Freitag, 26. April 2013

Zurückhaltung als richterliche Tugend

Von Stefan Sasse

Andreas Voßkuhle ist ein ungewöhnlicher Präsident des Bundesverfassungsgerichts, besonders was die Menge der öffentlich geäußerten Kritik über ihn angeht. In den letzten zwei, drei Jahren ist die Politik immer schärfer zum Angriff auf das BVerfG übergegangen und kreidet nicht nur dessen Entscheidungen an, sondern stellt grundsätzlich die Legitimität mancher Entscheidungen in Frage - genauer, die Legitimität des Gerichts, diese Entscheidungen überhaupt zu fällen. Besonders Regierungskritiker sehen darin gerne autoritäre Tendenzen, aber was, wenn die Politiker Recht haben?


Tatsächlich hat die Zahl der BVerfG-Entscheidungen, die mit dem Verdikt des Verfassungsverstoßes endeten, in letzter Zeit erheblich zugenommen. Konnte man besonders unter Innenminister Schäuble das BVerfG oftmals als letztes Bollwerk gegen einen überbordenden Exekutiv-Staat sehen, so wird das Gericht inzwischen beinahe schon routinemäßig angerufen, um nicht genehme Entscheidungen der Regierung oder des Parlaments zu blockieren - man denke nur an besonders eifrige Kläger wie Peter Gauweiler und die Routine, mit der inzwischen das BVerfG angerufen wird, um im Kern politische Streitigkeiten zu schlichten.

Ein besonders abstoßendes Beispiel hierfür war die Abschiebung der politischen Verantwortung auf das Gericht in der Frage der Wahlrechtsreform - ein offenkundiger Versuch der Politik, die Entscheidung den Richtern zu überlassen und so einem Streit aus dem Weg zu gehen, den man eigentlich hätte politisch lösen müssen. Zwar tragen die Politiker hier klar die Hauptschuld (und zwar aller Parteien, niemand war ernsthaft an einem Kompromiss interessiert), aber das BVerfG unter Voßkuhle hat diese Verantwortung nur allzu willig angenommen.

Besonders Voßkuhle nutzt seither das Gericht mehr und mehr dazu, Politik in seinem eigenen Sinne zu machen. Das BVerfG besitzt den gewaltigen Vertrauensvorschuss in der Bevölkerung vor allem, weil es als Bollwerk gegen die Überreizung von Kompetenzen durch die Politik wahrgenommen wird. Dadurch wird auch großzügig verziehen, dass es sich um eine geradezu grotesk undemokratische Institution handelt, die keinerlei Rechtfertigungspflicht gegenüber dem Volk besitzt.
 Dass das BVerfG bislang im Zweifel für mehr Freiheiten entschieden hat ist eher ein glücklicher Zufall als eine inhärente Regel, ein Fakt, dass besonders diejenigen gerne vergessen, die es als Hauptschauplatz für politische Auseinandersetzungen sehen. Wie bei Volksabstimmungen auch gibt es keine Garantie, dass das Ergebnis das gewünschte ist.

Bislang akzeptierte die Politik die Verdikte in beiden Fällen recht anstandslos und ohne sie anzufechten (obgleich man sie gerne obstruierte), aber inzwischen findet sich diese Zurückhaltung immer weniger. Der Grund dafür ist die Aufgabe dessen, was in den USA "judicial restraint" genannt wird, also richterliche Zurückhaltung, zugunsten dessen, was die Amerikaner als "judicial activism" bezeichnen - gerichtlichen Aktivismus.

Bereits in der Wortwahl wird deutlich, dass "judicial restraint" das positiv konnotiertere Element ist; gleichwohl gilt, wie immer, dass man den restraint dann toll findet, wenn das Gericht eine als gut empfundene Entscheidung passieren lässt, während man im umgekehrten Falle lauthals nach Aktivität ruft. Das ist normal. Problematisch wird es meist dann, wenn das Gericht von selbst aktiv wird - also nicht angerufen wurde und dann entscheidet, ob es sich mit einem Fall beschäftigen will.

Dazu bedarf es keines formellen Verfahrens - die Richter können die Macht ihrer Autorität nutzen, um in den politischen Prozess einzugreifen. Und genau das tut Voßkuhle, wie man bei seiner publikumswirksamen Verurteilung Cohn-Bendits sehen konnte, womit er der CDU-BW genau jenen Startschuss lieferte, den sie für ihre Schmutzkampagne gegen Ministerpräsident Kretschmann brauchte - ein klassisches Spiel über Bande. Wird das BVerfG aber zu einer politischen Institution unter vielen, mit einer eigenen Agenda, so verliert es jene Autorität, mit der es im Zweifel gegen die Politik Schranken einziehen kann, wie das zu Zeiten der Großen Koalition notwendig war. Und das wäre wahrhaft ein Problem.

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