Von Stefan Sasse
Im Umfeld der Landtagswahl im Saarland beklagte sich FDP-Generalsekretär Döring über die "Tyrannei der Masse", die er im Zuge der Wahlerfolge der Piratenpartei heraufdräuen sau. Es muss ihm später aufgefallen sein, dass diese Aussage nicht ganz clever war und, höflich ausgedrückt, missverstanden werden könnte, weswegen er sie in der ZDF-Fragerunde spezifizierte: mit "Tyrannei der Masse" sei gemeint gewesen, dass die Debatte im Netz bei aller Auffälligkeit und Dominanz im öffentlichen Diskurs nicht die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung repräsentieren müsse und daher einen Entscheidungsdruck schaffe, der gewissermaßen nicht demokratisch legitimiert sei. In ein ähnliches Horn stieß Boris Palmer in einem Gast-Artikel in der ZEIT, in der argumentierte, dass die Piraten nicht nur derzeit kein echtes Programm hätten und für nichts stünden, sondern quasi immer undefinierbar seien, weil über Liquid Feedback und andere Kanäle ja die Basis permanent das Bestehende per Mehrheitsbeschluss umwerfen könnte. Abschließend stellt er fest, dass dies eine parlamentarische Mitarbeit der Piraten enorm erschwere und Regierungsarbeit praktisch unmöglich mache. Sowohl Palmer als auch Döring sind politische Profis und wissen, wie man eine Schwachstelle beim politischen Gegner ausnutzen kann. Am effektivsten sind solche Manöver immer, wenn sie ein Körnchen Wahrheit beinhalten. Das ist auch hier der Fall.
Selbstverständlich ist es geradezu lächerlich von Döring, die Stuttgart21-Proteste als Beispiel für einen "virtuellen" Protest herzunehmen, der nur im Internet stattgefunden habe, was umso dümmer für ihn ist, als dass S21 ein ziemlich gutes Beispiel darstellt. Die Gegner hatten wesentlich mehr Medienaufmerksamkeit als die Befürworter, verloren die Abstimmung aber mehr als deutlich. Dummerweise spielten dabei weder Internet noch Piratenpartei eine entscheidende Rolle, was Dörings Narrativ deutlich entwertet. Palmer lässt sich auf solche Spielchen erst gar nicht ein und argumentiert allgemeiner, indem er die politischen Prozesse einer parlamentarischen Demokratie heranzieht. Er muss es wissen; die Grünen haben einst selbst versucht, sich gegen sie aufzulehnen, und sein Vater ist der personifizierte Oppositionsprotest.
Die Verwendung von Internet-Entscheidungsfindungen ist prinzipiell eine logische Konsequenz technologischer Entwicklungen und demokratischer Prinzipien. Dieser Sachverhalt wird weder von Döring noch von Palmer behandelt. Eine theoretisch mögliche Mitsprache aller Bürger war früher eine reine Utopie, weil technisch nicht machbar - wie auch? Per DSDS-kompatiblem Telefonanruf für nur 2,50€ die Minute, mit unterschiedlichen Nummern für die jeweiligen Auswahlentscheidungen? Oder gar per Briefwahl? Die Post würde es freuen, aber die Dauer und Kosten allein schieben dem einen Riegel vor. Sämtliche Zugangshürden dieser Art aber werden mit einem Breitbandanschluss hinfällig, der inzwischen von praktisch jedem Experten-Gremium zum Existenzminimum gerechnet werden muss. Vor dem raketenhaften Aufstieg der Piratenpartei war die Partizipationsdebatte im Web 2.0 hauptsächlich auf die Medien beschränkt, die in all den Blogs und sozialen Netzwerken (zurecht) eine Gefährdung ihres Meinungsmonopols sahen. Nun schicken sich die Piraten an, mit einem Partizipationskonzept auch das Monopol der Funktionäre auf die praktische Gestaltung von Politik zu durchbrechen. Wie jede Revolution bringt das Probleme mit sich. Diese Probleme existieren unzweifelhaft, und mit dieser Kritik haben Döring und Palmer, das sei gleich vorab gesagt, vollkommen Recht. Ihr Problem, wozu wir am Ende des Artikels kommen werden, ist, dass sie die falschen Schlussfolgerungen ziehen. Aber der Reihe nach.
