Dienstag, 12. Juni 2012

They just don't get it

Von Stefan Sasse

"Wir dürfen Deutschland nicht überfordern", warnt Michael Hüther, Chef des arbeitgebernahen Instituts IW, in einem Gastbeitrag in der ZEIT. Deutschlands Solidarität dürfe nicht überstrapaziert werden. Ins gleiche Horn blasen andere Kommentatoren, besonders wenn sie auf den "moral hazard" hinweisen, der angeblich droht, wenn man die ganzen südländischen Versager raushaut und denen damit nur den Anreiz gibt, auch künftig nicht auf deutsche Tugenden zu achten. Michael Hüthers Warnung vor der "Überstrapazierung der Solidarität" jedoch trifft den Nagel auf den Kopf: they just don't get it. Es geht nicht um Solidarität. Es geht nicht um die gefälschten griechischen Bilanzen oder die genaue Deutung der Target-2-Salden. Menschen, die auf die oben beschriebene Weise argumentieren, leben offensichtlich in einem anderen, der Welt entrückten Deutschland, einem Deutschland, das irgendwo auf einer Insel liegt oder wie die Schweiz zwischen lauschigen und entlegenen Berghügeln. Ein Volk von emsigen, bodenständigen Arbeitern ohne hochfliegende Ambitionen, das ist quasi das Selbstbild dieser Leute, und ein Großteil der Deutschen hängt diesem Bild auch gerne nach. Kein Vergleich mit der notorischen Selbstüberschätzung der Franzosen oder Briten, die immer noch an Grande Nation und Empire glauben. Es ist von einer geradezu beißenden Ironie, dass die Deutschen nach zwei verlorenen Weltkriegen das Ziel der Hegemonie Europas aufgaben und diese Hegemonie nun nicht einmal mehr erkennen können, wenn man sie ihnen quasi auf dem Tablett serviert. Denn genau das ist in den letzten Monaten passiert: Deutschland ist eine Großmacht geworden, die Großmacht, die es früher einmal sein wollte. Ohne Deutschland geht in Europa gar nichts mehr. 

Andere haben das längst verstanden. Sarkozy hat in seine besonders für französische Verhältnisse geradezu schamlosen Anbiederung an Merkel und ihre "deutschen Tugenden" einen merkwürdig unbeachteten Kotau vor dem so lange misstrauisch beäugten Nachbarn gemacht. Der britische Premier Cameron hat Angela Merkel wiederholt aufgefordert, doch bitte endlich den Euro zu retten. Die Briten, die sich seit jeher aus europäischen Angelegenheiten soweit wie möglich heraushalten! Zuletzt hat Cameron diesen Aufruf sogar mit Barrack Obama zusammen gemacht. Reaktion in Deutschland? Null. In der Newsweek kommentiert der konservative Kolumnist David Frum, der wichtigste "Swing State" für die Präsidentschaftswahlen 2012 seit Deutschland, dessen Politik in den kommenden Wochen entscheidend für die USA sei. Natürlich, das sind PR-Statements und mediale Übertreibungen, aber wer hätte noch vor drei Jahren gedacht, dass jemand so etwas sagen würde? Damals hätte man sich beschwert, den US-Präsidenten nicht wählen zu dürfen, obwohl dessen Politik so viel auf der Welt entscheidet. Jetzt hoffen die Amerikaner, in ihren eigenen Wahlen nicht zu sehr von deutscher Politik beeinflusst zu sein. 

Damit keine Missverständnisse aufkommen: es gab wohl nichts Gesünderes für Deutschland, als alle Großmachtphantasien zu den Akten zu legen, sich auf das oben skizzierte Selbstbild der fleißigen und bescheidenen "Schaffer" zu beschränken und die große Bühne anderen zu überlassen, besonders wenn die sie so bereitwillig und gerne ausfüllten wie die Franzosen. Spätestens seit der Wiedervereinigung und der EU-Osterweiterung aber ist ein Prozess in Gang gesetzt worden, den die Briten und Franzosen 1990 (offensichtlich zu Recht) gefürchtet haben: Deutschlands Gewicht steigt, seine Macht wächst, und es setzt sie in eigener Sache ein (oder dem, was es dafür hält). Die Bundesrepublik ist die mit Abstand größte Wirtschaftsmacht in Europa. Man kann den Großen dieses Landes gerne glauben, dass sie keine Großmachtallüren haben. Merkels harter europapolitischer Kurs beschränkt sich letztlich darauf, die Interessen der deutschen Finanz- und Exportindustrie durchzusetzen. Allein, das hilft nichts: das Land ist schlicht zu groß, um sich in einen Isolationismus flüchten zu können. Seine Nachbarn haben das begriffen. Daher auch die Forderung nach deutscher Führung, die in unseren Ohren so fremd und gefährlich klingt und es vermutlich auch ist. Sie ist allerdings auch, in einem weiteren ironischen Seitenhieb des Schicksals gegen Merkel, alternativlos, so sehr sich die Kanzlerin auch sträubt. 

