Donnerstag, 10. November 2011

Der Neoliberalismus vor dem "Endsieg"?

Von Jürgen Voß

Superlative – schlechte wie gute – gehen uns in der Alltagssprache oft viel zu leicht und damit auch viel zu häufig über die Lippen. Doch was wir zurzeit auf der politi-schen Bühne erleben, stellt wohl alles, was wie uns noch vor fünf oder sechs Jah-ren an Horrorszenarien vorzustellen gewagt hätten, in den Schatten.

Geschah schon die „Bewältigung“ der ersten Finanzkrise 2007 so, dass wir alle glaubten, wir befänden uns in einem falschen Film, läuft zur Zeit im Rahmen der sog. Eurokrise, ein Schurkenstück ab, wie es wohl in dieser Unverfrorenheit seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht mehr vorgekommen ist. Eine sich wissenschaftlich drapierende Ideologie richtet nun seit dreißig Jahren nur soziales und ökonomisches Unheil an, ruiniert die Gesellschaften ganzer Staaten, provoziert die schlimmste Rezession seit 1929 und vernichtet Millionen Existenzen. Doch damit nicht genug. Die Krise eines Währungsraumes, hervorgerufen durch im Dunkeln agierende Zocker, soll jetzt den entscheidenden Schlag gegen die Reste des Nachkriegswohlfahrtsstaates, entstanden in der Defensivposition des Kapitals gegenüber dem bis zur Elbe vorgedrungenen Kommunismus, ermöglichen: Durch eine rabiate, aller wirtschaftlichen Vernunft widersprechenden Austeritätspolitik, die den Nationen des Eurosüdraums aufgezwungen wird und sie garantiert noch tiefer ins Desaster stürzen lässt (wie das Beispiel Griechenland zeigt), als sie es durch ihre „Neoliberalismus-light“ Politik bislang schon waren.


Jetzt folgt die hardcore-Version und zwar brachial. Die Nachdenkseiten vom 9. No-vember berichten über ein Schreiben des EU-Sparkommissars Olli Rehn an die itali-enische Regierung, im dem dieser in nicht weniger als 39 Punkten die gesamte neoliberale Blaupause (Privatisierung und Entstaatlichung, Reduzierung des öffentlichen Dienstes, Deregulation des Finanzmarktes, Schuldenbremse, Erhöhung der Massensteuern, „Flexibilisierung“ des Arbeitsmarktes etc.) dem italienischen Staat zur sofortigen Durchführung mit Berichtspflicht aufoktroyiert.

So erreicht der Neoliberalismus über den durch die Deregulation der Finanzmärkte selbst erzeugten finanziellen „Sachzwang“ exakt die Durchsetzung jener „Reformen“, die einzeln in den jeweiligen Ländern auf demokratischem Wege durchzubringen kaum möglich gewesen wäre oder (ihm) viel zu lange gedauert hätte. Mit anderen Worten: Seinen „Endsieg“.

Auf die absehbaren fatalen ökonomischen Folgen dieser Strategie möchte ich hier nicht eingehen. Aber, wer sich nur Reste sozialer Sensibilität bewahrt hat, muss sich doch jetzt die Frage stellen: Was geschieht in diesen Ländern mit den Men-schen? Welches Schicksal kommt auf den einfachen Bürger zu, der von seiner Hände Arbeit lebt, welche Perspektiven haben insbesondere die jungen Menschen? Gibt es jetzt in Griechenland, Italien, Spanien und Portugal eine ganze Generation, die später in die Geschichtsbücher als die „verlorene“ eingehen wird? Blüht dieser Generation jetzt ein ähnliches Schicksal wie der jungen Generation aus den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts und der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts? Wird sie wie jene das Opfer einer totalitären Ideologie? War es damals der nationalistische Chauvinismus aller europäischen Nationen (und nicht nur des deutschen Kaiserreichs) und später der Revanchismus der Nazis, der den Herrschenden als Instrument diente, von der nicht gelösten sozialen Frage des Kapitalismus abzulenken, so ist es heute eine elitaristisch, ja sozialdarwinistisch argumentierende Ideologie, die medial entsprechend aufbereitet, sich ähnlich totalitär und „alternativlos“ gebärdet wie jene des vorigen Jahrhunderts.