Wie jede Technologie ist auch Liquid Feedback (oder was auch immer ihm nachfolgen wird) eine neutrale Sache. Es kann zu guten wie zu schlechten Zwecken eingesetzt werden. Das Internet bietet sowohl progressiven Demokraten als auch hetzerischen Extremisten eine Plattform. Ein Medium kann also nicht per se gut oder schlecht sein. Es kommt auf die Nutzer an. Diese Wahrheit ist banal, aber sie muss angesichts des Niveaus dieser Debatte leider noch einmal ausbuchstabiert werden. Die Verwendung von Internetpartizipation in der Politik, für die Liquid Feedback im Weiteren pars pro toto steht, hat zwei große Anwendungsfelder, die derzeit in der öffentlichen Debatte teils bewusst, teils unbewusst verwischt werden. Das eine Anwendungsfeld ist das Festlegen von Positionen, etwa dem Parteiprogramm. Liquid Feedback wird hier verwendet, um allen Mitgliedern die Möglichkeit zu geben, am Entstehungsprozess von programmatischen Positionen mitzuwirken, anstatt dies Gremien und Ausschüssen auf Parteitagen zu überlassen, die nach strengen Proporzregeln zusammengesetzt sind. Das zweite Anwendungsfeld ist die Nutzung für "kleine Volksabstimmungen", also der Transfer politischer Entscheidungskompetenz vom Funktionär oder Abgeordneten zurück zur Basis beziehungsweise dem Volk. Um es praktischer auszudrücken: die Bauentscheidung für Stuttgart21 hätte demnach nicht der Landtag gefällt, sondern die Einwohner des Landes über die baden-württembergische Liquid-Feedback-Seite. Die Abgeordneten wären dann lediglich Vollstrecker des so sichtbar gemachten Volkswillens.
Die von Döring dramatisch beschworene Bedrohung durch die "Tyrannei der Masse" kann hierbei durch genau jene Mechanismen entstehen, die von den Protagonisten dieses neuen Systems umjubelt wird: es ist die Ausschaltung aller Hinterzimmerdeals und Proporzregelungen. Es ist völlig unmöglich, 20.000 Parteimitglieder zu irgendetwas zu bestechen oder zu überreden. Stattdessen, so die hehre Idealvorstellung, gewinnt das bessere Argument. Dörings Befürchtung ist, dass der Mob gewinnt. Wer jemals eine Internetdiskussion in einem Forum oder Kommentarsektion eines Blogs mitgemacht hat, weiß, dass dieses Problem nicht von der Hand zu weißen ist. Noch einmal: es besteht kein Automatismus. Der Mechanismus selbst ist neutral. Es hängt einzig an den Nutzern. Nur bietet Liquid Feedback wenig Chancen für eine Korrektur einer Mehrheitsmeinung, die eine Minderheit unterdrückt. Die neuen Partizipationsmechanismen kennen (noch) keinen vernünftigen Minderheitenschutz, wie ihn die Proporzregeln und Ausschusssitzungen der etablierten Systeme kennen. Wenn die Welle einmal in Bewegung ist, lässt sie sich kaum mehr aufhalten. Das ist die Gefahr. Die Chance ist natürlich klar ersichtlich und wird von den Piraten ja auch mit geradezu religiöser Inbrunst verkündet: endlich wird der Bürger mündig und nimmt sein Schicksal selbst mit in die Hand. Die Demokratie findet ihre Verwirklichung in der Teilhabe eines jeden, der teilnehmen möchte.
Und genau da liegt die Crux, und die sehen weder Piraten, noch Döring, noch Palmer bislang. Im Umfeld der Wahl Bernd Schlömers wurde es bereits thematisiert, aber eher am Rande: es nehmen niemals alle teil. Die Piraten öffnen ihre Parteitage für alle Mitglieder, aber es läuft die äußerst neoliberale Realität hinaus, dass diejenigen hinfahren, die es sich leisten können. Repräsentativ ist das nicht. Auch im Liquid Feedback stimmen manche mehr ab als andere, wieder andere betreten die furchtbar unkomfortable Plattform nicht einmal. Wenn aber nur ein Teil überhaupt die Partizipationsmöglichkeiten wahrnimmt, dann verkommt Liquid Feedback zu einer reinen Demokratiesimulation, in der immer dieselben paar gut informierten und vernetzten Leute den Ton angeben. Wer sehen will, wie so etwas in der Realität aussehen kann, braucht sich nur einmal die Wikipedia und ihr Admin-System vor Augen halten. In der Theorie ein Open-Source-Lexikon, an dem jeder teilnehmen kann, in der Praxis von deutlicher und völlig intransparenter Zensur geprägt, in der gewinnt, wer in Flamewars den längeren Atem hat. Diese Gefahr ist für die Piraten eine sehr reale, und über kurz oder lang (eher kurz) wird dieses Problem auch auf der Tagesordnung stehen. Ihre politischen Gegner werden die öffentlich ausgetragenen und dokumentierten Auseinandersetzungen ebenso weidlich nutzen wie die Medien, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Der Traum von der Partizipation kann sich so schnell in einen Albtraum verwandeln, Theorie und Wirklichkeit drastisch auseinanderklaffen. Die Grünen können davon ein oder zwei Liedchen singen.
