Mittwoch, 20. April 2011

Israel muss die Hamas-Regierung im Gazastreifen anerkennen

Von Uri Avnery, Haaretz 

Wer hat mit dem tödlichen Auge-um-Auge begonnen? Für die Israelis ist es klar – es begann mit dem verabscheuungswürdigen Angriff auf den Schulbus. Für die Palästinenser ist es klar -  es begann mit der Tötung eines hochrangigen Hamas-Offiziellen. Und davor war es … und davor war es … und davor war es …

Im Alter kehrt ein Mann zum kindischen Gehabe zurück, sagte Shakespeare. Etwas Ähnliches geschieht mit dem Staat Israel.

Die neue Runde von Feindseligkeiten entlang des Gazastreifens  war schrecklich. Eine Rakete wurde auf einen  israelischen Schulbus abgefeuert und verletzte einen Teenager schwer. Zur Rache wurden mindestens 15  Palästinenser getötet, einschließlich Zivilisten, Frauen und Kinder. Hunderttausende Israelis mussten sich in ständiger Angst in einem Bunker in Sicherheit bringen. Und all das wegen einer kindischen Politik.

Wer hat angefangen? Für die Israelis ist es klar – es begann mit dem Schuss auf den Bus. Wir mussten uns deshalb rächen. Für die Palästinenser ist es klar: es begann mit dem Töten eines ranghohen Hamasmannes. Wir mussten uns rächen. Und davor war es … und davor war es … und davor war es …

Und wie wird es enden?  Heute scheint es, als ob es nie enden wird. Jede Seite besteht darauf, dass man  der anderen Seite nicht den letzten Schuss lässt.

Die erste kindische Entscheidung war unsere: Israel darf unter keinen Umständen die Hamasregierung anerkennen, weil die Hamas eine Terrororganisation ist, die den jüdischen demokratischen Staat nicht anerkennt. Weil die Hamas dies und das ist …

Dies ist ein kompletter – und fataler – Unsinn. Hamas mag  wirklich dies und das sein, aber sie ist die einzige Regierung im Gazastreifen. Wir versuchten, sie zu stürzen – die Folge davon aber ist, dass sie stärker wurde. Außerdem enthüllten  vor kurzem  veröffentlichte WikiLeaks-Dokumente, dass ein ranghoher Israeli aus dem Verteidigungsministerium einem amerikanischen Diplomaten sagte, Israel sei daran interessiert, die Hamasherrschaft im Gazastreifen noch  kurzfristig zu erhalten, weil eine alternative Regierung schlimmer sein würde.

Wenn es so ist, welchen Sinn hat dieses blutige Spiel? Warum die israelische Öffentlichkeit bluffen, wenn die Lösung so einfach ist. Israel muss die Hamas-Regierung im Gazastreifen de facto als Realität anerkennen. Israel  muss mit der bestehenden Regierung über praktische  Dinge, die eine Vereinbarung erfordern, verhandeln.

Es hat keinen Zweck, mit Hilfe einer undurchsichtigen dritten Partei  ohne Details und ohne offizielles Abkommen  eine weitere unklare Feuerpause zu erreichen. Wir brauchen eine offizielle Waffenpause, die in einem Dokument schriftlich festgelegt wird und das Verfahren bestimmt, um Klagen zu klären. Wir benötigen eine vereinbarte, eindeutige, zuverlässige dritte Partei, die diesen Prozess  beaufsichtigt.

Israels ganzes Verhalten gegenüber dem Gazastreifen ist anachronistisch: die Blockade – mit der Absicht, die Bevölkerung dahin zu bringen, die Hamasregierung zu stürzen, ist fehlgeschlagen und zu einem Hindernis geworden. Wir müssen uns vom Gazastreifen völlig und ein für alle Mal trennen. Dies heißt, dass man Gaza erlaubt, nach allen Seiten offen zu sein:  den Gazahafen öffnen, den Flughafen öffnen und die Grenze  nach Ägypten öffnen.

Israel hat bewiesen, dass es auf effektive Weise verhindern kann, dass Waffen hereingebracht werden. Dies betrifft auch die nächste Flotilla, die  nach Gaza segeln wird. Lasst sie in Frieden segeln und wo immer  sie mag.

Dies ist im Sinne eines gesunden Menschenverstandes. Der frühere Mossad-Chef Efraim Halevy meinte genau dasselbe. Alles andere ist töricht, kindisch, ein Spiel: er hat angefangen – er muss zuerst aufhören. Einfach gesagt – es ist eine tödliche Dummheit.
Benjamin Netanjahu hat  auch seine zweite Kindheit erreicht, als er  seine Kampagne  begann,  den aufkommenden „diplomatischen Tsunami“ zu verhindern: die Anerkennung  eines palästinensischen Staates auf dem von Israel 1967 eroberten Land mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt.

Netanyahu, der glaubt, ein Wort sei so viel Wert wie 1.000 Handlungen, plant,  noch ein paar Dörfer unter palästinensische Herrschaft zu geben, noch eine Konferenz im Madridstil zusammenzurufen, noch eine Regierung davon zu überzeugen, gegen die Anerkennung des Staates Palästina in der UN zu stimmen.
Wie oft  können wir diese kindischen Tricks noch wiederholen, besonders wenn man als Antwort der Welt einen einfachen Schrei  erwarten kann: „Israelis, wir haben die Nase voll von euch, jetzt reicht’s.!“

(dt. Ellen Rohlfs)
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Ellen Rohlfs Buch: »Nie wieder!«? – Was geschieht eigentlich hinter der Mauer in Palästina? »Nur« Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder schleichender Völkermord? – Eine Dokumentation von Ellen Rohlfs« ist gegen eine Schutzgebühr von 10 Euro bei der Autorin (Ellen.Rohlfs[at]freenet.de) zu beziehen.

(Anm. d. Red.: Nachdem erst dieser Tage mit Vittorio Arrigoni binnen zwei Wochen der zweite ausländische Gaza-Aktivist ermordet wurde, hat nun die Hamas ihrerseits zwei seiner mutmaßlichen Mörder getötet. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt im und um den Gazastreifen dreht sich weiter und im Zusammenhang ist es erwähnenswert, daß Arrigonis Mörder anscheinend den Salafisten angehören.)

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