Montag, 1. November 2010

Zehn Thesen zu intransparenter Gesetzgebung


1.
Gesetzgebung, wie überhaupt politische Gestaltung generell, kann in der heutigen pluralistischen Gesellschaft nur erfolgreich sein, wenn die Betroffenen in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Ohne den Input möglichst weiter Kreise der von der Regulierung Betroffenen ist die Gefahr, am Problem vorbeizuregulieren oder später an gesellschaftlichen Widerständen zu scheitern, übergroß.

2.
Der Gesetzgeber unternimmt – insbesondere auf EU-Ebene – zahlreiche Anstrengungen, diese Einbeziehung herzustellen: Diskussionsentwürfe, Eckpunktepapiere, Anhörungen, Veröffentlichung von Stellungnahmen, Grünbücher, Calls for Proposals etc. Das gelingt aber nur teilweise: Von der Gelegenheit, auf den Entscheidungsprozess einzuwirken, machen im Regelfall nur spezialisierte Interessenverbände und Wissenschaftler Gebrauch. Es entstehen Expertendiskurse, die de jure offen für breiten gesellschaftlichen Input sind, de facto aber weitgehend geschlossen verlaufen.

3.
Der Grund ist, dass nicht alle gesellschaftliche Interessen effektiv genug organisiert sind, um an den jeweiligen Debatten teilnehmen zu können. Aber das ist nur ein Teil der Erklärung:  Daneben spielt auch die schiere Komplexität der zu regelnden Probleme und der denkbaren Lösungsansätze eine Rolle. Die Wirklichkeit verändert sich ständig, und alles hängt mit allem zusammen. Jede Lösung wirft neue Folgeprobleme auf, die ihrerseits nach Lösungsvorschlägen verlangen.

4.
Um an der Debatte auf Augenhöhe teilnehmen und seinem Standpunkt Gehör verschaffen zu können, muss man diese Interdependenzen, Verzweigungen und Verflochtenheiten durchdrungen und verstanden haben. Das ist enorm aufwändig. Diesen Aufwand zu betreiben, lohnt sich im Regelfall nur für diejenigen, für die entsprechend viel auf dem Spiel steht – also für die am unmittelbarsten Betroffenen.

5.
Die Folge: Input kommt im Regelfall von denjenigen, die hinreichend gut organisiert und von dem in Rede stehenden Gesetz so massiv finanziell betroffen sind, dass sich die Kosten für Referentenstellen und Gutachteraufträge rechnen. Alle anderen bleiben vom Diskurs ausgeschlossen.

6.
Damit entgeht dem Diskurs ein erheblicher Teil des Inputs, der für erfolgreiche politische Gestaltung eigentlich nötig wäre. Denn auch relativ diffuse und indirekte Betroffenheit kann, wenn sie im Entscheidungsprozess unberücksichtigt bleibt, die Entscheidung hinterher zum Entgleisen bringen.

7.
Daher ist es nötig, den Aufwand der Teilnahme am politischen Diskurs zu senken. Denn wenn der Aufwand sinkt, lohnt er sich auch für weniger massiv oder direkt Betroffene, und Interessen, die sonst ausgeschlossen wären, können teilnehmen.

8.
Den Aufwand zu senken, ist somit eine politische Aufgabe, der sich der Gesetzgeber annehmen muss. Er muss sich darum kümmern, die Debatten um politische Gestaltungsfragen zugänglicher zu machen und den Kreis der Inputgeber zu erweitern. Mit der bloßen Veröffentlichung von Gesetzesmaterialien und Stellungnahmen und herkömmlichen Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit und politischen Bildung ist es dabei nicht getan.