Das andere Problem hat Palmer in größerem Detail angesprochen. Wenn jede Entscheidung prinzipiell zu jeder Zeit der Basis unterworfen werden kann, dann steht die Partei tatsächlich für alles und nichts gleichzeitig. Wenn sie tatsächlich jemals an die Regierung kommen sollte und jede Entscheidung von der Basis getroffen wird, wie soll da jemals mit dem Koalitionspartner Politik geplant und gemacht werden? Wie soll auf internationale Krisen reagiert werden? Die vollständige Überflüssigmachung des repräsentativen Abgeordneten, die das System als ultimative Konsequenz in sich trägt, ist gleichzeit auch die völlige Verantwortungslosigkeit. Eine (notwendig) anonyme Masse von Abstimmern kann man nicht für ihre Entscheidungen verantwortlich halten. Dieses tiefgehende Problem ist bislang noch kaum angedacht. Sollten die Piraten sich aber als politische Kraft etablieren können und irgendwann auch regieren wollen, werden sie kaum darum herumkommen. Bereits jetzt zeigt sich eine Dominanz einzelner prominenter Politiker wie Lauer oder Weisband, ob sie das wollen oder nicht.
Worin aber liegen die großen Chancen von Liquid Feedback? Partizipation ist ein hohes Gut. Die angesprochenen Probleme sind ernst und müssen angegangen werden, aber sie verurteilen das Projekt nicht zum Scheitern. Zum Ausarbeiten etwa von Parteiprogrammen und Grundsatzentschlüssen und auch zur Basisentscheidung über grundlegende Entscheidungen - etwa die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen - eignet es sich praktisch ohne Abstriche. Im tagesaktuellen politischen Prozess kann es als feingliedriges Evaluations- und Petitionsinstrument dienen, das ohne die schwerfällige Formalitäten des bundestagseigenen Petitionssystems auskommt. Die jeweiligen Fraktionen könnten so in ständigem Kontakt mit dem engagierten Teil der Basis bleiben, ohne in ein allzu rigides Korsett gezwungen zu werden, das ihnen und der Partei jegliche Bewegungsfreiheit nimmt. Das Versprechen der Piratenpartei auf politische Partizipation darf keinesfalls aufgegeben werden, und die Idee, die hinter Liquid Feedback steckt, ist wegweisend. Wie jedes große Projekt wird es Stolperstellen geben, werden Geburtsfehler offenbar werden und wird es Änderungen geben. Es gilt, einen realistischen Blick auf die Chancen und Probleme des Systems zu haben, erstere zu fördern und zu verstärken und letztere bereits in den Anfängen zu bekämpfen.
der beschriebene fehler kann doch gar nicht auftreten, weil man nicht an den "normalen" mitgliedern, meinetwegen des bundestags, vorbeikommt, die natürlich jederzeit veto einlegen könnten.
AntwortenLöschensollte das einmal möglich sein, kommt garantiert niemand auf die idee LQ 1:1 zu übernehmen wie es jetzt ist(unter der blödsinnigen annahme es würde sich bis dahin nicht weiterentwickeln).
und überhaupt: der typ ist bei den grünen. hallo?! les doch nicht immer alles was komische leute sich aus dem gehirn saugen. :D
Feiner Artikel. Ich finde das erste Problem sogar noch bedeutend größer und drängender. Wikipedia ist ein gutes Beispiel, viele der Probleme spielen sich aber auch in stinknormalen Foren ab, und zwar meist um bedeutend unwichtigere Dinge und abseits der Öffentlichkeit.
