Von Stefan Sasse
Zarte Anfänge der Zivilisation |
Mein Zivilisationsbegriff entscheidet drei Sicherheiten und drei Freiheiten. Sie kreisen um die Zuschreibungen "persönlich", "politisch" und "wirtschaftlich". Folgerichtig benötigt Zivilisation persönliche Freiheit und persönliche Sicherheit, politische Freiheit und politische Sicherheit, wirtschaftliche Freiheit und wirtschaftliche Sicherheit. Einige dieser Sicherheiten und Freiheiten haben Staaten früher, andere später entwickelt; manche Staaten besitzen gar keine (das aber sind die wenigsten). Gemein ist ihnen allerdings, dass erst die Einheit aller sechs Merkmale eine Zivilisation konstituiert. Je feiner und besser ausgestaltet sie sind, desto besser geht es den Menschen in dem fraglichen Staatsgebilde.
Magna Charta (1215) |
Verletzt wird der Absolutheitsanspruch der persönlichen Freiheit am stärksten im Krieg. Das Töten von Menschen und damit die größtmögliche Verletzung ihrer persönlichen Freiheit gehören hier quasi inhärent dazu. Daraus folgt, dass Krieg wenn irgendmöglich zu vermeiden ist. Dies ist natürlich nicht möglich, wenn man angegriffen wird, und nicht wünschenswert in einigen anderen Fällen. Existiert beispielsweise ein Regime, das die Freiheiten und Sicherheiten einschneidend verletzt - beispielsweise das nationalsozialistische Deutschland - kann es geboten sein, die kleinere Verletzung der persönlichen Freiheit durch Krieg hinzunehmen, um die große der Konzentrationslager auszumerzen. Diese Abwägung zu treffen ist jedoch sehr schwierig und kann kaum verallgemeinernd beantwortet werden.
Erste "Homo-Ehe" Quebecs |
Gerade auf dem Feld persönlicher Freiheiten finden die erbittertsten Auseinandersetzungen innerhalb einer Gesellschaft statt. Wie sieht es beispielsweise, nur um zwei aktuelle Themenfelder aufzugreifen, mit der Ausübung des Islam als Religion und der Wahrung heimischer Kulturgüter als Immigrant aus? Oder, um den Blick in die USA zu wenden, welche Rolle soll dem Schutz ungeborenen Lebens zustehen? Solche Fragen können kaum so eindeutig beantwortet werden, wie dies auf dem Feld persönlicher Sicherheit möglich ist. Eine Gesellschaft muss sich konstant einer Grundwertediskussion stellen und in der Lage sind, sich wandelnd auf neue Umstände einzustellen.
Fackelzug zur "Machtergreifung" |
Ein mindestens ebensowichtiger Bestandteil politischer Freiheit, das darf nicht vergessen werden, ist der Schutz vor politischer Diskriminierung. Nur weil ich der CDU angehöre, darf ich unter einer SPD-geführten Regierung nicht benachteiligt werden oder umgekehrt. Die politische Affiliation - wiederum mit Ausnahme solcher politischer Präferenzen, die aktiv an der Zerstörung der geltenden Ordnung arbeiten und gleichzeitig den sechs Freiheiten und Sicherheiten widersprechen - darf keinesfalls in negativer Weise in die Behandlung eines Menschen einfließen. Das gilt übrigens auch umgekehrt: eine politische Präferenz darf genausowenig zu einer Bevorteilung führen.
Rednertribüne ("Rostra") in Rom |
Kommen wir zum Problem der wirtschaftlichen Freiheit. Sie ist, neben der persönlichen Sicherheit, das Element mit der längsten und auch erfolgreichsten Geschichte. Zu allen Zeiten haben Herrscher erkannt, dass die Wirtschaftskraft des von ihnen beherrschten Raumes zunimmt, je mehr Freiheiten man den wirtschaftlich handelnden Subjekten zugesteht. Demzufolge war der Ausbau wirtschaftlicher Freiheiten auch stets ein vorrangiges Ziel der meisten Regierungen. Grenzen fand sie meist, wo Herrschaftsansprüche irgendwelcher anderer Fraktionen betroffen waren. Folgerichtig ging der Ausbau wirtschaftlicher Freiheiten auch umso schneller voran, je mehr die politischen Akteure selbst mit dem wirtschaftlichen Handeln verwoben waren, also vor allem mit der Verstädterung und dem Aufstieg des Bürgertums.
Eduard Bernstein, Reformer der SPD |
Ohne wirtschaftliche Sicherheit nämlich ist eine funktionierende Demokratie nicht vorstellbar. Erst der große gesellschaftliche Konsens der Nachkriegszeit, der Ausbau des Sozialstaats und die Zusammenarbeit der Tarifpartner, schufen das tragfähige Fundament der Bundesrepublik, nicht etwa ihr Grundgesetz. Papier ist sehr geduldig, und es gibt zahllose Beispiele in der Geschichte dafür, dass die Zustimmung einer Gesellschaft zum Staatswesen in erster Linie wirtschaftlich motiviert ist, und dass die Freiheiten und Sicherheiten umso gefährdeter sind, je schlechter es um die wirtschaftliche Sicherheit steht. Paradoxerweise ist diese Erkenntnis bisher kaum durchgedrungen.
