Von Stefan Sasse
Stuttgart21 hat eine Bedeutung erlangt, die weit über das eigentliche Projekt hinausgeht. Ja, sicher, der Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs und die Trasse nach Ulm sind Beispiele einer schwäbischen Gigantonomie, die ihresgleichen im Land der ihr Geld zusammenhaltenden Hausfrauen sucht, und die Kosten sind höher als die jedes anderen Infrastrukturprojekts in der EU derzeit. Aber längst ist der Streit um Stuttgart21 den Beteiligten entglitten und zu etwas größerem geworden: einer Generalabrechnung der enttäuschten Mittelschicht mit der politischen Klasse. Dies aber ist eine Ehre, die das Projekt eigentlich gar nicht verdient.
Das Projekt "Stuttgart21" zieht sich nun schon deutlich über 20 Jahre hin. Die Planungen dafür wurden bereits in den 1990er Jahren gemacht, erste Schritte bereits in den 1980er Jahren. 1993 unterzeichnete man erste Verträge, seit 2003 ist eigentlich alles unter Dach und Fach, von einer (fast) Allparteienkoalition aus CDU, SPD und FDP durchgezogen und auf der demoskopisch ermittelten Zustimmung der Bevölkerung beruhend. Allein mit dem Argument, dass das Geld endlich mal "im Ländle" ausgegeben statt "drüben im Osten" für Autobahnreparaturen verwendet zu werden hat im Normalfall für ein bekräftigendes "So isches, die henn eh scho gnug Geld von uns griegt" zu erhalten (Übersetzung für Nichtschwaben: So ist es, die haben eh schon genügend Geld von uns bekommen).
Doch anno 2010 ist alles anderes. Für dieses Jahr war der Baubeginn festgelegt, ein Ereignis, mit dem die schwäbische Grinsekatze Oettinger fulminant seine nicht besonders glanzvolle Amtszeit als Landesvater zu beschließen hoffte. Doch plötzlich sah sich die CDU, die das Land seit 56 Jahren ununterbrochen regiert und in den Wahlkreisen der Alb-Region sogar einen Kartoffelsack gefahrlos zur Wahl stellen könnte, mit einer Protestbewegung ungeahnten Ausmaßes konfrontiert, wie es sie vermutlich seit der Revolution 1849 in Baden nicht mehr gegeben hatte. Und dann auch noch ganz ohne preußische Truppen!
Es wurde eingangs bereits erwähnt, dass die Bevölkerung lange Jahre für das Projekt war; die Ablehnung kam erst, als es eigentlich bereits in trockenen Tüchern war. Alle Verträge sind unterschrieben, die Bagger rollen bereits. Vor diesen Massenprotesten hatte das Volk nie gezeigt, dass es mit dem Projekt mehrheitlich nicht einverstanden war. Der Vorwurf an die Politik, volksfern und abgehoben zu sein ist also völlig unangebracht. Lange Zeit handelte die Politik bei diesem Projekt in Übereinstimmung mit der Bevölkerung, die nun plötzlich einen Schwenk vollzogen hat. Dieser Schwenk ist nur mit der allgemeinen Verägerung über "die Politik" zu erklären, die aber ein eigenes Thema verdienen würde.
Hier soll es um die Folgen für die Landespolitik gehen und die, die darüberhinausstrahlen. Für die Politik - und zwar die gesamte, denn die Grünen hängen troz ihrer Gegnerschaft und Umfragegewinne mit ihm Boot - ist eine loose-loose-Situation entstanden. Egal wie die Sache ausgeht, sie wird verlieren. Entweder scheitern die Gegner von Stuttgart21 mit ihrem Bestreben nach einem Volksentscheid. Dann wird es wieder heißen, die Politik sei volksfern und abgehoben und kümmere sich nicht ums Wählervotum. Oder sie kommen wieder Erwarten damit durch und gewinnen den Entscheid auch (was beileibe nicht feststeht), woraufhin die Regierung rechtlich gezwungen wäre Vertragsbruch zu begehen. In diesem Fall wäre eine eigentlich schlimmere Situation entstanden.
Das Volk hätte damit offen der Politik als Ganzem das Misstrauen ausgesprochen und sie entmündigt. Nachdem die Politik sich jahrelang selbst entmündigt hat und ihre eigenen Kompetenzen so weit an die Wirtschaft abgegeben hat, dass sie eigentlich nur noch deren Texte ratifizieren müssen, würde der Volksentscheid nun auch noch dieses Mittel aus der Hand schlagen. Welche Berechtigung hat Politik dann überhaupt noch?