AntwortenLöschenIch kann mir ehrlich gesagt auch nicht vorstellen, wie man das System in absehbarer Zeit so hinbekommen kann, dass es von einer repräsentativen Mehrheit genutzt wird und das noch möglichst, ohne dass es zu öffentlichen Selbstzerfleischungen kommt. (Die vermutlich wiederum dazu führen würden, dass die Teilnehmerzahl zurückgeht)
Das zweite Problem was ich hier sehe und du teilweise auch ansprichst, ist dass vermutlich ganz andere Hierarchien entstehen werden, die nicht unbedingt demokratischer sein müssen als in jetzigen Parteien. Die mit dem längsten Atem, den besten Nerven und der größten Klappe bleiben über (gut, das ist vermutlich in jeder Partei so), aber es könnte auch einen deutlichen Verschleiß an guten Leuten geben, die einfach nicht den Nerv auf die hundertste Internetdiskussion inklusive öffentlichem Druck und Rumgebashe haben. Wie gesagt, das ist vermutlich gar nicht so unterschiedlich zu anderen Parteien, allerdings haben die Piraten ja den Anspruch, alles ganz anders machen zu wollen. Und das sehe ich noch nicht, meine Befürchtung ist, dass man zwar etwas anders macht, die demokratischen Defizite aber vielleicht nur verschiebt, statt sie aufzuheben.
1. Ich kann deine Eingangskritik an Döring schwerlich nachvollziehen, wenn du ihn sogleich vollumfänglich bestätigst. Das Gleiche auch bei deinem früheren Abstreiten der Existenz einer "Internetgemeinde". Du beschreibst jetzt deutlich wie eine Internetgemeinde entsteht und dass sie die Mehrheitsmeinung verzerrt. Döring hat mit "Tyrannei der Masse" augenscheinlich genau das gemeint, was du in deinem Beitrag näher dargestellt hast.
AntwortenLöschen2. Dass Liquid Feedback nicht per se rund läuft, machst du primär am "Nutzer" fest, danach an der Art der "Nutzung". Anstatt das "Ob" einer - exzessiven - Nutzung von Liquid Feedback / direkter Demokratie überhaupt zur Diskussion zu stellen. Und das, obwohl du - zutreffend - von kollektiver Verantwortungslosigkeit sprichst (bloß: in welchem Zusammenhang?). Die Probleme (wenig Beteiligung und kollektive Verantwortungslosigkeit) verschärfen sich doch nur, je häufiger und je konkreter man direkt abstimmen lässt. Gleich, ob das auf gesamtgesellschaftlicher oder Parteiebene geschieht. Das Extrem ist der demokratische Sozialismus = Tyrannei und vollständige Unfreiheit. Wenn jeder verantwortlich ist, fühlt sich konkret niemand verantwortlich. Die Schuld dann auf den "Nutzer" zu schieben, ist zynisch. Das Ideal ist ein direkt-demokratischer Grundkonsens über gesellschaftliche Eckpfeiler. Je häufiger man das über Einzelentscheidungen aufweichen will, umso mehr organisatorische Probleme und unbeabsichtige negative Konsequenzen resultieren. Das ist unvermeidlich.
Das Ganze ist so, als ob man für eine Entscheidung würfeln lässt, wobei nur bei einem Pasch eine akzeptable Lösung zu erwarten ist. Ein Pasch ist selten. Da kann man sich doch nicht hinstellen und lapidar sagen, 'dieses tiefgehende Problem' sei 'bislang noch kaum angedacht'. Nein, das Würfeln ist untauglich. Je häufiger man würfeln lässt, umso weniger beteiligen sich und scheren sich schließlich überhaupt ums Ergebnis. Aber keine Bange, dass nur selten ein Pasch rauskommt, das ist doch nur ein Geburtsfehler. Vorteil des Würfelns ist, dass man nicht Bürgervertreter die Fehler machen lässt, sondern halt die Bürger einfach selbst. Fehler, vor denen du sogar explizit warnst und keine Lösung parat hast. Ich versteh dich nicht. Selbst Quoren denkst du hier nicht mal an.
Ich verstehe nicht ganz, worauf du rauswillst. Was meinst du mit Quoren etc.?