Die obige Darstellung lässt nur einen sehr kleinen Kreis von Staaten als "zivilisiert" im Rahmen der Definition erscheinen. Das ist durchaus so gewollt. Die Decke der Zivilisation ist dünn, und in jeder Gesellschaft warten niedere und aggressive Instinkte geradezu darauf, an die Oberfläche zu brechen und beherrschend zu werden. Die aktuelle Euro-Krise zeigt dies deutlich genug. Nationale Ressentiments und rassistische Überzeugungen feiern fröhliche Urständ, als hätte es die 60 Jahre europäischer Einigung nie gegeben.
Man muss sich wirklich klar machen, dass die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in der westlichen Welt eine bis dato unerreichte Vollständigkeit der sechs Freiheiten und Sicherheiten sah. Die aktive Teilhabe eines großen Teils der Bevölkerung ist ein Zustand, der eigentlich das Ziel aller Politik sein müsste - die Herstellung echter Zivilisation also. Es eigentlich überraschend, dass dies nicht der Fall ist. Mehr oder weniger explizit hat sich die Politik von einigen dieser sechs Felder mehr oder minder vollständig verabschiedet. Man darf die Schuld allerdings kaum alleine der Politik anlasten; auch die Gesellschaften selbst haben mit ihrer Infragestellung besonders persönlicher Sicherheit und wirtschaftlicher Sicherheit dem Ganzen mehr als Vorschub geleistet.
Die Errichtung des Sozialstaats, dies muss in aller Deutlichkeit gesagt werden, ist die wohl größte zivilisatorische Leistung des 20. Jahrhunderts und stellt die meisten anderen Entwicklungen dieser Epoche völlig in den Schatten. Nichts hat die Menschheit als Ganzes so sehr weitergebracht wie die Vorstellung, dass die Starken solidarisch für den Schutz der Schwachen einstehen sollen. Der diesbezügliche Konsens war schon immer wackelig, und die Starken haben sich bereits seit vielen Jahren wieder davon verabschiedet und geben diese gewaltige zivilisatorische Errungenschaft damit dem Verfall Preis. Was sie dabei nicht bedenken ist, dass die Zustände jedes Einzelnen dadurch eine größere Bandbreite bekommen. Sie können, das ist unzweifelhaft richtig, wesentlich radikaler in die positive Richtung ausschlagen und aus einem Habenichts einen Milliardär machen. Sie können allerdings auch, und dies betrifft einen um ein vielfaches größeren Teil der Bevölkerung, auch wesentlich radikaler in die Gegenseite ausschlagen. Wirtschaftliche und politische Freiheit allerdings, ebenso wie persönliche Sicherheit und Freiheit und politische Sicherheit - sie alle hängen an der wirtschaftlichen Sicherheit. Nur wessen wirtschaftliche Sicherheit, sein Urbedürfnis, gestillt ist, misst den anderen Freiheiten und Sicherheiten einen Wert bei. Es war das gigantische Fehlen wirtschaftlicher Sicherheit, das einer Person wie Adolf Hitler, die so offen andere Sicherheiten und Freiheiten missachtete den Weg ebnete. Zivilisation ist nicht vorstellbar ohne das Zusammenspiel aller Kategorien. Lässt eine Gruppe mutwillig einen der sechs Bälle fallen, so wird sie auch die übrigen nicht balanciert in der Luft halten können. Zivilisation erfordert das Zusammenspiel aller sechs Kräfte, und es ist eine Mammutaufgabe, sie alle zu gewährleisten. Es ist eine Mammutaufgabe, die jeden Tag aufs Neue unternommen werden muss.