Bitte versteht mich nicht falsch. Ich würde mich freuen, wenn dieses Wahnsinnsprojekt scheitert. Ich würde mich freuen wenn die Politik aufhören würde, den Ausverkauf des Staates an die Wirtschaft zu betreiben. Nur ist gerade ein Volksentscheid über Stuttgart21 nicht das richtige Mittel. Der Protest ist zu spät. Wie ein schwäbisches Sprichwort sagt "Da isch d' Katz' dr Boom nuff" (Übersetzung für Nichtschwaben: Da ist die Katze den Baum hinauf). 20 Jahre lang wurde Stuttgart21 geplant, und zwar nicht wie gewisse Atomdeals intransparent, geheim und unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Doch der Protest regt sich nicht über diese schlimmen Ausverkäufe, die tatsächlich auch diesbezüglich eine gewisse Symbolwirkung hätten und viel verheerender sind als der schwäbische Größenwahn. Stattdessen begnügt man sich damit, es "denen da oben" mal richtig zu zeigen und für den Erhalt des leer stehenden und abgrundtief hässlichen Nordflügels zu kämpfen. Das ist mehr als ärgerlich. Ich sehe schon kommen, dass das Merkel-Geschwätz von der "Volksabstimmung", zu der die Landtagswahlen würden, nachher tatsächlich geglaubt wird. Und wenn die CDU dann zur schwarz-roten Koalition gezwungen ist, werden einige Leute tatsächlich noch froh über diesen "Denkzettel" sein. Großartig.
Haha, danke für die Übersetzung des Schwäbischen. Im wesentlichen kann ich der Argumentation folgen, aber mir scheint doch, dass wesentliche Studien lange zurückgehalten wurden, etwa über die Evaluierung der Sicherheit oder über die Risiken der Bodenbeschaffenheit, und so eine Neubewertung notwendig machen. Aber in der Tat ist der jetzige Nordflügel keine Schönheit, er erfüllt wohl eher die gleiche Aufgabe wie eine seltene Fledermausart bei der Dresdner Elbbrücke.
AntwortenLöschenAnmerkung: Loose != lose. Sorry, zu mehr Kommentar fehlt mir da der Überblick über die Situation.
AntwortenLöschenIch habe mal eine Bekannte gefragt, sie lebt in Stuttgart: "Warum lenkt ihr eure Aktivitäten nicht gegen die staatlichen Transferzahlungen an Banken?" Ihre Antwort (ich bleibe im versuchten Hochdeutsch):"Das kapiert doch keiner. Den Bahnhof hier sehen die Menschen, damit können sie etwas anfangen. Das mit dem Geld ist viel zu kompliziert." Ein Verständnisproblem?
AntwortenLöschenNein, kein Verständnisproblem: die Menschen stehen z.T. auch hinter den Transferzahlungen. Aber der Vergleich ist für mich unangebracht - Stuttgart 21 wurde leider nicht, wie behauptet, "15 Jahre lang geplant", dazu ist das Konzept (!) an vielen Stellen viel zu windig. Zudem wird an allen Ecken und Enden geschönt. Beispiel? Der Park werde 20 Ha größer. Stimmt auch. Aber keiner fragt wo und wie. Die Stelle, an der der Park größer würde ist ein steiler Hang. Dafür sollen wir unsere Sommerliege- und Spielwiese direkt im Zentrum hergeben? Dass der restliche Park nachher nur noch mit der UBahn erreichbar ist? Und mit 5'000 neuen Bäumen eher einem Wald gleicht?
AntwortenLöschenDie Leute regen sich auf, weil hier ein Immobilienprojekt als Infrastrukturprojekt ausgegeben wird, weil man Alternativen aufzeigt, der Landgewinn den Raffkes aber um einige Hektar zu wenig ist. Die Alternative hätte sogar den Charme _wirklich_ ein Infrastrukturprojekt zu sein.
