektüre des Buchs nicht bekannt war und mit dem ich mich zu beschäftigen auch nach der Lektüre keinen besonderen Drang verspüre. Zu flach seine Thesen, zu wenig historisch fundiert sondern durch seine eigenen tagespolitischen Überzeugungen geprägt bewegt er sich in einem schwammigen Graubereich, aus dem herauszumanövrieren ihm nicht gelingt und weswegen er zur Erhellung des Lesers nicht beizutragen weiß.
Problematisch wird das Buch dann wenn Autoren zu Wort kommen, die den Dunstkreis der gerade jetzt äußerst kontroversen Tagespolitik noch nicht verlassen haben und deswegen versuchen, die Geschichte stark in ihrem Sinne zu schreiben, Geschichte zudem, die von echten Historikern bisher noch unbeührt ist, da die Erfahrungen deutlich zu frisch sind. Dazu gehören Kurt Biedenkopf, der glaubt, Soziale Marktwirtschaft im Sinne der Neoliberalen neu definieren zu müssen, dazu gehört Horst Köhler, der an seiner eigenen Legende strickt, dazu gehört Joachim Gauck, der die Geschichte der DDR im Alleingang zu schreiben versucht und seiner Nachfolgerin Birthler Schützenhilfe gibt.
Besonders diese letzten Aspekte sorgen für einen düster-ambivalenten Gesamteindruck des Buchs. Aufrechte Demokraten sind es leider nicht immer, die hier zu Wort kommen, das kann man Biedenkopf und Konsorten beileibe nicht zugutehalten. Auch wird der Titel „Demokratie, das sind wir alle“ nicht wirklich einbezogen: Zeitzeugen plaudern mit unterschiedlicher moralischer Intention über ihre Zeit, aber sind wir das alle? Ist das Demokratie? Solche Fragen werden leider nicht beantwortet, weswegen der Wert des Buches ein halbierter bleiben muss.
In der Tat eine gorße DAME DER DEUTSCHEN POLITIK und davon gibt einige aber, nicht allzu viele.
AntwortenLöschenHildegard Hamm-Brücher war es und ist es.
Auch wenn ihre Ansichten über die heutige Bundeskanzlerin nicht teile, aber so denkt nun einmal eine "Nonkonformistin". Chapeau!
Aus einem "Tagesspiegel"-Interview" sei hier zitiert:
Der schlimmste Moment Ihrer Laufbahn?
Das Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt im Herbst 1982. Einen so tüchtigen und erfolgreichen Kanzler abzuwählen, ich konnte es nicht fassen. Er hatte kurz zuvor noch eine Koalitionsaussage für vier Jahre Schmidt-Genscher gemacht, deswegen stellte es sich für mich wie einen Betrug am Wähler dar – bloß, weil man Kohl wollte. Nach meiner Rede …
… in der Sie Ihre Parteifreunde beschworen, Kohl nicht zum Kanzler zu machen …
… geriet ich in eine Art liberalen Strafvollzug. Ich hatte die Fraktion brüskiert, viele Jahre saß ich in keinem Ausschuss, durfte nicht reden.
Viele Ihrer damaligen Kollegen wechselten in die SPD. Warum nicht Sie?
Ich wollte bleiben und der Partei ein ungemütliches Leben machen. Es wurde dann auch ein ganz und gar unerfreuliches Verhältnis.
Haben Sie Verständnis für Dagmar Metzger, die sich 2008 aus Gewissensgründen gegen die Wahl Andrea Ypsilantis zur hessischen Ministerpräsidentin aussprach?
Ja. Die Freiheit, in wichtigen Fragen von der Parteilinie abzuweichen, muss gegeben sein. Der Abgeordnete ist nur seinem Gewissen verpflichtet. Ich habe große Sympathien für Frau Metzger.
Ausgerechnet Guido Westerwelle hat Sie nach Ihrem „liberalen Strafvollzug“ auf dem Bundesparteitag 1996 wieder für das Präsidium vorgeschlagen.
Das war natürlich toll. Trotzdem habe ich später vergeblich versucht, ihn darauf aufmerksam zu machen, was er da an seinem Busen nährt.