Deutschland ist keine Insel und kein entlegener Staat an der Peripherie der EU, der einfach ein bisschen mehr Geld hat als die anderen. Das gilt etwa für Schweden, oder für Finnland oder Österreich. Die fragt aber auch keiner danach, den Euro zu retten. Das hat nichts mit Solidarität zu tun, wie Hüther irrtümlich mutmaßt. Deutschland hat seit den mit dem Vertrag von Nizza begonnen EU-Reformen versucht, eine delikate Balance zwischen gestiegener Macht (etwa durch die Sitze im EU-Parlament) und Begrenzung allzu offener Machtausübung (etwa durch die enge Zusammenarbeit mit Frankreich) zu schlagen. Solange es nur um ökonomische Standortvorteile ging, lief das auch ganz gut. But now push comes to shove, wie die Angelsachsen sagen würden. Alle Einsätze liegen auf dem Tisch, und die Karten müssen gezeigt werden. Will Deutschland weiter die Illusion leben, ein kleines, unbedeutendes, strebsames und tugendhaftes Land zu sein? Dann ignoriert es den implizit aufgestellten Führungsanspruch und überlässt Europa sich selbst. So gerne die Franzosen etwa diese Führungsrolle selbst übernehmen würden, sie können es nicht. Ohne Deutschland geht nichts mehr. Niemand kann wissen, wohin die Reise geht, wenn die Bundesrepublik sich entschließt, tatsächlich eine Führungsrolle zu übernehmen. Eines aber ist sicher: es wird teuer. Das Geld, das dann aus Deutschland abfließt, fließt nicht aus Solidarität. Es ist der Preis, den ein Hegemon zahlen muss. Angela Merkel sollte einmal die Briten oder Amerikaner fragen. Die kennen sich aus mit so was.

16 Kommentare:

  1. „ Es ist der Preis, den ein Hegemon zahlen muss.“
    ... und der Hegemon braucht einen Antrieb ,den „Friedensmotor“!
    Der Krieg bekommt mir, wie eine Badekur!
    Das hat bekanntlich ein späterer Reichspräsident gesagt. Fordert Gauck von seinen glücksüchtigen/glückseligen-freien Untertanen, dass sich gefälligst dieses Kurgefühl bei allen Bundesbürgern einstellen möge?

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  2. Nur dieses Video zu diesem Eintrag:

    http://www.youtube.com/watch?v=GhGOxnPH0V0

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  3. Gute Gedanken! In der Eurokrise wird es natürlich am deutlichsten, aber zb auch in der Außenpolitik ist mir schon häufiger der Gedanke gekommen, dass Deutschland seine Rolle noch nicht so wirklich gefunden hat.
    Bin mir auch nicht sicher, ob man diese neue Machtposition gar nicht sieht oder überhaupt nicht wahrhaben will und sich deswegen lieber um Nebensächlichkeiten kümmert. Aber: woran liegt das? Nur an unserer Vergangenheit? Daran, dass es eine unfreiwillige Hegemonie ist? Oder vielleicht explizit an der Regierung bzw Merkel?
    Ich verfolge das ganze Drama ehrlich gesagt nur noch rudimentär, weil mir fast alle Beiträge vorkommen wie aus einem Paralleluniversum und imo immer mehr ins Absurde abdriften. Während auf der einen Seite gerade der Euro hochgeht, sitzen die Deutschen vor ihren Tabellen und rechnen Target2-Zahlen von links nach rechts.

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  4. So, so, der Sasse will also mehr deutsche Führung. Mit solchen Leuten wie Merkel an der Spitze und ihren Freunden aus dem Bankenumfeld, Versicherungsumfeld und der Industrie.

    Und bezahlen soll es der kleine dumme Michel. Dafür macht Sasse hier Werbung. Einfach nur widerlich.

    Aber die entscheidenden Vorschläge zur Euro-Thematik kommen aus ganz anderen Ecken. Beispielsweise zum Thema Bankenunion kürzlich von Barroso.