LöschenJe nach Gewicht einer demokratischen Entscheidung wird ggf. ein Quorum als Hürde vorausgesetzt. Wenn du von umfassender direkter Demokratie sprichst oder diese andeutest oder gar keinen Sinn für die Relevanz einer solchen Frage hast, sind die Grenzen wichtig. Oder wer stimmt überhaupt ab? Bei S21 kommen 1,5 Mrd vom Bund ... und darüber soll nur BaWü abstimmen? Und mit welcher Mehrheit? Insg. zum Schärfen des Problembewusstseins lesenswert: http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=17
LöschenDirekte Demokratie ist per se weniger schädlich als repräsentative, aber wenn im Rahmen unserer gegenwärtigen Allmachts-Demokratie mittels Liquid Feedback die Weichen dahin gestellt werden, diese Allmacht noch exzessiver auszuleben, wird mir sehr unwohl, gelinde gesagt.
Korrigier mich, wenn ich falsch liege, aber Liquid Feedback hat ein Qurom.
LöschenWas für ein Quorum denn? Ich mein doch kein Beteiligungsquorum, sondern Zustimmungsquoren. Qualifizierte Mehrheiten etc. Und vorab die Frage, was und wieviel überhaupt zur Disposition steht. Das ist für mich die Kernfrage. Etwas, was für dich scheinbar gänzlich irrelevant ist.
LöschenIch bin mir immer noch nicht im Klaren, worum es dir geht.
LöschenTja, ich glaube nicht, dass man es noch deutlicher formulieren kann. Ich weiß auch nicht, ob du parteiinterne Prozesse vor Augen hast oder Gesamtgesellschaftliches.
LöschenStimmst du denn wenigstens darin überein, dass Demokratie Grenzen braucht?
Das hilft vllt auch weiter: http://ef-magazin.de/2012/05/15/3527-demokratie-freiheit-ist-unfreiheit
Aber mein erster Link hat dich sicher auch schon nicht interessiert.
Die in den Artikeln angesprochenen Probleme dachte ich eigentlich angsprochen zu haben. In meiner Beschränkung von Liquid Feedback auf bestimmte Bereiche dachte ich auch, einen ersten Lösungsansatz präsentieren zu können.
LöschenNein, das macht keinen Sinn. Auch wenn du oben von "kleinen Volksabstimmungen" sprachst und deinen letzten Absatz exklusiv auf parteiinterne Prozesse bezogen wissen willst, bleibt der durchgängige Unterton von Ausweitung und gar explizit die Vorstellung/Vorstellen-Können vom Wegfall der Parlamentsdemokratie im vorletzten Absatz. Wer so weit geht, braucht Problembewusstsein für die Grenzen von Demokratie. Ich habe lange über deinen Text nachgedacht und wollte dir nicht Unrecht tun (so wie du mit Döring, dazu könnt ich auch noch mehr sagen). Liquid Feedback in unserer Demokratie, so allmächtig wie sie ist, wäre der gesellschaftliche Supergau. Das kann wollen; wollen ja auch Linke. Aber von dir erwarte ich Problembewusstsein.
LöschenKopfschütteln erntest du aber auch dabei ... hätten wir LQ vollumfänglich, gäbs heute weder Euro noch Rettungsschirme. Konträr zu deiner gewandelten Mainstreamposition.
Ich glaube, du interpretierst meine Position radikaler als sie ist. Ich sehe den Nutzen von LQ hauptsächlich bei Langzeitentscheidungen, etwa programmatischen Grundlagen und Ähnlichem, oder eben einer Entscheidung über eine Koalition. Ich sehe dezidiert keine Anwendungsmöglichkeiten für den demokratischen Alltagsprozess. Hier braucht es Abgeordnete und parlamentarische Strukturen, da bin ich völlig bei dir.
LöschenAber wieso tue ich Döring d.M.n. so Unrecht? Ich bashe ihn hauptsächlich für den misslungenen S21-Vergleich.
Nun gut. Demokratische Alltagsprozesse lassen sich doch letztlich nicht von Kernentscheidungen trennen. Wenn im Alltagsgeschäft auf Krisen reagiert werden muss, ist das "Wie" eine Kernfrage. Wenn man die Basis da nicht einbeziehen wollte, wäre aber was los ...