Sie meinen Jürgen Möllemann?
Ja, Möllemanns antiisraelisches Weltbild, aber auch das einfach nur blöde Projekt 18. 54 Jahre lang hatte ich mit der FDP gelebt, aber nun war das Fass übergelaufen. Westerwelle hat bei aller Begabung nicht gewusst, wo die Grenzen sind. Am Wahlsonntag 2003 habe ich um 12 Uhr meine Austrittserklärung in den Briefkasten geworfen.
Haben Sie Ihren Austritt schon mal bereut?
Nicht eine Sekunde.
Noch kurz zu zwei 90. Geburtstagen: Helmut Schmidt hat ihn im vergangenen Dezember gefeiert. Was sagen die wochenlangen Schmidt-Festspiele über die Gegenwart?
Er war ein Vertrauen erweckender und konsequenter Politiker, der ein Gespür für Verantwortlichkeit und Anstand hatte. Wahrscheinlich fördert es die Verdrossenheit, dass die Politiker heute Teil eines riesigen, teuren Apparates sind – mit Internetseiten und allem drum und dran.
Ehrlich, solch Interviews sind mehr als lesenswert. Leider in der heutigen Zeit kaum noch führbar, mangels Ansprechpartner.
Einen kleinen Ausschnit aus diesem Interview kann ich und will ich mir nicht verkneifen und so manche weibliche Leserin sollte aufmerksam lesen:
Sie haben nie Frauenpolitik gemacht.
Weil alle Politik Frauenpolitik ist. Ich hätte nie eine fanatische Feministin sein können, für solche Kinkerlitzchen hatte ich keine Zeit. Mit Alice Schwarzer hatte ich mir auch nie viel zu sagen. Diese Jahre, in der die Frauen einfach nur rummotzten und bloß ihre eigenen Belange einbrachten, fand ich zu einseitig. Mein Engagement, glaube ich, war für die Mehrheit der Frauen wichtiger als das von Frau Schwarzer.
Findet man solch klare, unmißverständliche Aussagen auch noch heute im politischen Leben, in den Medien?
Frau Hildegard Hamm-Brücher sollte niemals überhöht werden, aber sie war das, was sich jedermann unter einer aufrechten Politikerin vorstellen darf. Egal welchem politischen Lager er angehört.
Was kommt danach?
Betrifft aber nicht nur die weibliche Politikszene.
Ja, Passagen davon finden sich fast wortwörtlich im Buch. Ich mochte ihr Bekenntnis zu Köhler nicht, um ehrlich zu sein. Aber ansonsten habe ich Respekt für sie.
AntwortenLöschenFrau Hamm Brücher war in den 60 er Jahren sicherlich eine aufrechte Demokratin. In meiner Erinnerung, ich war damals Jungdemokrat, war sie jedoch eher dem rechten Flügel der FDP zu zuordnen. Eine Ausage muss ich jedoch absolut zurückweisen: Frau Hamm-Brücher hat nie einem linken Liberalen die Hand gereicht, bzw. seine Thesen für gut befunden. Sie hat die Freiburger Thesen als überflüssig empfunden und hat sich immer, während ihrer Regierungstätigkeit, auf die Seite der Gewinner geschlagen. Dafür, dass sie dies eines Tages aufgegeben hat, mag man ihr Dank schulden, ihre politische Aussage war das nicht.
AntwortenLöschenUm das Bewerten zu können habe ich mich zu wenig mit ihr befasst. Danke für die Zusatzinformationen!
AntwortenLöschenSchade, in der jetzigen FDP sind nur Gruselgestalten unterwegs. Eine FDP, die echte Persönlichkeitsfiguren wie Hamm-Brücher an der Spitze hätte und einen umfassenderen Liberalismus unterstützen würde und nicht den sog. wirtschaftlichen Liberalismus, der für mich keiner ist, die würde ich bedenkenlos wählen. Aber so... was soll man denn heute noch als liberal eingestellter Mensch denn noch wählen? Die Grünen vielleicht? Ich weiss es einfach nicht.
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