Man mag diese Parallele für zu weit her geholt, ja für völlig übertrieben halten und der Zyniker wird einwenden, lebenslang arbeitslos zu bleiben oder sich in prekären Beschäftigungen bis zum Lebensende durchzuschlagen, sei immer noch viel besser als sein Leben mit 19 Jahren auf den Schlachtfeldern von Verdun, Langemarck oder Stalingrad auszuhauchen. Stimmt! Die Frage ist nur: Wenn dieser Unterschied den Fortschritt eines ganzen Jahrhunderts markiert, was ist ein System wert, das solch einen Fortschrittsbegriff hat?

10 Kommentare:

  1. nun, man kann auch hier diesem unserem lande und seiner fortschrittlichen politik und wirtschaft bezeugen, voranzugehen.

    wer aus dem arbeitsleben ausgeschlossen wird, aus welchen gründen auch immer erhält staatliche versorgung über arbeitslosengeld, hartz4 und dem genuss direkt zugeordneter arbeit. wir brauchen uns darob doch nicht zu grämen, arbeiten doch unsere leistungsträger bereits daran, sollte die arbeit für den einzelnen ausgehen, dass sich dieser dank legitimierter börse für organspenden und -nachfrager selbst seine würde erhalten darf. diese doch so positive entwicklung zum erhalt der menschenwürde durch freiheit aus uanbhängigkeit, welche aus entsolidarisierung entspringt, wollen wir doch aufrecht erhalten und dem individuum auch noch eine allerletzte möglichkeit geben, die da ist, das überleben seiner sippe dadurch zu sichern, dass es dem volkswohl auch in seinem allerletzten stündlein noch zugute kommt durch die fermentation und erzeugung von biogas in einer der hochmodernen anlagen marke buchenwald. was gibt es denn würdigeres, als allen menschen in dieser republik, diese chancenvielfalt zu eröffnen.

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  2. "Eine sich wissenschaftlich drapierende Ideologie richtet nun seit dreißig Jahren nur soziales und ökonomisches Unheil an, ruiniert die Gesellschaften ganzer Staaten, provoziert die schlimmste Rezession seit 1929 und vernichtet Millionen Existenzen."

    Ich bin ja auch kein Freund des Neoliberalismus, aber in den Vergangenen 30 Jahren haben hunderte von Millionen Menschen weltweit (insb. in Asien und Südamerika) einen zuvor unvorstellbaren relativen Wohlstand erreicht. Da müsste man schon gucken wie und warum dass in einem kapitalistischen System geklappt hat. Ganz so einfach ist es dann eben doch nicht.

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  3. Es geht nicht darum irgendein Wirtschaftssystem zu retten. Es geht auch nicht darum das "Notwendige" oder das "Alternativlose" umzusetzen. Das ist alles Propaganda. Es geht tatsächlich darum sämtliche "sozialistischen Errungenschaften" wieder zu beseitigen. Was stattfindet ist Klassenkampf. Das Volk wird bekämpft. Das wollen viele nicht einsehen.
    Aber wie heißt es so schön: Wer seine Augen nicht zum Sehen nutzt, wird sie eines Tages zum Weinen brauchen.
    Solange es im Osten noch "sozialistische" Republiken gab, hat man der Bevölkerung im Westen noch Teilhabe am Reichtum zugebilligt. Schließlich wollte man nicht, dass die "bösen Kommunisten" weitere Anhänger finden. Diese Teilhabe wird jetzt schrittweise zurückgeführt. Das Großkapital hat den Krieg ja schließlich gewonnen. Die Damen und Herren machen jetzt Kasse. Es ist Zahltag.

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  4. Das mit dem Endsieg ist super. Dann brechen den deutschen Export-Waldmeistern weitere Märkte weg.

    Ich fürchte, der gemeine Bürger sollte sich nicht allzu lange mit den kleinen Entbehrungen eines oktroyierten Pflichtenheftes anfreunden.