LöschenZu Döring. Ein Vergleich ist was anderes als ein Beispiel, und ein Beispiel für Aktionismus ist was anderes als ein Beispiel für Internethype. Wohl aber kann ein Beispiel für Aktionismus einen Vergleich zu Internethype begründen. Wäre S21 ein Internetphänomen, wäre es nicht nur ein Vergleich, sondern gar ein Beispiel.
S21 ging nicht von den Piraten aus und kann daher auch kein Beispiel für piratische Meinungstyrannei sein. Verweise auf einen nicht-vorhandenen Internethype tun nichts zur Sache (und sind auch falsch, denn natürlich wurde der Protest nicht zuletzt im Netz angefacht). S21 wurde massiv von deren Gegnern kolportiert, mit radikalen Mitteln und dem Selbstverständnis der Mehr- und Überlegenheit. Die Gegner hatten de facto auch die Mehrheit, siehe Umfragen, eine Zwei-Drittel-Mehrheit sogar. Schließlich stand die ganze sich anschließende Debatte unter dieser Prämisse, und mit dem Rechfertigungsversuch, dass trotzdem weitergebaut werden müsse. Nachdem der Hype vorbei war, drehte sich die Mehrheitsmeinung und man war für S21. Ein perfektes Beispiel wie eine aktivistische Minderheit das Volk verrückt machte und die passive Mehrheit aufscheuchte, aber dennoch nicht repräsentierte. Ähnlich läuft es im Internet ab, die Gefahren hast du im Beitrag selber geschildert. Es beteiligen sich die engagierten Nerds, die das Meinungsbild verzerren. (Dass es eine "Internetgemeinde" ist offensichtlich; das hatte ich an anderer Stelle auch näher erläutert.) Oben behauptest du nun das würde insb. Döring verkennen. Nein, das tut er natürlich nicht. Das ist ja der Hauptgrund, warum er zu seiner Einschätzung der "Tyrannei der Masse" kommt. Es ist bloß dumm formuliert. Er hat "Tyrannei der Mehrheit" und "Verabsolutierung der Minderheit" vermengt.
Klar kann das keine absolute Trennung sein, das geht generell nicht, logisch. Aber es gibt Entscheidungen, die sind dringlich - viele tagespolitische Fragen - und einige, die sind es nicht, vor allem strategische und programmatische und die meisten tagespolitischen Fragen. Ramsauers Flensburg-Reform beispielsweise wäre so ein Beispiel. Dass LQ nicht gerade für die Entscheidung über den Libyen-Einsatz geeignet wäre, steht auf dem einen Blatt. Warum sie an anderen Stellen nicht tun soll, erschließt sich mir so nicht.
LöschenZitat: "Eine theoretisch mögliche Mitsprache aller Bürger war früher eine reine Utopie, weil technisch nicht machbar - wie auch?"
AntwortenLöschenFrüher reine Utopie? In der Schweiz dürfen alle Bürger seit 1848 mitsprechen - und zwar per Volksabstimmung. Geht zwar langsamer als Internet, aber immerhin. Selbst 160 Jahre danach sind wir in Deutschland noch nicht so weit. Und ich denke, das liegt nicht an der Technik, sondern am Unwille des Establishments, die Bürgerinnen und Bürger wirklich mitreden zu lassen (egal auf welchem Weg). Bei uns erschöpft sich nämlich Mitsprache auf die Stimmabgabe alle vier oder fünf Jahre. Machen die Parteien dazwischen Murks, wie beispielsweise die SPD mit Hartz IV, muss man auf den nächsten Wahltag warten.
Ne Volksabstimmung ist aber nicht das, was ich meine. Die kannst du nicht allzu häufig machen. Eine permanente Partizipationsmöglichkeit braucht bestimmte technische Möglichkeiten.
LöschenListe der eidgenössischen Volksabstimmungen:
Löschenhttp://de.wikipedia.org/wiki/Liste_eidgen%C3%B6ssischer_Volksabstimmungen
Die Liste ist ziemlich umfangreich, man kann das also doch recht häufig machen. Zugegeben, wir können uns natürlich über die Definition von "häufig" streiten. Ein Fortschritt gegenüber dem politischen System Deutschlands ist es allemal.
Ja, aber bei Volksabstimmungen hast du halt immer nur die Auswahl von Ja oder Nein über ein vorformuliertes und -diskutiertes Thema.