    Merkel ist weiterhin die Getriebene. Sie wird von den Ereignissen gehetzt. Daran wird sich nichts Wesentliches ändern. Die Type ist einfach unfähig. Wir sollten uns nicht wünschen, dass Unfähige noch mehr Macht bekommen.

    That's what you should have learned by now.

    Aber dazu müsste man aus der Geschichte auch lernen können. Das scheinen allerdings manche demonstrativ nicht zu wollen.

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  5. Ja, man kann den Arbeitnehmern weiter ihren gerechten Anteil an den Produktivitätszuwächsen verweigern.

    Und damit 'Abflüsse' ins Ausland finanzieren.

    Der Artikel ist bar jeglichen Verständnisses für die Krisenursachen.

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  6. Denken wir die These doch einmal zu Ende: Merkel und ihre tollen Freunde aus Industrie und Wirtschaft (*hust*) bekennen sich zu ihrer vermeintlichen Macht- und Führungsposition in Europa.

    Und jetzt? Wird alles gut? Die Krise ist vorbei? Ein bisschen Geld hier und da, ein paar unbequeme Reformen hier und da und dann wird es keine Massenarbeitslosigkeit, kein Sozialabbau, keine Korruption, keine massive Altersarmut in den kommenden Jahren, keine Lügen-Propaganda, keine Lobbyisten in den Ministerien, kein Ackermann der im Kanzleramt seinen Geburtstag feiert, kein Niedrig-Lohnsektor, keine Ausbeutungsverhältnisse, keine weltweiten Ressourcen-Kriege, die Deutschland unterstützt usw. usf. mehr geben?

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    1. Was ist daran konsequent zu Ende gedacht? Keinesfalls wird irgendetwas gut oder auch nur besser, nur weil die sich einer Machtstellung bewusst werden (!) die sie effektiv schon haben. Nur wird sicher nichts gut wenn man einfach den Kopf in den Sand steckt und von einer Welt ausgeht, die einem zwar gefällt, die so aber nicht existiert.

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  7. ... oder die genaue Deutung der Target-2-Salden.

    Target2 ist nur ein Symptom. An den unterschiedlichen Deutungen zeigt sich, dass wir das selbst erschaffene Konstrukt der Währungsunion und deren Wirkmechanismen nicht verstehen. Für mich ist die Klärung dieser Frage entscheidender als ein politisches Bestreben, denn nach meiner Meinung werden die Entscheidungen - z.B. ob es einen Grexit geben wird oder nicht - nicht auf der politischen Ebene, sondern den mächtigen Spielern der Finanzwirtschaft getroffen. Änderungen an der Architektur des Euros werden uns und unsere Zukunft weitaus mehr beeinflussen, als dies ein politischer Wille einer Kanzlerin je könnte.

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  8. @ Marc

    Der "politische Wille einer Kanzlerin" wird die "Änderungen an der Architektur des Euros" wesentlich bestimmen. Denn diese Kanzlerin, lese ich eben in der Zeitung, erhält in Umfragen Bestnoten, die Mehrheit hält sie für selbstlos und für eine "gute Sachwalterin ihrer Interessen".

    Anders als in der Atompolitik hat sie hier die Mehrheit hinter sich, es wird also keinen U-Turn geben. Schlechte Aussichten. Das beklemmende Szenario von Dani Rodrik (danke für den Link!) ist leider sehr realistisch.

    P.S. Vor diesem Hintergrund sollte man über die Idee einer direkten Demokratie nochmal gründlich nachdenken.

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    1. @CitizenK

      Ich sage ja nur, dass "ihr" politischer Wille nur der Audruck deutscher Banken ist. Ich übersetze:

      Grexit = ist ausgelutsch und aus den Büchern, darf man ohne Reue wegwerfen.

      Spanien = alles retten was geht! "Wir" sind da involviert!

      Deutschland nicht überfordern = unsere Banken wollen die Liquiditätsabsicherung, die derzeit noch über Target2 angewickelt werden, nicht zurück in ihre Bücher nehmen, da es eine Zunahme ihres Risikos bedeuten würde.

      Ich sehe also keine politische Agenda, ich sehe vor allem nur den Schutz finanzieller Interessen. Natürlich muss die Politik diese Interessen vertreten, aber doch nicht ausschließlich!

