Montag, 27. Februar 2012

Die merkwürdige Stärke der Bürgerlichen

Von Stefan Sasse

Als 2005 die ersehnte wie erwartete "bürgerliche Mehrheit" nicht zustandekam und die Union stattdessen mit der SPD koalieren musste, während die LINKE erstmals mit rund 8% in den Bundestag einzog, schien das Zeitalter der Bürgerlichen beendet und die besonders von Oskar Lafontaine viel bemühte "strukturelle linke Mehrheit" Realität zu sein. Nur die geradezu frappante Schwäche der SPD 2009 war es, die das anachronistisch wirkende Bündnis von CDU und FDP erlaubten, und der rapide Verfall der Freidemokraten seither, der Aufstieg der Grünen und die leichte Morgenluft, die die Gabriel-SPD zu schnuppern glaubt scheinen die "bürgerliche Koalition" endgültig zu einem Betriebsunfall der Geschichte zu machen. Die Zukunft gehört offensichtlich anderen Konstellationen. Trotzdem wurden alle, die auf eine Änderung der Politik gehofft hatten, bislang bitter enttäuscht. Eine viel bemühte Erklärung dafür ist der Doppelverrat von SPD und Grünen, die sich von ihren Wählern abwandten und ihnen quasi den Agenda-Dolch in den Rücken stießen. Genau diese Interpretation aber geht an einigen Tatsachen vorbei. Es gibt keine strukturelle linke Mehrheit. Es gibt eine strukturelle bürgerliche Mehrheit. Die einzige derzeit dezidiert nicht bürgerliche Partei, die im Bundestag sitzt, ist die LINKE, und sofern bis 2013 nicht noch ein Wunder passiert wird sie gegenüber ihrem Wahlergebnis von 2009 deutlich verlieren. Die verzweifelte Inanspruchnahme des Etiketts "bürgerlich" durch die Union und besonders die FDP verdecken, welche Erklärungskraft das Wort tatsächlich besitzt. 

Bevor wir uns aber mit dem Etikett der Bürgerlichkeit beschäftigen, müssen wir kurz über das Etikett "links" nachdenken. Was ist überhaupt links? Philippe von Parijs argumentiert durchaus überzeugend, dass "links" und "sozialistisch" nicht zwingend identisch sind. Von der Partei, die die Zuschreibung in ihrem Titel trägt, gibt es ebenfalls keine klare Definition. Hier sind genauso Sozialisten und Kommunisten wie klassische Sozialdemokraten und Gewerkschaftler wie auch einige Anarchisten zu finden. Der Begriff bleibt undefiniert, von beiden Seiten. Das hat einen relativ einfachen Grund: "links" ist effektiv die Antipode zu "bürgerlich". Alles, was CDU und FDP missfällt, wird mit dem Etikett "links" versehen und damit diffamiert, eine Technik, die um 180 Grad gewendet bei der LINKEn angewandt wird, wo man das Etikett entsprechend allem anpappt, was man für gut hält, um so einer möglichst breiten Schicht Identifikationspotential zu geben, die sich durch die Ideen von Bürgerlichkeit nicht vertreten fühlt. Bevor Missverständnisse aufkommen: ich zweifle überhaupt nicht daran, dass jeder meiner Leser, jedes Mitglied und jeder Wähler der LINKEn eine recht genaue Vorstellung von links hat. Was ich bezweifle ist, dass sie sich signifikant decken. Im öffentlichen Diskurs ist "links" hauptsächlich Gegenbild und Projektionsfläche der Bürgerlichen, die - let's face it - länger und ausdauernder an der Macht sind. 

Was aber ist "bürgerlich"? Die Vorstellung, dass die Klientelpolitik für die Reichen, wie die FDP sie betreibt, in irgendeiner Art und Weise als Erklärung ausreichend sein könnte ist geradezu lächerlich. Auch der Sozialkonservativmus weiter Teile der Union entfaltet längst nicht mehr das Anziehungspotential von einst. Tatsächlich hat in den letzten Jahren eine Art Umschichtung stattgefunden, die das bürgerliche Lager eher erweitert statt verkleinert hat. Die oft zitierte Wandlung der Grünen zu einer bürgerlichen Partei und die Spekulationen über schwarz-grüne Bündnisse kommen ja nicht von ungefähr. Auch die reibungslose Zusammenarbeit von SPD und CDU während der Großen Koalition beruht nicht ausschließlich auf der Unterdrückung alternativer Ideen durch Müntefering und Steinmeier. Tatsächlich sind breite Teile der Wähler - immer noch - bürgerlich geprägt. Obwohl der Diskurs über Hartz-IV und Niedriglöhne, der die öffentliche Debatte von etwa 2004 bis 2009 bestimmte, einen anderen Eindruck vermittelt hat: für die meisten Menschen in Deutschland ist der Bezugsrahmen ihres Denkens und Erlebens immer noch die Mittelschicht, und die ist bürgerlich. Was sich verändert hat, sind Positionen, die sie früher ausgemacht haben. Diese Veränderung der Positionen ist es, die Leitartikler und bürgerliche Politiker nachhaltig verwirrt. 

