Von Stefan Sasse
Der Fraktionszwang ist ein armes Schwein. Beständig wird er verleugnet, durch das Gesetz ist er sogar verboten, jeder weiß dass es ihn gibt und keiner mag ihn. Regelmäßig stellt man ihn an den Pranger und ruft ihn dann doch, wenn es brennt. Wenn der Fraktionszwang in einer Partei wäre, er wäre Sozialdemokrat. Aber er hat seinen schlechten Ruf eigentlich nicht verdient. In einem politischen System wie dem der BRD ist er sogar immanent wichtig, auch wenn ihn die Väter des Grundgesetzes und die frühen Staatsrechtler aus den noch aus dem Kaiserreich importierten Partei-Ressentiments gesetzlich verbannen zu suchten und stattdessen von der freien, dem Gewissen verpflichteten Entscheidung des Abgeordneten sprechen und so tun, als würde das im politischen Alltagsgeschäft zu keinen Komplikationen führen. In Wahrheit aber ist es der Fraktionszwang, der das System am Laufen hält - und der auch notwendig ist. Ich will erklären, warum das so ist.
Ein parlamentarisches System, das keinen Fraktionszwang kennt, braucht zwingend eine große Unabhängigkeit des Abgeordneten von den Parteien, gegen die er sich im Zweifel aus Gewissensgründen (oder wegen seiner Bestechlichkeit) entscheiden soll. Dieses System sehen wir beispielsweise in den USA, wo die Abgeordneten nicht wirklich einer Partei im deutschen Sinne angehören - in manchen texanischen Wahlkreisen treten ausschließlich "Republikaner" gegeneinander an, in manchen Wahlkreisen an der Ostküste nur Demokraten, die dafür ein breites Spektrum an Einstellungen bieten. Das wäre hierzulande undenkbar. Der Grund dafür besteht darin, dass die USA eine Gewaltentrennung haben, von der wir nur träumen können - kein Mitglied der Exekutive kann gleichzeitig Mitglied der Legislative sein, mit der Ausnahme des Vizrepräsidenten, der so etwas wie der Bundestagspräsident im Senat ist, wenngleich auch ohne Stimmberechtigung.
In Deutschland dagegen sind die Mitglieder der Regierung, also der Exekutive, praktisch immer auch Mitglieder der Legislative, also des Bundestags. Das ist auch notwendig, weil die Regierung in Deutschland im Gegensatz zum US-System kaum Befugnisse hat, mit denen sie ohne Bundestagsmehrheit regieren kann. US-Präsidenten sind es dagegen gewohnt, gegen eine feindliche legislative Mehrheit regieren zu müssen. Ein Kanzler ohne Bundestagsmehrheit ist nicht vorstellbar, er würde von der Gegenseite sehr wahrscheinlich mit einem konstruktiven Misstrauensvotum erledigt oder müsste sich zumindest auf nahende Neuwahlen einstellen. Während also beispielsweise in den USA die Bürger einzelne Politiker direkt wählen, wählen sie in Deutschland Parteien. Und wir wollen uns nicht mit dem Feigenblatt der Direktwahl in der Erststimme täuschen lassen; die meisten Leute wählen auch hier effektiv nur eine Partei in einem eigenen Zwei-Parteien-System.
Gerade weil in Deutschland aber Parteien und Parteiprogramme gewählt werden und nicht einzelne Politiker, ist der Fraktionszwang ein bedeutendes Instrument. Politiker in den USA müssen ihren Wählern alle zwei oder sechs Jahre direkt Rede und Antwort über ihr Abstimmungsverhalten stehen, weswegen sie oft gezwungen sind, gegen die eigene Gruppe zu stimmen - man denke nur an den texanischen Demokraten bei einer Abstimmung über schärfere Waffengesetze. In Deutschland ist das nicht so; wer informiert sich schon darüber, wie sein Direktkandidat abgestimmt hat? Meistens ist das auch überflüssig, weil er ja ohnehin mit seiner Partei wählt.
