Dienstag, 28. April 2009

Der kranke Mann Deutschlands - Deutschlands Bildungssystem, Teil 3: Schulformen

Teil 1: Auftakt
Teil 2: Welche Wurzeln hat unser Bildungssystem?
Teil 3: Schulformen
Teil 4: Infrastruktur
Teil 5: Lehrerbildung
Teil 6: Die Universitäten

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Schulformen

Die Schulformen Deutschlands zu beschreiben ist nicht leicht. Bekanntlich ist das Bildungssystem in der BRD föderalistisch geregelt, was bedeutet, dass jedes Bundesland der Überzeugung ist, mit seinem System den Stein der Weisen gefunden zu haben und sein System als dem der anderen Länder überlegen ansieht (obgleich immer wieder Bestrebungen versucht werden, einheitliche Tests durchzuführen). Dieser Bildungsförderalismus hat auch Rückwirkungen auf die Lehrerausbildung, wie wir in einem späteren Artikel noch sehen werden, nur so viel: ein Lehramtsstudent in Baden-Württemberg kann sein Praxissemester zwar in Neuseeeland machen, aber nicht in Bayern – weil die Schulsysteme zu unterschiedlich seien.

Welche Schulformen gibt es also in Deutschland? Eine Form findet sich mehr oder minder unverändert in allen Bundesländern, und das ist die Grundschule. Sie beginnt für gewöhnlich für Kinder mit dem sechsten Lebensjahr (sofern sie nicht in eine Grundschulförderklasse kommen, die eine Art Mittelding zwischen Kindergarten und Schule darstellt) und dauert zwischen zwei und vier Jahren. Am Ende der Grundschule steht in den meisten Bundesländern dann die Selektion auf eine weiterführende Schule. Davon gibt es bis zu vier: die Sonderschule, die Hauptschule, die Realschule und das Gymnasium, die sich wiederum in Unterzweige aufgliedern können (Werksrealschulen, Wirtschaftsgymnasien und so weiter). In einigen Bundesländern, die sozialdemokratisch regiert sind (oder lange Zeit waren) gibt es außerdem mehr oder minder weit fortgeschrittene Experimente mit Gemeinschafts- oder Einheitsschulen. Was aber bedeutet das alles? Wir wollen uns zuerst einmal dem Unterschied zwischen dem „normalen“ System, das ab hier richtigerweise als „gewohntes“ System bezeichnet werden soll, zwischen dem dreigliedrigen Schulsytem und den Gemeinschafts- oder Einheitsschulen, ab sofort nur noch als Gemeinschaftsschulen bezeichnet, befassen.

Das dreigliedrige Schulsystem, das vor allem von den Konservativen präferiert wird, geht vereinfach gesagt davon aus, dass Kinder individuelle Stärken haben. Die einen sind pfiffiger, die anderen weniger. Gemeinhin wird unterstellt, dass Kinder, deren Fähigkeit zum abstrakten Denken weniger weit entwickelt ist, handwerklich eher begabt sind. Dementsprechend gibt es mehrere Schulformen, die für diese Typen geeignet sein sollen.

Die erste (und rangniedrigste) dieser Schulformen ist die Sonderschule. Sonderschulen sind für lernschwache Kinder gedacht, die hier in einem für sie angepassten Niveau lernen sollen. Die Lernkurve ist allgemein flacher als bei den anderen weiterführenden Schulen, abstraktes Denken wird fast nicht benötigt.

Die zweite Stufe ist die Hauptschule. Sie deckt den Zeitraum ab, der vom Gesetzgeber als gesetzliche Schulpflicht vorgesehen ist (neun Jahre) und endet damit für gewöhnlich im Alter von 15 oder 16 Jahren. Die Schule soll Kinder darauf vorbereiten, später eine handwerkliche Lehre zu beginnen.

Die dritte Stufe ist die Realschule. Sie ist gewissermaßen ein Zwitter zwischen Hauptschulen und Gymnasien. Ursprünglich war sie als Alternative zu den humanistischen Gymnasien geschaffen worden um gleichrangig eine an den Naturwissenschaften orientierte Ausbildung zu bieten. Mit der Aufteilung in allgemeinbildende und humanistische Gymnasien jedoch ist sie immer weiter zurückgedrängt worden, bis sie ihre heutige Stellung eingenommen hat. Die Kinder lernen hier kompliziertere Sachverhalte, bleiben jedoch eingermaßen praxisnah und sollen nach der Schullaufbahn, die ein Jahr länger dauert als auf der Hauptschule, idealerweise eine Lehre als Kaufmann oder etwas Ähnliches beginnen.