So waren die Ablehnung von Mindestlöhnen, das Bejahen von Law&Order, das Ja zur Atomkraft und eine traditionelle Familienpolitik früher unverzichtbare Bestandteile einer "bürgerlichen" Politik. Heute sind sie das nicht mehr. Dies hat viele Beobachter dazu verleitet anzunehmen, dass ein "Linksruck" stattgefunden habe, nicht nur in der CDU selbst, sondern auch in der Bevölkerung. Das aber ist eine Täuschung. Die gleichen Leute, die sich als bürgerliche Mittelschicht begreifend diese Positionen früher vertreten haben, verließen ihren Bezugsrahmen der bürgerlichen Mittelschicht nicht - sie haben ihre Meinungen zu einigen Positionen geändert, das ist alles. Eine Änderung einiger Inhalte aber mit einer Konversion ins linke Lager zu verwechseln war der Fehler, der die CDU die Macht in Baden-Württemberg gekostet hat, und der die FDP von 16% auf unter 3% hat abstürzen lassen. Sich als bürgerliche Mittelschicht zu fühlen ist nicht davon abhängig, ob man den Ruf nach Steuersenkungen bejaht. 

Die Profiteure dieser Entwicklung sind Grüne und Piratenpartei. Beide sind nicht links, das haben ihre Kritiker von der Linken durchaus richtig analysiert. Sie sind letztlich Parteien der Mittelschicht, einer anderen als sie CDU und FDP sich ausmalen, aber einer Mittelschicht nichtsdestotrotz. Ihre Themen sind keine Themen von Menschen, die darum kämpfen, Miete und Essen zu bezahlen. Es sind aber, man muss es so hart sagen, Mehrheitsthemen. Die Mehrheit der Deutschen fühlt sich der Mittelschicht zugehörig oder geht davon aus, auf absehbare Zeit dazuzugehören. Es ist die deutsche Version des American Dream, von dem Martin Sheen in der Rolle Präsident Bartlets bereits richtig bemerkte dass er das fundamentale Problem enthält, dass jeder glaubt irgendwann reich zu sein und politisch schon für diesen Tag plant und denkt. Der Begriff des Bürgerlichen umfasst eine wesentlich breitere und heterogenere Schicht, als es Linke wie selbst erklärte "Bürgerliche" gerne wahrhaben und in ihre engen Programmatiken pressen wollen. Und selbst grüne und orangene Bürgerliche sind bei aller Andersartigkeit ihrer Forderungen vom konservativ-bürgerlichen Kernbestand eines mit Sicherheit nicht: revolutionär und übermäßig links gestimmt.

14 Kommentare:

  1. Bürgerlich ist für mich, wenn die eigene Position gefährdet wird sind sie bereit zu mobben , zu schlagen , zu morden.

    Es ist einfach nur widerlich.

    Die Menschen ändern sich nicht.

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  2. Ein Drittel sind in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt.

    Niedrig bezahlt und zu schlechten Arbeitsbedingungen, nicht nur solchen die die Gesundheit kaputt machen.

    WÜRDE ES GERECHT ZUGEHEN.

    Müßte ein Drittel der Beschäftigten also alle 3 Jahre dies durchmachen.

    Damit es nicht so kommt und die BÜRGERLICHEN es sich weiter bequem machen können grenzen sie aus, definieren sie weg, diffamieren sie.

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  3. Leider hast du recht mit der These: Es gibt keine strukutelle linke Mehrheit.
    Das aber ist um so mehr Grund genug, die "Linke" zu stärken, denn sie bietet doch wahrlich die einzige Alternative. Und sei dies auch nur aus strategischer Überlegung, das müßten eigentlich auch die "Bürgerlichen" erkennen, denn die sind es ja die auf dem Ast sitzen, den sie absägen.
    Aber das Bleibt wohl nur eine vage Hoffnung.

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  4. "[D]ass "links" und "sozialistisch" nicht zwingend identisch sind", scheint mir keine Neuigkeit zu sein. Die SPD ist seit Bad Godesberg -gottlob - keine sozialistische Partei mehr.

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    1. Die SPD war nie eine sozialistische Partei sondern erklärter Maßen eine sozialdemokratische. Und man sprach zu Zeiten des Godesberger Programmes allenfalls von demokratischem Sozialismus, den es anzustreben galt. Mehr nicht. Später traute man sich nicht einmal mehr von demokratischem S.zu sprechen, weil Staaten wie z.B.die DDR den Begriff S. durch ihre totalitäre Staatsform diskreditierten.
      Heute hat die SPD weder mit sozial, noch mit Sozialismus was am Hut. Genau wie unsere Kollegen von den C-Parteien etwas mit christlichem am Hut haben. Geschweige dann noch die FDP mit Freiheit.

      .

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    2. Naja, im 19. Jahrhundert war die SPD schon sozialistisch.