9.
Die Medien können bzw. wollen die Aufgabe, politische Debatten zugänglich zu machen, immer weniger leisten. Das liegt zum  einen an den schwindenden Ressourcen der Verlage und Rundfunkanstalten, zum anderen aber auch an dem veränderten Charakter der Politik: Je mehr durch Verhandlung und Kompromiss anstelle von Polarisierung und Abstimmung entschieden wird, desto weniger lässt sich Politik noch als „Story“ darstellen. Der Ausweg, stattdessen Konflikte bzw. Personen in den Fokus der Berichterstattung zu rücken, kann auf Dauer kein adäquater Ersatz sein.

10.
Die besten Wege, Komplexität zugänglich zu machen, sind Interaktion und Visualisierung. Das Internet ermöglicht eine sehr leistungsfähige Kombination aus beidem: die diskutierten Probleme, Lösungen und Argumente im Gesamtzusammenhang graphisch abzubilden (policy mapping) und interaktiv erfahr- und navigierbar zu machen. Der „Politikatlas Schulreform“ (www.politikatlas.de/schulreform) ist ein erster Ansatz, diesen Weg in die Praxis umzusetzen.

Dieser Beitrag erschien erstmals auf dem Verfassungsblog. 

6 Kommentare:

  1. Bitte um Pardon - aber deine Schlussfolgerungen halte ich für nicht vollständig stichhaltig. Eine komplexe Materie wird nicht weniger komplex, weil ich sie vereinfacht und in bunten Animationen darstelle. Es mag sinnvoll sein, politisches Material zu didaktisieren, um einer breiten Masse die grundsätzlichen Verstehensoperationen zugänglich zu machen, das allerdings darf nicht darin ausarten, durch massive Vereinfachung und Vorstrukturierung den Konstruktionsprozess, den Wahrnehmung von Wirklichkeit immer vorraussetzt, so weit zu reduzieren, dass im Grunde eine Lenkung durch die Hintertür stattfindet bzw. eine massiv gesteigerte Partizipation einer unqualifizierten, aber scheingebildeten Masse zu einer Politik der Affekte führt.

    Meiner Ansicht nach kann der Weg eben gerade nicht darin bestehen, "den Aufwand zu senken". Politische Partizipation setzt die Bereitschaft und die Befähigung vorraus, sich diesem Aufwand auszusetzen und sich ein möglichst eigenständiges Bild zu erarbeiten. Wer diesen Aufwand zu betreiben nicht bereit oder in der Lage ist, hat auf der politischenn Bühne nichts verloren. Zu viel steht auf dem Spiel, um die mächtigen Werkzeuge der Politik Dilettanten zu überlassen. Wir brauchen in Deutschland keinen Sturm auf die Bastille.

    Aufgabe der Politik wäre es aber, die notwendigen Verstehensoperatoren deutlicher zu vermitteln. Bildung ist hier das Schlüsselwort. Ein Schulsystem, das den Politikunterricht immer noch als Nebenfach unter "Kernfächer" wie Mathematik, Deutsch oder Englisch stellt, ist nicht geeignet, politisch mündige Bürger auszubilden. Ein Politikunterricht, der "Politik" als etwas propagiert, das am anderen Ende des Universums, also im Bundestag oder in der RTL-Nachrichten stattfindet, der es versäumt, Schüler über aktive Partizipation in der unmittelbarsten Lokalpolitik an das politische Geschäft praktisch heranzuführen, vermittelt ein Gefühl der Ohnmacht, der Bedeutungslosigkeit der eigenen Stimme und vernichtet damit bei weiten Teilen der heranwachsenden Generation jegliche intrinsische Motivation zur Beschäftigung mit politischen Inhalten und Vorgängen. Daran werden auch Infografiken, interaktive Policy-Maps und Politikatanten nichts ändern. Die Bereitschaft, sich mit einer Aufgabe zu beschäftigen, ist nicht abhängig von deren objektivem Schwierigkeitsgrad sondern von der subjektiv empfundenen Erfolgswahrscheinlichkeit. Hier muss eine Problemlösung ansetzen. Verbreitern wir die Masse derer, die in der Lage sind, sich mit dem ungefilterten Material zu befassen, verbreitern wir auch die Masse derer, die dies tatsächlich tun werden. Solange aber das "Die da oben - wir hier unten"-Denken weiter tradiert wird, fürchte ich, dass dein Ansatz ins Leere laufen wird.