Die vierte Stufe ist das Gymnasium. Es ist gewissermaßen die Krone des Schulsystems, ein Relikt aus der Zeit, als es noch dem oberen Prozent der Kinder vorbehalten war (heute bis zu 50%). Praxisbezug spielt hier fast keine Rolle, Abstrahierungen müssen auf hohem Niveau erlernt und ein breites Allgemeinwissen erworben werden. Die zwölf bis dreizehn Jahre Schulzeit enden in einer großen Prüfung, dem Abitur (früher auch Reifezeugnis genannt), das die Hochschulreife beinhaltet. Das Gymnasium ist also dezidiert dazu gedacht, die Kinder auf ein späteres Hochschulstudium hin vorzubereiten.

Soweit die Theorie. Wir werden uns später mit der Praxis beschäftigen. Gemeinschaftsschulen funktionieren nach einem anderen Prinzip. Hier wird gerade nicht davon ausgegangen, dass die Kinder gewissermaßen inhärent klüger oder dümmer und damit für bestimmte Aufgaben prädestiniert sind, sondern dass ein gemeinsames Lernen letztlich für alle von Vorteil ist. Wo Konservative damit argumentieren, dass auf diese Art die Klugen und Schnellen von den Dummen und Langsamen ausgegrenzt werden argumentieren die progressiven Befürworter, dass die Ersteren die Letzteren mitziehen und letztlich beide Seiten profitieren. Gemeinschaftsschulen sehen oftmals gemeinsamen Unterricht bis zur sechsten bis zehnten Klasse vor (selten in einem anderen Rahmen), meist mit der Möglichkeit verbunden, bei entsprechender Neigung die gymnasiale Oberstufe aufzusatteln und damit die Hochschulreife nachzuholen.

Die Form des dreigliedrigen Schulsystems ist in ihrer häufigsten Ausprägung als staatlich finanzierte und kontrollierte Schule anzutreffen, die nach den gesetzlichen Standards und Richtlinien des Kultusministeriums funktioniert, deren Lehrer verbeamtet sind und die chronisch unterfinanziert sind. Sie sind als Privatschulen relativ selten.

Gemeinschaftsschulen auf der anderen Seite sind zum Teil staatliche Einrichtungen (praktisch ausschließlich in sozialdemokratisch regierten Ländern) und werden ebenso häufig als private oder teil-private Anstalten geführt, oftmals mit Zuschüssen des Staates, aber ohne die Weisungen und Regeln des Kultusministeriums.

Den Gesamtschulen ist gemein, dass sie häufig besser sind als ihr Ruf. Es stimmt nicht, dass die Schüler dort im Schnitt bessere Leistungen erreichen würden als ihre gleichaltrigen Kameraden im dreigliedrigen Schulsystem (als Vergleichsmaßstab können hier nur die zentralen Abiturprüfungen oder Abschlussprüfungen der Realschule herangezogen werden), aber es ist gleichfalls falsch, wie vor allem ihre Gegner nicht müde werden zu behaupten, dass die Abgänger der Gemeinschaftsschulen im Schnitt schlechter wären als ihre Kameraden aus dem gewohnten Schulsystem.

Welche Argumente gibt es also für Gemeinschaftsschulen, wenn sich doch am Ergebnis scheinbar nichts ändert? Der Unterschied liegt im Detail. Ich habe eingangs die theoretische Konzeption des dreigliedrigen Schulsystems angesprochen, die zu Teilen noch aus dem Bismarck-Reich mit seinen Elementar-, Volks- und Realschulen stammt. Diese Konzeption ist von der Wirklichkeit überholt. Sie mag in einer von den Konservativen gerne verklärten Zeit gegolten haben, als nur ein Prozent der Schüler (praktisch ausschließlich aus besserem Hause und männlich) das Gymnasium besucht hat und die überwältigende Mehrheit mit den Elementarschulen (und später den Hauptschulen) vorlieb nehmen musste. Damals mag das System so funktioniert haben, und in der hauptsächlich von der Industrie geprägten Wirtschaft jener Jahre mögen auch die Ergebnisse zur Situation des Arbeitsmarktes gepasst haben.

