Mittwoch, 22. Februar 2012

Es gibt keine Netzgemeinde

Von Stefan Sasse

Kein Artikel kommt heute mehr ohne einen Verweis auf "die Netzgemeinde" mehr aus, die irgendetwas blöd findet. Wenn irgendetwas in er Welt geschieht, kann man darauf wetten, dass auch über die Rezeption auf Twitter berichtet wird, garantiert garniert mit dem Hinweis, dass ein Tweet maximal 140 Zeichen umfasst. Meistens läuft das dann unter "die Netzgemeinde", indem man irgendein Hashtag als exemplarisch herausgreift. Beispielhaft konnte man das unter #notmypresident am Fall Gauck sehen; und es dürfte nur die Blattmacher und ihre Omas selbst überraschen, dass unter einem solchen Hashtag nur Gauck-kritische Kommentare zu finden sind. Dazu sind die Dinger da; Orientierung bieten in der Welt der Millionen und Abermillionen Tweets, die jeden Tag getwittert werden. Genausogut könnte ich die Sportseiten aufschlagen und mich darüber beklagen, dass die Journalistengemeinde nur über Sportthemen schreibt. Das Niveau ist ähnlich. Nur geht es in diesem Fall um das Internet, das ist mysteriös, neu und sexy, zumindest für die Zieldemographie der Qualitätsmedien. Anders lassen sich die wilden Geschichten, die über die Nutzung der neuen Medien ständig verbreitet werden, eigentlich nicht erklären. 

Es sind vor allem zwei Narrative, die ständig in der Berichterstattung auftauchen. Das erste haben wir bereits angeschnitten: Twitter und seine Funktion als Nachrichtenmedium. Gerne wird darauf verwiesen, dass Twittermeldungen sich erwiesenermaßen schneller als Erdbebenwellen um den Globus verbreiten. Glückwunsch, Freunde, aber das gilt sogar für einen Telefonanruf. Das zweite Narrativ ist Facebook. Es wird entweder als furchtbare Bedrohung (für unsere Kinder) angesehen oder als revolutionäres Instrument (der Afrikaner und Araber). Beides ist Quatsch. Facebook ist ein soziales Netzwerk, nicht mehr, nicht weniger. Gleiches gilt eingeschränkt auch für Twitter. Die ständigen Geschichten davon, dass die Teilnehmer des arabischen Frühlings sich dieser beiden Netzwerke bedienten, um ihre Aufstände zu organisieren, beleiden die Protagonisten. Es ist nachvollziehbar, warum die Geschichte so gerne berichtet wird, denn sie ist sexy. Anstatt über Leute mit Kalashnikovs, die durch Straßen rennen und oliv uniformierte Bösewichte beschießen zu berichten - hat man schon tausendmal gehört - bekommt man hier eine ganz neue Story. Twitter und Facebook, das sind Buzzwords, die beim Leser inzwischen zuverlässig eine Reaktion auslösen. Sie haben den Geruch der weiten Welt und, was ebenfalls nicht vernachlässigt werden darf, sie sind westliche Produkte. Die Araber befreien sich durch die Segnungen westlicher Technik! Was für ein Quatsch das ist, hat zum Glück bereits Cracked.com auseinandergenommen, auf die ich an dieser Stelle gerne verweise.