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  2. Ist nicht meiner, sondern der von Steinbeis ;) Ich stimme dir aber durchaus zu. Seine Vorliebe für Infographiken speist sich auch daraus, dass er sie selber produziert ;)

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  3. versuchen wir es ganz einfach mal ...mit einer sprach zu sprechen die alle verstehen......übrigens manhnte geissler das schon in der schlichtung an .... und sind wir mal ehrlich ...sich zu bilden um unverständlich rüber zu kommen..was ist das ...

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  4. Wir sollten uns alle Steve Jobs unterwerfen, dann hätten wir eine besser designte Demokratie!ELF

    Abgesehen von dem letzten Punkt würde ich der Argumentation zustimmen. Aber das Internet verschärft das Problem anstatt es zu lösen, denn es liefert zu jedem Thema zwei gegensätzlich ausgerichtete Infografiken. Besonders zu Themen bei denen auch die andere Seite gute Argumente hat und eine Abwägung getroffen werden muss.

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  5. @Shurak:
    Wenn eine Materie zu komplex ist, um sie verarbeiten zu können, dann kann ich sie entweder weniger komplex machen oder meine Kapazität zur Verarbeitung von Komplexität erhöhen. Die Medien versuchen das erstere, mit sehr überschaubarem Erfolg. Ich plädiere für das Zweitere.

    Bunte Bilder, wie Du das nennst, können ein sehr mächtiges Tool sein, um die Verarbeitungskapazität zu erhöhen.

    Politik als Schulfach ist ja nett, aber wenn ich kapiert habe, wie der Bundesrat funktioniert, dann kann ich noch lange nicht mir einen fundierten Standpunkt zum, sagen wir, Gendiagnostikgesetz bilden geschweige denn in den Expertendiskurs einspeisen. Das kann ich nur, wenn ich verstanden habe, wovon die Experten überhaupt reden. Und dabei können "bunte Bilder" verdammt hilfreich sein.

    Und aktive Partizipation ist auch nett, aber lokale Fix-my-Street-Projekte, so toll ich die finde, decken nun mal nur einen Teil der politisch relevanten Themen ab. Wir können nicht ewig darin verharren, auf lokale Partizipation zu setzen und ansonsten über die in Brüssel zu jammern. Wir müssen auch und gerade zu den überörtlichen Debatten mehr Meinungsbildung ermöglichen.

    Das mit dem Gefühl der Ohnmacht ist schon richtig. Aber das Gefühl der Überfordertheit, des Kann-man-so-oder-auch-anders-sehen gehört halt auch dazu bzw. ist durchaus eine starke Komponente davon. Wenn ich versuche, auf die Reform der, sagen wir, europäischen Energienetzarchitektur Einfluss zu nehmen, dann scheitere ich nicht daran, dass ich kein Gehör finde, sondern daran, dass ich gar nicht erst eine Stellungnahme formuliert bekomme, ohne einen Aufwand zu treiben, den ich mir gar nicht leisten kann.

    @Yoshi: Genau deshalb fordere ich, die Meinungslandschaft zu kartographieren, also die "guten Argumente" beider Seiten visuell so zu arrangieren, dass man sie in ihrer Aufeinanderbezogenheit versteht und eine Abwägung treffen kann.

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  6. Hallo Max,

    danke für die ausführliche Erläuterung. Aber wie geht man bei der Methode dem Problem aus dem Weg, dass irgendjemand mit Präferenzen diese Dinger erstellen muss? Irgendeine Wertung ist ja doch immer vorhanden, oder? Respektive, wie vermeidest du, dass Leute das als reines Propagandatool nutzen?

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