Bildnachweise:
Urmenschen - Wiktor Waznewow (gemeinfrei)
Magna Charta - Earthsound (gemeinfrei)
Homoehe - Montrealis (GNU 1.2)
Fackelzug - unbekannt (CC-BY-SA 3.0)
Rostra - Filipo (GNU 1.2)
EB - unbekannt (gemeinfrei)
Flagge der Europäischen Union |
Die Errichtung des Sozialstaats, dies muss in aller Deutlichkeit gesagt werden, ist die wohl größte zivilisatorische Leistung des 20. Jahrhunderts und stellt die meisten anderen Entwicklungen dieser Epoche völlig in den Schatten. Nichts hat die Menschheit als Ganzes so sehr weitergebracht wie die Vorstellung, dass die Starken solidarisch für den Schutz der Schwachen einstehen sollen. Der diesbezügliche Konsens war schon immer wackelig, und die Starken haben sich bereits seit vielen Jahren wieder davon verabschiedet und geben diese gewaltige zivilisatorische Errungenschaft damit dem Verfall Preis. Was sie dabei nicht bedenken ist, dass die Zustände jedes Einzelnen dadurch eine größere Bandbreite bekommen. Sie können, das ist unzweifelhaft richtig, wesentlich radikaler in die positive Richtung ausschlagen und aus einem Habenichts einen Milliardär machen. Sie können allerdings auch, und dies betrifft einen um ein vielfaches größeren Teil der Bevölkerung, auch wesentlich radikaler in die Gegenseite ausschlagen. Wirtschaftliche und politische Freiheit allerdings, ebenso wie persönliche Sicherheit und Freiheit und politische Sicherheit - sie alle hängen an der wirtschaftlichen Sicherheit. Nur wessen wirtschaftliche Sicherheit, sein Urbedürfnis, gestillt ist, misst den anderen Freiheiten und Sicherheiten einen Wert bei. Es war das gigantische Fehlen wirtschaftlicher Sicherheit, das einer Person wie Adolf Hitler, die so offen andere Sicherheiten und Freiheiten missachtete den Weg ebnete. Zivilisation ist nicht vorstellbar ohne das Zusammenspiel aller Kategorien. Lässt eine Gruppe mutwillig einen der sechs Bälle fallen, so wird sie auch die übrigen nicht balanciert in der Luft halten können. Zivilisation erfordert das Zusammenspiel aller sechs Kräfte, und es ist eine Mammutaufgabe, sie alle zu gewährleisten. Es ist eine Mammutaufgabe, die jeden Tag aufs Neue unternommen werden muss.
Bildnachweise:
Urmenschen - Wiktor Waznewow (gemeinfrei)
Magna Charta - Earthsound (gemeinfrei)
Homoehe - Montrealis (GNU 1.2)
Fackelzug - unbekannt (CC-BY-SA 3.0)
Rostra - Filipo (GNU 1.2)
EB - unbekannt (gemeinfrei)
Mir ist das zu schematisch. Es sieht so aus als hättest du eine Matrix aufgestellt und daran entsprechend die Definitionen passend gemacht. Mir scheint die Abgrenzung von zB persönlicher Freiheit und persönlicher Sicherheit auch dir nicht so klar ist.
AntwortenLöschenZivilisation bezeichnet für mich einfach eine gesellschaftliche Großstruktur mit in etwa einheitlichem Rechtssystem, mit Kommunikations-, Handels-, Transportnetzen und anderen Infrastrukturen. Heute gibt es also nur noch eine Weltzivilisation. Etwas anderes mE ist Humanismus bzw Menschenrechte. Es sind (mir zumindest) "unzivilisierte" Gemeinschaften vorstellbar, die Menschenrechte weitgehend achten und "zivilisierte" Gemeinschaften, die diese missachten.
Aber natürlich ermöglicht und verhindert Zivilisation Humanität. Ziel muss hier natürlich eine möglichst humane Gesellschaft sein. Aber das mit Grad an Zivilisation gleichzusetzen ist mE nicht sonderlich hilfreich. Historisch haben sich Zivilisationen (etwa das römische Reich) sich auf Krieg, Terror und Sklaverei gegründet, nicht gerade human. Heute baut unsere Zivilisation auf vergangenen Verbrechen (Kolonialisierung, Sklaverei), billiger und schmutziger Energie (Öl, Kohle, Atom), Militärmacht, Korruption und Ausbeutung in armen Ländern auf. Die Rechten haben mE Recht wenn sie sagen wir "verdanken" dem Kapitalismus unseren Wohlstand, aber nicht durch seine Effizienz, sondern dadurch dass andere für uns schuften (müssen) oder der Ressourcenzugang verweigert wird oder die Rechnung bezahlen müssen (Klimawandel, Umweltzerstörung, atomare Abfälle, Ressourcenerschöpfung,...)
Man kann aber, denke ich, argumentieren, dass humanere Gesellschaften eine höhere Akzeptanz in der Bevölkerung genießen und sich langfristig durchsetzen werden und stabiler sind. Insofern ist dein Ansatz recht positiv zu werten. Er ähnelt mE dem Capability-Approach von Amartya Sen.
Ich versuche ja gerade, meinen Zivilisationsbegriff von Reichen wie dem Römischen oder dem imperialen England etc. abzugrenzen.
AntwortenLöschenAls die Taliban, "Steinzeitislamisten", das damalige Afghanistan regierten, hatte Afghanistan also keine Zivilisation? Klar, hatten die eine Zivilisation. Würde man diese Zivilisation mit der westlichen Zivilisation vergleichen, würde man augenscheinlich scheitern. Nicht scheitern würde man jedoch wenn man den Begriff der Kultur zu Hilfe nimmt. Denn der Kulturbegriff geht viel weiter indem er die Moral mit ins Spiel bringt.
AntwortenLöschenKann man also definieren: Zivilisation ist die Abwesenheit von Moral? Ich denke ja.
Du ignorierst völlig dass mein Zivilisationsbegriff vom Üblichen abweicht.
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