    Die anschließende und abschließende Implosion Europas mit einhergehenden sozialen und politischen Verwerfungen wird weitergehende Entbehrungen nach sich ziehen.

    Ein zig-facher Sieg: Erst gegen den Sozialismus, dann gegen den Sozialstaat, dann gegen die Demokratie. Und gegen sich selbst. -- Zu dumm.

    Aber wahrscheinlich werden sie wieder kurz vor Klippe in die Eisen steigen. -- Oder?

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  5. @Robin Hood: Die Damen und Herren machen jetzt Kasse.

    Wissen wir doch schon lange und wer es wissen wollte schon kurz nach 1989. Die Frage ist doch: Wie den Reichen nehmen und den Armen geben? -- Und wer machts? :-)))

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  6. @Der Säzzer

    die bremsen wurden schon vor jahren ausgebaut - wer bremst verliert!

    und heute ist man dabei das durchgetretene gaspedal am bodenblech festzuschweissen...

    pedal to the metal!

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  7. Es greift meines Erachtens zu kurz, die Misere allein am "Neoliberalismus" festmachen zu wollen. Klar, die Finanzmarktkrise zeigt, dass der Neoklassik und Neoliberalismus an der Realität gescheitert sind. Das gilt aber auch für den Keynesianismus. Das Problem: Ein überzeugender alternativer wirtschaftstehoretischer Ansatz ist nicht in Sicht.

    Aber neben den Ökonomen haben auch die Politiker und ebenso die Bürger selbst, als Nachfrager nämlich, zur Krise und dem Desaster beigetragen. Ich habe einmal in einem Aufsatz eine Patogenese der Krise zu erstellen versucht (siehe dazu: http://stefanleichnersblog.blogspot.com/2011/10/occupy-wall-street-und-was-dann-was.html).

    Was fehlt, ist ein positiver Entwurf eines reparierten oder eines alternativen, besseren Wirtschaftssystems. So lange es den nicht gibt und so lange vor allem keine breite Diskussion darüber geführt wird, so lange kann und wird uns der eingeschlagene Krisenkurs als alternativlos verkauft werden. Denn wer aktuellvom system profitiert, wird alles unternehmen, damit das so bleibt.

    Gruß
    SLE

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  8. Das sehe ich genauso. Schlechte systemische Rahmenbedingungen sind die eine Seite der Medaille, auf der anderen steht jeder einzelne mündige Bürger, welcher seinen Teil zum "Weiter So" beiträgt.

    Denn Waffen, Umweltverschmutzung und soziale Ungerechtigkeit können nicht nur von dem reichsten und mächtigsten 1% der Weltbevölkerung produziert und verursacht werden.

    Wir alle tragen über ökonomisches, ökologisches und soziales Verhalten unseren Teil zur Gestaltung des globalisierten Wirtschaftsystems bei.

    Und da nunmal leider in der BRD wie auch im Rest der zivilisierten Welt sehr geschickt über die letzten Jahrzente eine Scheinwelt, eine "Marktmatrix" erschaffen wurde, scheint es mir so, als seien große Teile der Weltbevölkerung physisch und psychisch kaum mehr in der Lage, über vernünftige Alternativen auch nur ernsthaft nachzudenken.

    Dies halte ich, neben des Problems einer sich an ihre Macht und ihren Wohlstand klammernden supranationalen, intergouvernmentalen Elite für die Ursache des Problems.

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  9. sehr gute schilderung und einschätzung der derzeitigen lage!!!!

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  10. Warum diskutieren wir nicht einfach Fakten? Auch Demokratie ist nur ein Herrschaftsinstrument. Und zwar der Herrschenden und nicht des Volkes. War schon immer so. Nur: Solange "Luft" war, konnte man die Zügel locker lassen. Mit kaputter Welt, mit zur Neige gehenden Resourcen, mit dem Hochkommen anderer Weltregionen beginnt nun endgültig der Verteilungskampf und wir sind davon betroffen, wer sonst?

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