      P.S: ich sehe keinen Vorteil einer direkten Demokratie. Ich kann nicht nachvollziehen, weshalb die Qualität der Entscheidung steigen sollte. Ich sehe auch weniger das Problem in den Entscheidungswegen und -prozessen, sondern eher darin, dass wir über die wahre Situation bestenfalls im Unklaren, wohl doch eher belogen werden. Die Informationsbasis muss verbessert werden, um endlich zu vernünftigen Entscheidungen kommen zu können.

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  9. "ich sehe keinen Vorteil einer direkten Demokratie".

    Ich auch nicht, im Gegenteil. Die zitierten Lobeshymnen auf Merkels Politik sollten das belegen. War wohl missverständlich, weil ich annahm, dass man auf "linksliberalen" Blogs grundsätzlich nichts von der repräsentativen Parteien-Demokratie hält.

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    1. Ich könnte mir mehr direkte Demokratie höchstens auf kommunaler Ebene vorstellen, wo die Entscheidungen konkreter in die Erfahrungswelt der Wähler reinragen und das Potenzial von schädlicher Missinformation geringer ist.

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  10. Übrigens interessant, was sich gerade im BT tat: Brüderle wirft den Grünen Kumpanei mit der angesächsischen Großfinanz vor und "warnt" die SPD davor, sich in Geiselhaft nehmen zu lassen.


    Wer dem Fiskalpakt nicht zustimmt, ist ein Agent der Großfinanz. Und das von der Mövenpick-Partei. Grotesker geht es kaum. Und die Sozis werden wohl darauf hereinfallen.

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  11. "Der britische Premier Cameron hat Angela Merkel wiederholt aufgefordert, doch bitte endlich den Euro zu retten."
    Völlig uneigennützig natürlich; London ist ja mitnichten ein internationaler Kapitalstaubsauger?
    Und dass die Angelsachsen das allergrößte Interesse an einem Schwach-Euro haben (anstatt einer harten DM, oder Kern-Euro), damit ihre abgewirtschaften Währungen wenigstens relativ besser sind? Honi soit, qui mal y pense!

    "Deutschland soll Führung übernehmen"? Süßmost! Deutschland soll die Taschen aufmachen und im Übrigen die Schnauze halten. DAS ist es, was die 'Führungs-Verehrer' der Kapitalinteressen, und ebenso unserer südeuropäischen "Bruderländer" in Wahrheit wollen (und, wie die Dinge laufen, auch schaffen werden)!

    Wozu hat der Herr euch graue Materie unter der Schädeldecke implantiert, wenn ihr die talmivergoldeten intellektuellen Bleibarren von Politikern und "Experten" aus jenen Ländern, die sich erfolgreich deindustrialisiert haben und jetzt vom Verkauf betrügerischer Finanz"produkte" leben (müssen), so offenmäulig und glasperlenäugig bewundert wie die Indianer den Plunder der Kolonialisten?

    "Ich [halte] es für wahr, daß die Humanität endlich siegen wird, nur fürcht' ich, daß zu gleicher Zeit die Welt ein großes Hospital und einer des andern humaner Krankenwärter sein werde" hat unser bekanntester Dichter (aus Italien!) geschrieben - vor über 200 Jahren.

    Die Eurozone dümpelt im Weltmeer als ein Konvoi aus Seelenverkäufern; sie ist ein einziges Siechenhaus, und es dauert kein Jahr mehr, dann liegen wir auch drin!
    Diagnose: Dummheit.
    Therapie: Unheilbar.
    Prognose: Letal.
    But most Germans just don't get it. (At least not before they've gotten there.)

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  12. Ich finde es eigentlich interessant, dass die Frage der deutschen Hegemonie im Ausland viel offener angesprochen wird. Klar es wird unter negativen Auspizien thematisiert, Hakenkreuze dürfen da nicht fehlen. Aber die Debatte ist richtig und eine logische Konsequenz deutscher Forderungen nach fiskaler Härte (ob man sie nun gut findet oder nicht). Zu fordern die anderen sollen sparen und wenn sie das dann nicht tun einfach den Kopf in den Sand zu stecken, hat wenig mit Verantwortungssinn zu tun. Aber Sarazzin &Co sind davon sowieso meilenweit entfernt. Leider werden FDP und CSU ebenfalls angesteckt. Die Kanzlerin hat zwar einige klare Bemerkungen bemacht (wer alles stirbt und was nach ihrem Tod passiert), aber wir sollen erstmal abwarten ob nicht doch wieder ein Einschläferungswahlkampf 2013 auf uns zukommt.

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