Montag, 19. Juli 2010

Klassenkampf von oben

Von Stefan Sasse

Sieg auf ganzer Linie: das Bürgertum hat in Hamburg über das Proletariat triumphiert. Wer diese Formulierungen für zu marxistisch hält, muss sich Naivität vorhalten lassen: genau darum ging es. Vor hundert Jahren war sich eine Klasse ihrer selbst bewusst und kämpfte gegen eine andere, die sich unter diesem Druck erst als solche konstituierte; heute kämpft eine Klasse unter umgekehrten Vorzeichen gegen eingebildete Gegner. Ob diese sich ebenfalls noch zu konstituieren wissen, bleibt dabei fraglich.


Die Hamburger Initiative "Wir wollen lernen" des Rechtsanwalts Scheuerls mobilisierte das Hamburger Bürgertum gegen die eigentlich recht moderate Schulreform der schwarz-grünen Koalition. Diese sah vor, dass die Grundschule sechs statt bisher vier Jahre dauert; mehr gemeinsames Lernen also und eine Selektion nicht schon in einem Alter, in dem die Kinder alles aber bestimmt nicht auf spätere Begabungen festgelegt sind. Nochmal: das Gymnasium als Institution wurde nicht angetastet, nicht einmal das sinnlose G8. 
Doch die Mobilisierung des Bürgertums war mehr als erfolgreich. Das Schreckgespenst des gemeinsamen Lernens mit Ausländerkindern ("Ich will nicht, dass mein Kind ein Jahr länger mit den Ausländern in die gleiche Klasse geht") taugte als Mobilisierungsvorlage, und das Bürgertum, permanent besorgt ob der Zukunftschancen der Kinder, machte unter der Führung eines Akademikers mobil. Wenn das kein Klassenkampf sein soll, muss man nur einen Blick auf die Wahlbeteiligung werfen, die der Dishwasher schön zusammengestellt hat: sozial schlecht gestellte Viertel wähltren praktisch nicht, während die gut situierten Viertel überwiegend mit hoher Wahlbeteiligung abstimmten. 

Offensichtlich sahen die unteren Schichten keinen Sinn darin, zur Wahl zu gehen. Diese spielte sich überwiegend als Briefwahl ab - in Hamburg sind Sommerferien - und die Tragweite des Beschlusses schien ihnen auch nicht wirklich klar zu sein. Ich glaube nicht, dass diese Leute einfach resigniert haben, wie die NDS das vermuten. Ich glaube, sie haben schlicht nicht verstanden um was es überhaupt geht, während ihre Gegner das nur allzugut verstanden haben. Schlechte Aussichten für die Zukunft, fürwahr.

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taz

12 Kommentare:

  1. Danke für diesen Beitrag.

    Ich hätte, obwohl nicht aus gutem Hause, aber wohl auch mit "Nein" gestimmt, denn diese Reform greift zu kurz. Statt, wie in Finnland, einmal ernsthaft darüber nachzudenken, die Schulbildung auf ein gänzlich anderes Fundament zu stellen, war dieser Versuch nur ein vorgeschobenes "Wir tun was."

    Die viel spannendere Frage für mich war denn heute morgen auch, nach der Lektüre einschlägiger Kommentare, wieso die "Unterschichten" nicht abgestimmt haben. Dass die Grünen eh stärker das Bildungsbürgertum ansprechen, somit als Motivator dieser Zielgruppe ausfallen, ist das Eine. Das Andere hat vielleicht schlicht damit zu tun, dass wenn ich mich als Abgehängter um andere Dinge wie Arbeitssuche kümmern muss, ich mich nicht umfassend mit einem solchen Thema beschäfigen kann.

    Dass eine Initiative, die als Befürworter Werbeagenturen aufbieten kann und damit die Meinungshoheit genießt, ohnehin bessere Bedingungen hat, ein Volksbegehren erfolgreich zu bestreiten, passt da ins Bild.

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  2. Vox populi = Vox Rindvieh ??? Nach F.J.S.

    Nach einer Umfrage des französischen Magazins Pèlerin wünschen zwei Drittel der französischen Katholiken einen milderen Umgang der katholischen Kirche mit wiederverheirateten Geschiedenen. 85 % äußern Unverständnis über das Verbot, die Hl. Kommunion zu empfangen. Ein Drittel bekundet jedoch Verständnis für das Verbot der Wiederverheiratung von Geschiedenen.

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  3. @Martin W.

    ein weiterer Grund ist wohl die bei Ärmeren weit verbreitete Resignation - hier in Neukölln gehen wenige zur Wahl, und eine Bürgerbefragung zum "Warum" ergab letztes Mal "Bringt ja eh nix.". Da spricht jahrelang gelernter Pessimismus.

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  4. @Marc

    Haben sie denn Unrecht? Nicht nur, dass gewählte Politiker sich mittlerweile wegen Unlust zurückziehen, sondern auch die Tatsache, dass viele Entscheidungen gegen die Mehrheit des Volkes durchgedrückt werden, ist doch eine Bestätigung dieses Ausspruches.

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  5. @Martin W.

    Ja, da bin ich ganz deiner Meinung. Aber schade ist es trotzdem, und wenn mich jemand fragte, wie man die Beteiligung wieder etwas verbessern könnte: da wüsste ich keine Antwort. Es ist ein Teufelskreis.

