Von Stefan Sasse
Andreas Voßkuhle ist ein ungewöhnlicher Präsident des Bundesverfassungsgerichts, besonders was die Menge der öffentlich geäußerten Kritik über ihn angeht. In den letzten zwei, drei Jahren ist die Politik immer schärfer zum Angriff auf das BVerfG übergegangen und kreidet nicht nur dessen Entscheidungen an, sondern stellt grundsätzlich die Legitimität mancher Entscheidungen in Frage - genauer, die Legitimität des Gerichts, diese Entscheidungen überhaupt zu fällen. Besonders Regierungskritiker sehen darin gerne autoritäre Tendenzen, aber was, wenn die Politiker Recht haben?
Tatsächlich hat die Zahl der BVerfG-Entscheidungen, die mit dem
Verdikt des Verfassungsverstoßes endeten, in letzter Zeit erheblich
zugenommen. Konnte man besonders unter Innenminister Schäuble das BVerfG
oftmals als letztes Bollwerk gegen einen überbordenden Exekutiv-Staat
sehen, so wird das Gericht inzwischen beinahe schon routinemäßig
angerufen, um nicht genehme Entscheidungen der Regierung oder des
Parlaments zu blockieren - man denke nur an besonders eifrige Kläger wie
Peter Gauweiler und die Routine, mit der inzwischen das BVerfG
angerufen wird, um im Kern politische Streitigkeiten zu schlichten.
Ein
besonders abstoßendes Beispiel hierfür war die Abschiebung der
politischen Verantwortung auf das Gericht in der Frage der
Wahlrechtsreform - ein offenkundiger Versuch der Politik, die
Entscheidung den Richtern zu überlassen und so einem Streit aus dem Weg
zu gehen, den man eigentlich hätte politisch lösen müssen. Zwar tragen
die Politiker hier klar die Hauptschuld (und zwar aller Parteien,
niemand war ernsthaft an einem Kompromiss interessiert), aber das BVerfG
unter Voßkuhle hat diese Verantwortung nur allzu willig angenommen.
Besonders
Voßkuhle nutzt seither das Gericht mehr und mehr dazu, Politik in
seinem eigenen Sinne zu machen. Das BVerfG besitzt den gewaltigen
Vertrauensvorschuss in der Bevölkerung vor allem, weil es als Bollwerk
gegen die Überreizung von Kompetenzen durch die Politik wahrgenommen
wird. Dadurch wird auch großzügig verziehen, dass es sich um eine
geradezu grotesk undemokratische Institution handelt, die keinerlei
Rechtfertigungspflicht gegenüber dem Volk besitzt.
Dass das BVerfG
bislang im Zweifel für mehr Freiheiten entschieden hat ist eher ein
glücklicher Zufall als eine inhärente Regel, ein Fakt, dass besonders
diejenigen gerne vergessen, die es als Hauptschauplatz für politische
Auseinandersetzungen sehen. Wie bei Volksabstimmungen auch gibt es keine
Garantie, dass das Ergebnis das gewünschte ist.
Bislang
akzeptierte die Politik die Verdikte in beiden Fällen recht anstandslos
und ohne sie anzufechten (obgleich man sie gerne obstruierte), aber
inzwischen findet sich diese Zurückhaltung immer weniger. Der Grund
dafür ist die Aufgabe dessen, was in den USA "judicial restraint" genannt wird, also richterliche Zurückhaltung, zugunsten dessen, was die Amerikaner als "judicial activism" bezeichnen - gerichtlichen Aktivismus.
Bereits in der Wortwahl wird deutlich, dass "judicial restraint" das positiv konnotiertere Element ist; gleichwohl gilt, wie immer, dass man den restraint
dann toll findet, wenn das Gericht eine als gut empfundene Entscheidung
passieren lässt, während man im umgekehrten Falle lauthals nach
Aktivität ruft. Das ist normal. Problematisch wird es meist dann, wenn
das Gericht von selbst aktiv wird - also nicht angerufen wurde und dann
entscheidet, ob es sich mit einem Fall beschäftigen will.
Dazu
bedarf es keines formellen Verfahrens - die Richter können die Macht
ihrer Autorität nutzen, um in den politischen Prozess einzugreifen. Und
genau das tut Voßkuhle, wie man bei seiner publikumswirksamen
Verurteilung Cohn-Bendits sehen konnte, womit er der CDU-BW genau jenen
Startschuss lieferte, den sie für ihre Schmutzkampagne gegen
Ministerpräsident Kretschmann brauchte - ein klassisches Spiel über
Bande. Wird das BVerfG aber zu einer politischen Institution unter
vielen, mit einer eigenen Agenda, so verliert es jene Autorität, mit der
es im Zweifel gegen die Politik Schranken einziehen kann, wie das zu
Zeiten der Großen Koalition notwendig war. Und das wäre wahrhaft ein
Problem.
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