Gerade der Bildungsförderalismus ist einer der größten Blockierer für Reformen, interessanterweise nur in den seltensten Fällen aus Wahlkampfmotiven. Wurden Sozialstaatsreformen bislang praktisch immer zu wahltaktischen Zwecken blockiert oder nicht blockiert, so kann der Bildungssektor als ein verbliebendes Bollwerk der ideologischen Auseinandersetzung gelten. Im Endeffekt geht es um das Aufeinanderprallen zweier Menschenbilder, die sich in den letzten 150 Jahren nicht großartig verändert haben: die Konservativen auf der einen Seite sind der Überzeugung, dass Menschen von Natur aus unterschiedlich sind und es deswegen auch unterschiedliche Bildungswege braucht – im in diesem Zusammenhang leider oft gebrauchten Stammtisch-Deutsch gibt es eben „dumme“ und „kluge“ Schüler, und man muss die dummen von den klugen separieren, damit sie die klugen nicht versauen. Die Progressiven gehen davon aus, dass die Kinder zwar unterschiedliche Begabungen und Lernweisen haben, es aber so etwas wie „dumme“ Kinder nicht wirklich gibt. Kinder lernen „anders“, nicht „schlecht“ oder „gut“. Das dreigliedrige Schulsystem bzw. die Gesamtschule trägt diesen Vorstellungen Rechnung.

Die aktuelle Misere um die Hauptschulen zeigt jedoch deutlich, dass das dreigliedrigen Schulsystem nicht mehr in der Lage ist, die aktuellen Problemstellungen zu bewältigen. Man kann das auf die sozialdemokratische Bildungsexpansion der 70er Jahre schieben, als der Prozentsatz der Kinder, die das Gymnasium besuchen konnten sprunghaft anstieg und dadurch und durch Einführungen wie die des Bafög gleichzeitig auch die Studentenzahlen in die Höhe gingen, ein Boom, der bereits kurz darauf in Panik vom durchaus eher konservativen Schmidt abgebrochen wurde (deswegen spreche auch in diesem Zusammenhang gerne von „progressiv“ als Gegensatz zu „konservativ“ und nicht von SPD und CDU). Effektiv aber sieht es so aus, dass die Chance eines Hauptschülers heute einen Job zu bekommen um ein vielfaches schlechter ist als noch vor zwanzig Jahren. Sie liegt nahe null, und auch für die Realschulen sieht die Lage nicht viel besser aus. Gymnasiasten drängen inzwischen in Jobs, die früher von Hauptschülern erledigt wurden, auch und gerade in den handwerklichen Berufen. Der Schule gelingt es nicht mehr, notwendiges Wissen zu vermitteln, der Ruf nach mehr Praxisbezug wird immer lauter.

Gleichwohl führt dieser Ruf in die Irre. Ein Praxisbezug kann in einer Welt, in der sich das vorhandene Wissen mit jeder Dekade verdoppelt keinen praktischen Wert besitzen. Er besitzt eine unglaublich geringe Halbwertszeit und lässt sich bereits nach kurzer Zeit kaum mehr sinnvoll gebrauchen, wie beispielsweise die Hilflosigkeit vieler Menschen im Umgang mit Computern immer wieder beweist, von iPhones und ähnlichem ganz zu schweigen. Welchen Nutzen soll es haben, wenn Achtklässter die Nutzung von Windows XP erlernen, wenn bei ihrem Abitur Windows Vista von Windows 7 abgelöst wird? Dies sind keine Aufgaben, die die Schule meistern kann. Die Schule muss in der Lage sein, ein breites Wissen zu vermitteln, und vor allem das Wissen darüber, wie man sich Wissen auch aus fremden Fachbereichen aneignet. Ich bin der Überzeugung, dass die Gesamtschulen in dieser Disziplin deutlich besser abschneiden als das dreigliedrige Schulsystem, und dass Gesamtschulen die Zukunft sind, so sehr sich die Konservativen auch dagegen sträuben mögen.

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