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  6. Das heißt für die Zukunft doch, dass man Demokratie dadurch aushebeln kann, indem diejenigen, die es betrifft bei einer Entscheidung, die für diese Gruppe gut wäre, durch Nicht-Information vom Wählen abhält und dazu noch den Wahltermin in eine Zeit verlegt, in der die meisten der Betroffenen nicht da sind, um wählen zu gehen.

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  7. Ob vier oder sechs Jahre gemeinsame Grundschulzeit - an den fehlenden Perspektiven der armen Bevölkerung ändert sich nichts. Nun sollte man denen, die sich nicht beteiligt haben, nicht Unklugheit unterstellen, im Gegenteil, die Nichtbeteiligung zeugt meiner Ansicht nach von gesundem Skeptizismus. Das ganze scheint doch eher ein kosmetisches Problem des wohlhabenden, liberalen Bürgertums zu sein, das mehrheitlich gegen das scheinbar "fortschrittlichere" Schulmodell gestimmt hat. Wirklicher Fortschritt aber wäre eine Umgestaltung des Schulwesens von Grund auf, doch dazu dürfte die Klientel von Grünen und CDU, soviel ist gewiss, ihr Ja nicht geben. Die sich nicht an der Abstimmung beteiligt haben drücken doch nur aus, dass die ärmere Bevölkerung unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen keinerlei Verbesserungen ihrer Lebenslage erwartet.

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  8. Das mittelschichtige, mit braunen Idealen liebäugelnde Bürgertum war schon immer der Todfeind der Unterschicht. Die von der Schröder-Hombach-Clement Clique propagierte "Neue Mitte", die der Unterschicht mit Zwangsarbeit daherkam war nur ein trauriger Höhepunkt. Dieser Mitte ist es immanent, den Ausgegrenzten ihre Bildungsferne vorzuhalten. Wenn es darum geht, dieses Versprechen einzulösen, hat diese Mitte nur das Trainieren von Sekundärtugenden anzubieten: Frühes Aufstehen, Lernen wie man Kartoffeln schält, Straße kehrt und als Höhepunkt der berüchtigte 2-Tages-Staplerschein.
    Bildung, Bildung über alles !

    gez. Braunes Hartz.

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  9. @Anonym: Das mit der Scheidung kann ich nachvollziehen. Bei der kirchlichen Trauung legst du einen Eid ab, auf ewig zusammenzubleiben, und dann sollen die den einfach endlos erneuern? Die kirchliche Trauung ist dem Verständnis nach ja keine Kirmesveranstaltung, auch wenn die meisten Leute es nur aus dem Style-Faktor heraus machen.

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  10. Dass unsere neoliberalen Parteien von CDU bis GRÜN sämtlich für die Einheitsschule waren, sollte doch eine Warnung sein. Die Einheitsschule gilt ja nur für diejenigen, die ihren Kindern keine Privatschulen leisten können.

    Hinter dieser "Schulreform" steckt schlicht die Absicht, allen Kindern, deren Eltern das Geld für Privatschulen fehlt, eine vernünftige Bildung zu verweigern. Also nicht nur den bisherigen Hauptschülern, sondern in Zukunft auch den heutigen Gymnasiasten.

    Es war also die Einheitsschule das Instrument des Klassenkampfs von oben, nämlich der neoliberalen Superreichen gegen das Kleinbürgertum, und da haben die Kleinbürger für ihre Kinder den Schaden noch mal abwenden können.

    Den Armen und ihren Kindern hat es selbstverständlich nichts genutzt. Hätten die Armen zur Wahl gehen sollen, damit es in Zukunft den Kindern der Kleinbürger auch nicht besser geht?

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  11. @Marc:

    Es gibt da ein psychologisches Konzept, das sich "erlernte Hildlosigkeit" nennt - sicherlich von Belang für vielke politische Vorgänge (und Nicht-Vorgänge) bzw. Wahlverhalten heute...

    http://de.wikipedia.org/wiki/Erlernte_Hilflosigkeit

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  12. Mir scheinen viele dieser Denkansätze etwas zu theoretisch. Ich finde das Wahlverhalten durchaus passend für das gewöhnlich dem Menschen innewohnende Phlegma.

    Kurzes Beispiel: Ich sitze auf dem Elternabend und schaue in die Runde. Es geht um die Wahl der Elternvertreter und höchstwahrscheinlich damit um einen Sitz beim Schulrat. Anwesend sind - na wer wohl...?!

    Genau eben jene, die in Hamburg auch gewählt haben. Schabans und Murats Eltern kommen erst gar nicht und und die Eltern unserer Klassenfrüchtchen halten sich auch lieber zurück. Warum kann man nur mutmaßen. Oft liegt es gar nicht an der Tageszeit oder Jahreszeit. Es ist ja auch so bequem - der Erziehungsauftrag wird komplett auf die Klassenlehrerin ausgelagert und ich hab die Blagen weg, damit ich meinen Lieblingsbeschäftigungen nachgehen kann. Und so ne Wahlveranstaltung, die stört auch nur...

    Rechnet man jetzt noch die Themen der Wahl und die öffentliche Diskussion mit hinein, dann weiß man, dass der Rest der Eltern bereits "dicht" gemacht hat.

    Und als letztes I-tüpfelchen: Rentner, Kinderlose und viele Wahlberechtigte, die sich vor der werteschaffenden Phase befinden, hat das Thema doch gar nicht persönlich berührt...

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