Warum aber soll dieser Zustand gut sein? Er ist im Interesse des Wählers. Wenn ich bei der Bundestagswahl für vier Jahre eine Partei wähle, dann soll diese Partei auch das tun, für das ich sie wähle. Wenn plötzlich einzelne Abgeordnete, die über hintere Listenplätze ins Parlament einzogen aus Gewissens- oder Bestechungsgründen querschießen, wird effektiv der Wählerwille blockiert. Um nur ein Beispiel zu geben: Hessen 2008. Ypsilanti wäre heute Ministerpräsidentin Hessens, wenn nicht die vier Verräter seinerzeit unter hanebüchenen Gründen und sehr zweifelhaften Motiven quergeschossen hätten. Das gleiche Problem kann man beim konstruktiven Misstrauensvotum gegen Brandt 1972 sehen - die Überläufer der damaligen Ära, die ihre Bundestagsmandate mit zur Union genommen haben, hätten beinahe zum Sturz der Regierung geführt - ein kaum demokratisch zu nennender Vorgang.
Doch natürlich soll man die Gewissensentscheidung nicht leichtfertig verwerfen. Einem überzeugten Pazifisten ist es kaum vorzuwerfen, wenn er gegen einen Auslandseinsatz der Bundeswehr stimmen will. Es gibt in diesem Fall zwei Optionen: er kann entweder gegen seine Fraktion stimmen, wenn klar ist, dass seine Stimme nicht ausschlaggebend ist - oder zurücktreten und das Mandat abgeben. Ein Übertritt in eine andere Partei bei Mitnahme des Mandats dagegen ist falsch. Zwar ist es bei konsequenter Auslegung der Gewissensfreiheit des Abgeordneten formal richtig, jedoch überschätzt der Abgeordnete damit die eigene Bedeutung, weil in Deutschland nun einmal Parteien gewählt werden und keine einzelnen Abgeordneten, mag das auch technisch der Fall sein - die Vorstellung, dass die Wähler die Landeslisten ansehen und nach den dort aufgestellten Politikern ihre Wahlentscheidung treffen ist bestenfalls naiv.
Der Fraktionszwang ist somit ein Instrument, um der Wahlentscheidung (nicht zwingend dem Wählerwillen! Dies sollte nicht verwechselt werden) Nachdruck zu verleihen. Der Wähler wählt, dies sei noch einmal erwähnt, eine Partei und ihr Wahlprogramm. Wenn die Fraktion, die aus der Wahl resultiert, später Dinge beschließt die mit diesem Programm nicht vereinbar sind, so ist es an den Abgeordneten, diese Entscheidungen innerhalb der Fraktion zu beeinflussen oder eben zurückzutreten. Die Abrechnung mit der Partei selbst, sollte diese allzu offenkundig gegen den Wählerwillen verstoßen, gebürt dem Souverän selbst, der alle vier Jahre darüber zu entscheiden hat, welcher Partei er seine Stimme gibt. Die Berechenbarkeit dieser Stimmabgabe ist wichtig und gerät über den Vorwurf des Fraktionszwangs oftmals ins Hintertreffen. Wer der SPD 2008 in Hessen seine Stimme gab, wollte Roland Koch abwählen und nicht Sorge für das Gewissen von vier Abgeordneten tragen. Wenn diese es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können, so müssen sie entweder die Fraktion insgesamt umstimmen oder aber zurücktreten und dem Wähler die Entscheidung überlassen, wie er die Aktion seiner Partei befindet. Denn auch das gehört zur Geschichte des Fraktionszwangs: er wird immer beschimpft, wenn man die Beschlusslage nicht mag, aber wenn Abgeordnete gegen die selbst favorisierte Politik aufbegehren, dann sollen sie gefälligst sich an "das Wählervotum" halten. Diese Janusköpfigkeit aber ist feige.
"Wenn ich bei der Bundestagswahl für vier Jahre eine Partei wähle, dann soll diese Partei auch das tun, für das ich sie wähle!"
AntwortenLöschenschöne utopie
In Deutschland nicht mal das, weil in einem Mehrparteiensystem mit Koalitionsregierung die Regierung einer Partei nicht sonderlich prickelnd ist. Also müssen Parteien Koalitionen bilden und damit zwangsläufig Teile des Wahlprogramms über Bord werfen. Kompromisse sind gefragt.
AntwortenLöschenHallo Daniel,
AntwortenLöschendanke dass du mich über die rechtlichen Formalien aufklärst, die zu kennen ich auch im Beitrag zu Protokoll gegeben habe. Mein Vogelgefährdendes Zitat ist auch mehr eine Beschreibung des Ist-Zustands. Denn wenn die Abgeordneten ihr Mandat nicht als imperativ wahrnehmen, sondern buchstabengetreu nach dem GG, endet das in einer Katastrophe. Man hat es 1972 im Bundestag gesehen, 2005 in Schleswig-Holstein und 2008 in Hessen.