Das Gerede von der Netzgemeinde ist aber auch so ärgerlich, denn es wirft eine riesige Menge Leute in einen Topf, die sich überhaupt nicht vereinen lassen. Nehmen wir alleine dieses Blog und, sagen wir, den Spiegelfechter. Obwohl unsere Ansichten und Ziele vergleichsweise identisch sind (verglichen etwa mit mit den Jungs vom Blog Red State), streiten sich Autoren und Nutzer ziemlich energisch. In einem Satz einen Konsens zu formulieren dürfte schwierig sein. Für die Autoren von Artikeln über "die Netzgemeinde" aber ist kein Problem, nicht nur den Oeffinger Freidenker und den Spiegelfechter für praktisch identisch zu erklären, sondern gleichzeitig auch noch Sprengsatz und seine deutlich konservativere Leserschaft gleich mit in den Mix zu werfen. Ist ja alles irgendwie Internet. Der große Denkfehler, und eigentlich der Einzige, der in dieser ganzen Sache gemacht wird ist, einfach die abwegige Vorstellung aufrecht zu erhalten, dass im Internet zu sein ein über die Maßen verbindendes Element darstellt. Das war vielleicht vor 15 Jahren so, als man schon stark technikaffin sein musste, um längere Zeit im Internet herumzuhängen; heute aber ist es völlig normal und kann kaum mehr als verbindendes Merkmal benutzt werden. Es ist in etwa so sinnvoll wie von der "Öffentliche-Verkehrsmittel-Gemeinde" oder der "Supermarkt-Gemeinde" zu sprechen. Niemand würde auf die Idee kommen, die politische Meinung der "Autofahrer-Gemeinde" zu Gauck aufzuschreiben. Nur beim Internet gilt diese Schwachsinnsvermeidungsregel nicht, aber das ist, wie bereits gesagt, auch neu, mysteriös und sexy. Die einzige gute Nachricht daran ist, dass solcherlei Meldungen in zehn bis fünfzehn Jahren verschwunden sein dürften, weil dann auch die letzten Fossile, die sich nicht mit dem Medium auskennen, im Ruhestand sind. Aber bis es soweit ist, dürfen wir wohl noch viele Meldungen über Twitter hören, wo man in 140 Zeichen überraschenderweise keine tiefschürfenden Diskussionen führen kann.

19 Kommentare:

  1. Sehr richtig. Ich bin kein Mitglied irgendeiner Gemeinde.

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  2. Traurig, dass ein solcher Artikel, so richtig er auch ist, nötig ist.

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  3. Natürlich gibt es keine "Netzgemeinde", aber es gibt innerhalb des Internets einander weltanschaulich, politisch verbundene BloggerInnen, die im Laufe der Zeit Gewohnheiten ausbilden, sich gegenseitig auf die Schulter klopfen, sich gegenseitig verlinken und in trautem Einvernehmen auch gerne mal unkritisch gegeneinander werden oder gar nicht wagen, sich gegenseitig zu kritisieren, aus Angst, man könnte seine Netz-Freunde verlieren.

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  4. Wobei ich ja finde dass derartige Verallgemeinerungen nix neues sind, oder, zum Beispiel "Die Deutschen", "Die Bayern" und besonders beliebt:"Die Volksseele"!
    Keine Ahnung wer damit gemeint ist oder was besagte Seele sein soll...
    Jedenfalls guter Artikel, genau das trifft es.

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  5. Es gibt eine Netzgemeinde, und sie ist links, noch linker als der offline-Mainstream. Ob sich SF, Oeff und Feynsinn etwa nicht grün sind, spielt insofern keine Rolle. Es gibt genauso etliche kommunistische Gruppierungen, die sich befehden. Trotzdem sind sie im linken Topf. Weil sie bei den meisten Fragen konform sind - gegenüber anderen Lagern. Dass die "Netzgemeinde" bei politischen Fragen grundsätzlich anders, noch linker, tickt als der Mainstream, ist altbekannt. Das wurde etwa zuletzt bei Guttenberg-Umfragen deutlich und thematisiert. Die Netzgemeinde war eklatant anderer Meinung als das Offline-Volk. Oder man nehme http://parteigezwitscher.de/ - das politische Spektrum der Netzgemeinde ist diametral zum Offline-Volk. Oder man verfolge irgendeine politische Debatte auf twitter und facebook ... die linke Meinungsführerschaft ist erschlagend. Ich bin seit geraumer Zeit in diesem linken Sumpf eingetaucht, seitdem hat sich mein Aggressions- und Paranoiapotenzial deutlich erhöht ... und kaum bin ich mal einen Tag ganz draußen, merke ich wieder, dass das real life gänzlich anders tickt, dass es nicht nur Not und Elend gibt und dass ihr die Revolution schlicht vergessen könnt. Zur Zeit mockiert man sich drüber, dass Gauck der Occupy-Bewegung ein schnelles Ende prophezeit hatte. Ja hallo, Occupy ist seit Wochen tot, er hatte recht. Wer rafft es nicht? Die linke Netzgemeinde. (Klar, mag sein, dass es sich im Frühling wieder besser zelten und rumgammeln lässt.)