LöschenAber was genau ist dann der Unterschied? Warum sollte eine LQFB gestützte Volksabstimmung die angesprochenen Mängel im Gegensatz zur klassischen Form aufweisen? (Ausgenommen Beteiligungsproblem internetferner Schichten)
AntwortenLöschenWas meinst du eigentlich mit "völliger Verantwortungslosigkeit"? Meiner Meinung nach bewirken gerade (wenn nicht nur) eigene Fehler Nach- und Umdenken. Bei der "Verantwortungslosigkeit" geht es meiner Meinung nach in erster Linie darum, ob ein System fähig ist eigene Fehler zu erkennen, zu kompensieren und in Zukunft zu vermeiden - nicht darum, ob man einen findet, dem man die Schuld (zurecht) zuweisen kann, was höchstens das Mittel zu diesem Zweck ist. Und selbst wenn es nur um Schuldzuweisungen ginge - Warum meinst du, dass eine solche Institution als Ganzes nicht ihre Fehlentscheidungen "verantworten" könne?
Eine Volksabstimmung per LQFB ist das Gleiche wie eine normale, nur Internet, das ist klar. Mir geht es um die von den Piraten angestrebte permanente Partizipation. Eine Volksabstimmung ist ein singuläres Ereignis zu einem bestimmten Thema, mit einer "Ja"- oder "Nein"-Entscheidung. Aber echte Partizipation ermöglicht ja ganz andere Mechanismen. Im LQFB kannst du ja Zusatzanträge bringen, die Themen diskutieren, etc.
LöschenWas die Verantwortung angeht: bei Fehlern hast du natürlich Recht, aber meist lässt sich in der Politik nicht so einfach ausmachen, was denn ein "Fehler" war. Schau nur, wie umstritten die Agenda2010 immer noch ist. Letztlich läuft die Entscheidung, ob etwas ein Fehler ist oder nicht, anhand von Mehrheiten.
"Letztlich läuft die Entscheidung, ob etwas ein Fehler ist oder nicht, anhand von Mehrheiten."
Löschen-->Ich meine eher, über veröffentlichte Meinung.
Oder "Herrschaftsverhältnisse" - worauf Du im Blog u.a. mittels PM und "Imperium schlägt zurück" eingingst.
Das ist ja das, was ich meine ^^ Eine Mehrheit empfindet etwas als Fehler, oder eben nicht - wie sie zu diesem Entschluss kommt bleibt offen.
LöschenBin am Überlegen, ob ich zusätzlich zu meinem Beitrag, http://mokanterbeobachter.blogspot.com/2012/05/replik-auf-kritik-von-boris-palmer-in.html, hierauf auch noch eine Antwort verfasse.
AntwortenLöschenMomentan vielleicht nur kurz:
Aktuell ist man als "normales Parteimitglied" de facto nur "Stimmvieh" - egal wie positiv man das auch konnotieren will. Wer keine Zeit oder Lust hat, nach diversen Ämtern zu streben und Andere abzusägen, kann und wird INNERPARTEILICH (!) realiter nichts mitbestimmen.
Es interessiert niemanden.
Weil ein TOP-DOWN-Ansatz besteht.
Das zentrale Organisationsprinzip der Gesellschaft dürfte "Meritokratie" sein. Weshalb u.a. Macht und Einfluss über Positionen und deren Erringung verteilt werden.
Meiner Ansicht nach war dies bis zum "Internetzeitalter", jedenfalls im politischen Prozess, halbwegs zu rechtfertigen.
Mittlerweile ist dies nicht mehr der Fall - niemand muss Positionen erstreben um grundlegende Entscheidungen zu treffen.
"die Basis permanent das Bestehende per Mehrheitsbeschluss umwerfen könnte"
--> Halte ich für Unsinn, da "das Bestehende" im Idealfalle ja erst durch Mehrheitsbeschluss herbeigeführt worden ist.
Diese Logik greift hauptsächlich im Kontext der "etablierten Parteien", die nämlich tatsächlich Angst vor "Umwürfen" haben. Aber eben, weil sie das "Stimmvieh", siehe oben, sonst nicht fragen.
Und da gärt es dann ggf.
Ich glaube nicht, Quoren eingerechnet, dass LQFB-Entscheidungen von einer Mehrheit, die das vertreten und dafür Kopf, Parteibuch und Geld hinhalten muss, weniger akzeptiert wird als ein Delegiertenparteitagsbeschluss.