Es sit auch nicht so wie vom ÖF beschreiben, dass die Leut "plötzlich" umschwenken: sie haben jetzt erst begonnen, sich mit Argumenten auseinanderzusetzen. Und sie merken, dass auf Projektbeführworterseite nur Hochglanzprospekte und Werbesprüche zu bekommen sind. Argumente? Wenige, die aber immer nur unter auslassen eines Teils der Wahrheit.
ein letztes noch: die Sache war 2003 keineswegs in trockenen Tüchern, damals hat keiner geglaubt, dass irgendwer noch an Stuttgart 21 arbeitet, man hielt das Projekt für tot und abgeblasen.
Eines habe ich noch vergessen: der Bahnhof wird abgerissen, die Bäume abrasiert, OBWOHL integrale Bestandteile des Bahnhofkonzepts noch nicht planfestgestellt sind. Wenn es dumm läuft, haben wir einen Bahnhof quer zum Tal ohne Zu- und Ablauf.
AntwortenLöschenDa gab es schon mal eine Stadt, Schilda hieß die.
@ MCBuhl
AntwortenLöschenDas ahnte ich, dass die Vielzahl und Beliebigkeit der gegenseitig zugeschobenen Argumente derart erdrückend ist, dass ich selbst schon kaum eine Chance sehe, mich in diese Thematik einzuarbeiten. Anderen wird das sicherlich besser gelingen. Ich bemühe mich lediglich es zu verstehen. So wie Du es beschreibst, klingt es, als wenn ein scheinbar totes Projekt wieder exhumiert wurde. Was mich fragen lässt: Warum macht jemand soetwas?
@Daniel
Ja, eben. Ein Fraktionsabgeordneter hat diese Woche im Bundestag von einem revolutionären Geist, welcher in Stuttgart wandelt, gesprochen. Anzunehmen das daraus ein revolutionäres Schreck-Gespenst erwachsen könnte, wirklich unnötig. Ich denke, da haben die Höhe und die Umstände des neuen Basisgeldes einiges an Potenzial mehr, einfach weil es vielmehr unmittelbar Betroffene (Geschädigte) gibt.
"Der Vorwurf an die Politik, volksfern und abgehoben zu sein ist also völlig unangebracht. ... Welche Berechtigung hat Politik dann überhaupt noch?"
AntwortenLöschen"Unsere" Demokratie hat gewaltige Defizite. Das fängt bei der Nominierung der Kandidaten an, geht über die Überhangmandate weiter und hört bei der fehlenden Gewaltenteilung lange noch nicht auf. Politk hat ihre Berechtigung, wenn sie sich als Volksvertretung generiert und nicht merkwürdig zustande gekommene Mandate als Blankocheck für die nächsten 4 Jahre nimmt.
Außerdem: Warum soll der Souverän seine Meinung NACH JAHREN nicht auch mal ändern dürfen? Und warum soll er sich darauf festnageln lassen müssen, Münte aber schon nach Wochen es als unfair bemängeln, an seinen Wahlaussagen gemessen zu werden?
Ich finde den Beitrag arg inkonsistent..
Den Nordflügel als "hässlich" zu bezeichnen, finde ich unangebracht. Natürlich ist das eine Geschmacksfrage; Tatsache ist aber, dass der Bonatzbau architektonisch nur mit beiden Seitenflügeln und dem Gleisvorfeld funktioniert. Die Ingenhoven-Interpretation macht einfach gar keinen Sinn, da könnte man das Gebäude auch ganz abreißen.
AntwortenLöschenEine Protestbewegung braucht einen Kristallisationspunkt. Der war erst mit dem Beginn der Bauarbeiten gegeben.
AntwortenLöschenAußerdem hast Du die verheimlichten Gutachten und geschönten Kostenrechnungen vergessen.
Und was ist mit den 60000 Unterschriften für das Bürgerbegehren vor Jahren? Abgebügelt mit fragwürdigen Begründungen.
Der Freidenker hat hier zu frei gedacht. Er kennt zwar viele schwäbische Sprichwörter, aber nicht die wirklichen Gründe des Protests.
Wenn man schon immer mit der katz argumentiert, die angeblich schon längst..., dann wären vielleicht diese beiden artikel über die damaligen und heutigen abläufe hilfreich.
AntwortenLöschenHier was zum spätzlefilz hinter dem projekt:
http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/schwaebische-verflechtungen-1/
und hier mal eine kleine chronologie, die etwa mit dem übereinstimmt, was ich davon in erinnerung habe.
Und dazu sag ich nur, von wegen bürgerbefragung...
http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/prestige-und-protest/
gruß bel