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  6. Ich hatte mir erlaubt einen Schlenker zu machen auf die typischen Revolutionsgeiferei wie man sie auf feynsinn, duckhome, etepetete-babyshambler und dem ganzen Rattenschwanz findet, wenn man grade nicht glaubt verzweifeln zu müssen an der ach-so-fürchterlichen Meinungsmache der "Konzernmedien und Mietmäuler", die alles perfekt verhindere. Wie erklärt sich iü dieser Teil der Netzgemeinde die große Zustimmung in der realen Bevölkerung zu Gauck? Wie immer: entweder seien die Umfragen manipuliert oder eben die Menschen verdummt. Eine Diskrepanz und eine "Netzgemeinde" könne es ja eh nicht geben, Gleichheitsparanoia. Und wenn du auf was anderes hinauswillst. Sicher gibts auch welche wie dich, Gemäßigtere. Das mag vielleicht auch der größere Teil sein. Weniger exzessiv engagiert. Aber in welchem Maße man sich auch engagiert ... im Netz erkennt man eine weitgehend homogene Gruppe. Eine aktivistische Minderheit.

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  7. Hm,

    "Anders lassen sich die wilden Geschichten, die über die Nutzung der neuen Medien ständig verbreitet werden, eigentlich nicht erklären."

    Ich denke schon. In den "Medien" wird auf biegen und brechen gespart. Einen Praktikanten vor den Rechner setzen, fertig ist die Geschichte. Schön billig. Die muß dann nur noch "personalisiert" werden, nach SPIEGEL Manier, Journalismus, you know ? Also noch das Etikett "Netzgemeide" drauf, das hört sich zumindest fast wie etwas greifbares, wie eine Person an. Fertig.

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  8. hey Lieber Fuentes, Sie reden von Paranoiapotential. Es müßte aber korrekt heißen Paranoia,
    denn der sind sie offenbar schon längst verfallen. Ich bin der Ansicht, dass das was "linke"
    Blogs so von sich geben, den Frust wiederspiegelt, den die (alternativlose) Politik erst verursacht hat. Außerdem wäre es wohl besser sie schauten sich lieber auf rechte neoliberale Blogs um, denn die gibt es mind. im gleichen Umfang wie linke.
    Tip: Bei Paranoia Psychologen aufsuchen !

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  9. Das halte ich für reichlich Unfug. Wie im realen Leben auch ist der Großteil der Leute, die im Netz rumhängen, wenig politisch engagiert. "Exzessiv", wie du das nennst, ist eh nur eine Minderheit. Und von denen ist wiederum maximal die Hälfte dem radikalen Flügel zuzuschlagen. Ich halte die Verallgemeinerung für falsch, und ich bin auch keine gemäßigte Variante von Duckhome und Feynsinn, danke schön. Ich glaube, ich kann was Eigenes sein.

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  10. Wir haben ca. 50 Mio+ Internetbenutzer in Deutschland. Abgesehen von nicht-internet-affinen Rentnern sind Internetnutzer selbstredend deckungsgleich mit der Bevölkerung, insb. hinsichtlich politischer und gesellschaftlicher Anschauungen. Aber unter "Netzgemeinde" versteht man insofern eben nicht die Gesamtheit der Internetnutzer. Sondern nur die, die sich mit Blick auf eine Prämisse zusammenfassen lassen. Gerade die, die sich - wie auch immer - engagieren, von gelegentlichen Meinungsäußerungen über Kommentare, Abstimmungen etc. bis zum Aktionismus in Blogs & co. Und nun ist es mal eine Tatsache, dass sich diese engagierte Gruppe weitgehend homogenisieren lässt, hinsichtlich der Stoßrichtung politischer Überzeugung und Aktionen. Ein links-'liberales' Gemenge, diametral zur Gesamtbevölkerung. Das ist so, das lässt sich nicht leugnen. Das Phänomen wird während der Guttenberg-Chose deutlich und diskutiert: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,748716,00.html (lesen!) ... gewaltige Unterschiede zwischen den Benutzern von Online-Medien, Zeitungen und TV - das hat viele Gründe ... vor allem Jüngere beteiligen sich, Seriöse werden durch den Umgangston abgeschreckt, bei Online-Umfragen stimmen gezielt die jeweils Interessierten ab, im real life bei Analyse-Instituts-Umfragen werden unbescholtene Bürger damit belästigt, der Querschnitt ist breiter. Usw.