"Nur bietet Liquid Feedback wenig Chancen für eine Korrektur einer Mehrheitsmeinung, die eine Minderheit unterdrückt."
-->Dazu fällt mir dann bspw. nur der Beschluss ein, der Staat solle unschuldige Menschen töten.
Ach, sowas "schlimmes" habe es nur früher, nicht aber in unserer "aufgeklärten", minderheitsmeinungschonenen parlamentarischen Demokratie gegeben?
Dann sei an das "Luftsicherheitsgesetz" erinnert.
Wodurch wurde es, zurecht, gekippt?
Dem Bundesverfassungsgericht.
Dieses dürfte durch die Piraten, erneut, eher gestärkt werden.
Parlamentarismus als Funktionalismus, mehr ist er nicht, bewirkt nicht aus sich heraus zwingend "Respekt vor Minderheiten" - das geschieht nur bei ausreichend starker Opposition. Es gab aber diverse Momente, da sie kaum oder gar nicht vorhanden waren.
Weshalb kam es wohl zur Herausbildung der LINKEn und Piraten?
"Wenn aber nur ein Teil überhaupt die Partizipationsmöglichkeiten wahrnimmt, dann verkommt Liquid Feedback zu einer reinen Demokratiesimulation, in der immer dieselben paar gut informierten und vernetzten Leute den Ton angeben."
-->Och nö, bitte, plumper geht es kaum noch.
Man besehe sich die Wahlbeteiligung der letzten LTW in Sachsen-Anhalt. Die dortige Regierung repräsentiert bei näherer Berechnung NICHT die "Mehrheit" der im Land lebenden Menschen.
Damit "regiert" eine "Minderheit" - oder will man das in Abrede stellen?
Und? Wo sind wir? Fordern wir eine Wahlpflicht, was längst notwendig wäre und im parlamentarischen System irgendwann zwingende Folge sein muss?
Nein.
Es kann und darf jeder wählen, muss es aber nicht.
So ist es auch bei LQFB - noch geringer können Zugangshürden kaum sein.
"Wenn sie tatsächlich jemals an die Regierung kommen sollte"
-->Man verabschiede sich doch endlich mal von der alten "Regierungsrationalität" des aktuellen Regierungssystems.
Ich halte die Piraten für eine prinzipiell interessante Mehrheitbeschafferin in einem Minderheitenregierungssystem, also tolerierend bspw.
So braucht es keine festen, starren, Koalitionsverträge und internet Abstimmungen müssen sich nicht zwingend an Verträgen orientieren.
Und wenn es einer "Mehrheit" heute nicht passt, wird neu gewählt.
Mehrheitsbeschlüsse: Wenn einmal getroffene Entscheidungen jederzeit revidierbar sind, muss man nur einfach oft genug abstimmen lassen, bis das gewünschte Ergebnis rauskommt - siehe EU-Referendum in Irland, beispielsweise.
LöschenUnterdrückung Mehrheitsmeinung: Ich rede spezifisch von parteiinternen Mechanismen, da greift das BVerfG nur im Falle von Verfassungsfeindlichkeit. Wenn die Piraten beschließen würden, dass ab sofort alle Kinderschänder erschossen werden, kommt das natürlich nie am BVerfG vorbei - aber bis dahin wird die Partei zerlegt sein.
Repräsentation: Was ist daran plump? Das Problem ist real. Schau dir mal an, wie viele Leute im LQFB abstimmen. Da kriegt jede Kommunalwahl in Brandenburg eine höhere Wahlbeteiligung. Das Problem ist das Gleiche. Die niedrigen Zugangshürden sind davon abgesehen so niedrig nicht; wenn du informiert abstimmen willst musst du dich durch die Anträge wälzen und weiter recherchieren, am besten der Diskussion folgen etc. Das alles kostet wahnsinnig Zeit, die nun mal nicht jeder hat. Und im LQFB gibt es viele Abstimmungen und Anträge.
Regierung: In Deutschland wird mit Koalitionen regiert. Die Piraten können mitstimmen oder es lassen, es wird keine Sau interessieren so lange das so ist. Diese Stabilität ist in der politischen Mentalität verankert. Man kann das doof finden, aber es ist einfach so. Irgendeine Partei muss Kanzler und Minister stellen. Und die brauchen zum Regieren eine Mehrheit.