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    3. Da war sie jedoch noch keine Partei im heutigen Sinne

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    4. Aber eben eine dringende Antwort auf die damaligen Umstände.
      Im heutigen Kontext ist die Antwort wohl "DIE LINKE". Allerdings wird sie wohl nie Volkspartei werden. Und das ist schade

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    5. Bis zum Godesberger Programm war die Vergesellschaftung der Produktionsmittel erklärtes Ziel sozialdemokratischer Politik:

      "Das Privateigentum an Produktionsmitteln, welches ehedem das Mittel war, dem Produzenten das Eigentum an seinem Produkt zu sichern, ist heute zum Mittel geworden, Bauern, Handwerker und Kleinhändler zu expropriieren und die Nichtarbeiter – Kapitalisten, Großgrundbesitzer – in den Besitz des Produkts der Arbeiter zu setzen. Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln – Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel – in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann es bewirken, daß der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger harmonischer Vervollkommnung werde."
      (Erfurter Programm der SPD, 1891)

      Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel ist trivialerweise das Hauptmerkmal des Sozialismus.
      Da die SPD bis Bad Godesberg an diesem Ziel festgehalten hat, war sie bis dahin per definitionem eine sozialistische Partei.

      Daran ändern auch Ihre normativen Einwände nichts, denn es geht darum, ob und bis wann die SPD sozialistisch war und nicht darum, ob die Politik der SPD ihren persönlichen (als sozialistisch bezeichneten) Vorstellungen entspricht oder je entsprochen hat.

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  5. Ich stimme Dir zu, dass man bürgerlich/konservativ vor allem als kulturelles Programm und als Haltung begreifen sollte, deren Inhalte mittelfristig austauschbar sind. Was ich denke: Bürgerlich hin oder her, wichtig ist es, dass "progressive" (im Sinne der Aufklärung) Ziele verwirklicht werden.

    Ich weiß, in der linken Bloggosphäre ist die These der neoliberalen, konservativen Hegemonie weit verbreitet. Alles schlecht und böse in Deutschland. Es geht bergab, so ist oft auf den NAchdenkseiten zu lesen (als Ideal wird dann meist eine kurze Periode in den 70er Jahren genannt, unter Willy Brandt) Und auf dem Feld der Sozialpolitik ist tatsächlich zuletzt eher ein Retrenchment zu beobachten gewesen.

    Aber schauen wir doch mal darüber hinaus, was sich in den letzten zehn Jahren so getan hat (sorry für die sehr bunte Sortierung): Förderung erneuerbarer Enepien und Ausstieg aus der Atomkraft, Abschaffung der Wehrpflicht, Ganztagsschulen und mehr Kindergärten, eingetragene Lebenspartnerschaften für Homosexuelle, die erste Bundeskanzlerin, eine bessere Bekämpfung von Steuerflüchtlingen, Ökosteuer, Kurzarbeitergeld und Konjunkturpaket nach der Finanzkrise, freie Grenzen in Europa. Hab bestimmt noch einiges vergessen.

    Demnächst werden hoffentlich/wahrscheinlich kommen: Mindestlohn und Regulierung von Leiharbeit, Abschaffung der PKVs und Besteuerung von Finanztransaktionen.

    Alles Policies, die zwar teils auch von bürgerlichen umgesetzt wurden/werden könnten, aber dennoch ursprünglich auf der Linken ersonnen wurden. Und, die - mal ganz unabhängig von solchen Etiketten - als fortschriftlich und erfreulich bezeichnet werden können.

    Man muss halt immer wieder neu für Ziele kämpfen, aber die Bürgerlichen in diesem Lande sind zum Glück eben meist keine Reaktionäre, sondern oft Pragmatiker. Daher denke ich, dass eine strukturelle bürgerliche Mehrheit auch von linker Seite nicht unbedingt als Weltuntergag, sondern als Ansporn für gute Ideen und gute Argumente gesehen werden sollte.

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    1. Völlig richtig.
      Was die Leute linksaußen immer übersehen, ist, dass die deutsche Sozialdemokratie seit Godesberg nahezu alle ihrer sozialpolitischen Grundüberzeugungen in die Tat umgesetzt hat - vor allem natürlich die praktische Ausweitung der Grundrechte auf vormals diskriminiert oder marginalisierte Menschengruppen (Frauen, Homosexuelle usw). All dies wurde entweder gegen bürgerlichen Widerstand oder durch die fortschreitende Anpassung bürgerlicher Politik an ursprünglich sozialdemokratische Überzeugungen erreicht.

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  6. Vielen Dank für diese scharfsinnige Analyse! Und so sieht es ja nicht nur in Deutschland aus, sondern eben auch in den meisten liberal-demokratischen Ländern der entwickelten Welt. Die Sozialdemokratie und die ursprünglich links-alternativen Kräfte, die nach den 1960ern entstanden sind haben sich längst damit abgefunden, den politischen Arm der sich mehr oder minder progressiv wähnenden Teile der Bourgeoisie zu sein, nicht mehr, und nicht weniger. Ob man darob verzweifeln soll oder nicht (immerhin bedeutet das aus klassisch linker Sicht nichts anderes als das Scheitern des Reformismus- Bernstein ist damit genauso auf der Müllhalde der Geschichte zu verorten wie ein gewisser Herr Uljanow), nun das soll jede(r) für sich entscheiden. Übrigens hat van Parijs ja nicht dem Sozialismus an sich eine Absage erteilt.

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