    Aber sicher bist du eine gemäßigte Variante von duckhome. Ihr seid beide links-'liberal'. Bei den wichtigen Fragen (und vllt. auch meisten) seid ihr einer Meinung. Ob der eine die Linke wählt und der andere die Grünen ... ja, wo ist der Unterschied?

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  11. Gemeinden gibt es heute noch, ...Donnerstag, 23. Februar 2012 um 13:34:00 MEZ

    ... deswegen ist zu befürchten, dass es eine "Netz-Gemeinde" auch weiterhin noch geben könnte (in die Köpfe der meisten Menschen getragen). Natürlich wird sich die Gesellschaft in Zukunft verändern. Es wird in nächster Zeit mehr Leute geben, die "im Internet sozialisiert" wurden. Aber, das heisst nicht, dass Sie den ursprünglichen Geist des Internets auch mittragen. "Das Internet" könnte sich in nächster Zeit verändern, weil sich das Denken der Menschen verändern könnte. Das globale Internet wird immer nur zu gern lokalisiert, weil es den meisten Leuten nicht in den Schädel passt. Wir müssen aufpassen, dass das Internet nicht irgendwann weniger wird, als die Summe seiner Teile!

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  12. Dieser Artikel ist absolute Spitzenklasse -
    scharfsinnig und zutreffend.

    der Herr Karl


    @Tobias Fuentes
    Jeder blamiert sich so gut wie er kann..

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  13. Zu Netzgemeinde & Sprengsatz:

    "99) m.spreng, Dienstag, 21. Februar 2012, 15:25 Uhr @ 98) Dieter Carstensen

    Der angebliche Proteststurm im Internet gegen Gauck beweist nicht die Macht des Internets, sondern nur, dass auch linke Zitateverdreher und Biographiefälscher das Internet zu benutzen wissen."

    der Herr Karl

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  14. Es gibt keine "Generation Internet" - es gibt nur das abstrakte Feindbild. http://www.vice.com/de/read/jennys-politik-kolumne-13-02-12

    lg,
    JennyGER
    Twitter: @_JennyGER_

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  15. Ich finde es besser wenn millionen Menschen über ein Thema im Internet reden, als wenn in einem verrauchten Hinterzimmer geheime Entschlüsse getroffen werden.

    Natürlich versuchen Personen im Internet andere bezüglich ihrer Meinung zu überzeugen. Gerne auch mal mit Lügen oder Verschwörungstheorien. Doch viele Menschen sind schlau genug sich aus den ganzen Informationen eine logische eigene Meinung zu bilden.

    So ist es auf jedenfall besser als in den letzten Jahrhunderten, indem einige wenige Entschieden ohne interesse nach der Meinung der Gesamtheit.

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  16. ich finde, dein Artikel ist heiter und richtig dargestellt. Ich hoffe ich habe versehentlich nicht auch mal dieses Wort "Netzgemeinde" gebraucht ;)

    Ich würde es mal so ausdrücken:
    Soziale Netzwerke(SN) können ein Instrument dafür sein, auch Informationen zu verbreiten, die im Mainstream weniger Gehör finden.
    Aber viele Communitys in SN sind teilweise in sich verschlossen..es entstehen außer klein u. kleinst Diskussionen auch oft keine Diskussionen mit der "anderen Meinung und Sichtweise".
    Nicht, weil sie sie ablehnen oder nicht hören wollen, sondern weil sie diese nicht hören können...
    Ich empfehle da ein interessantes TAZ-Interview mit dem Netzaktivist Eli Pariser. Pariser spricht dort von Filter-Bubble
    http://www.taz.de/!87459/

    Ich finde die Analyse von Pariser recht griffig.

    Und außerdem: SN sind ja nicht das Internet.

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