Dienstag, 29. September 2009

Kampf um Begriffe, Teil 1/2

Ein wichtiger Teil des Politikbetriebes ist der Kampf um Begriffe, um ihre Deutung, Interpretation und Konnotation. Umso erstaunlicher ist es, dass dieser Kampf um Begriffe von vielen, wenngleich nicht allen, Politikern für erstaunlich nebensächlich gehalten zu werden scheint. Beispiele für solche "Begriffsschlachten" gefällig?
- Reform. In den 1970er Jahren wurde Reform von den Öffentlichkeitsarbeitern der SPD implementiert und als Chiffre für den Ausbau des Sozialstaats verankert. "Reformen" waren progressiv, beinhalteten Elemente der Gesellschafts- und Globalsteuerung und sollten breiten Bevölkerungsschichten zugute kommen. Sie enthielten eine spezifisch sozialdemokratische Komponente, die gerade von der CDU/CSU erbittert bekämpft wurde. In den 1980er und besonders 1990er Jahren wurde der Begriff umgedichtet: er sollte jetzt die "Leistungsfähigkeit" der Wirtschaft reanimieren und kam fast immer in Verbindung mit "Stau" vor - der berühmte "Reformstau". Als Schröder die Macht übernahm und seine Reformen begann, war das Chiffre vollständig gewandelt - seither kennzeichnet Reform immer den Abbau des Sozialstaats mit einem spezifisch neoliberalen Einschlag.
- Gleichstellung. Dieser Begriff ist eine Neuschöpfung. Er löste den Kampfbegriff "Gleichberechtigung" ab, mit dem die Frauenbewegung seit den 1960ern in die Schlacht zog. Heute gibt es eine Vielzahl von Gleichstellungsbeauftragten, Gleichstellungskomissionen und vielem mehr. Das Chiffre ruft sofort Maßnahmen zur Verbesserung der Stellung von Frauen in Beruf und vor dem Gesetz in den Kopf - was angesichts des Begriffs selbst völlig unsinnig ist, der konsequenterweise auch Männer einbinden und vor allem in beide Richtungen gehen müsste. Dem Maskulismus ist es bisher bezeichnenderweise nicht gelungen, in ähnlicher Weise einen Kampfbegriff zu prägen.
- Neoliberal. Dieser Begriff kennzeichnete in den 1930er Jahren eine neue Ausrichtung des Liberalismus' und wurde im Umfeld Milton Friedmans in den 1970er Jahren wiederbelebt, ursprünglich durchaus positiv oder zumindest neutral besetzt. Inzwischen ist er zum Schimpfwort degeneriert, und niemand würde sich mehr öffentlich als neoliberal bezeichnen.
Dies sind nur zwei Beispiele von vielen, die euch für den Anfang dieses Artikels für die eigentliche Thematik sensibilisieren sollen. Ich habe eingangs postuliert, dass viele Politiker die Macht der Begriffe völlig unterschätzen und den Kampf um Begriffe und damit mithin die Deutungshoheit über das politische Alltagsgeschehen einigen wenigen überlassen, die sich damit auskennen. Diese sind nur schwer zu identifizieren, denn es handelt sich um Personen im Hintergrund (recht gut erkennbar bei der Schöpfung der "Reform", denn Albrecht Müller gehörte zu diesen Strippenziehern im Hintergrund und lässt uns große Einblicke zuteil werden), die ihre Begriffe den entsprechenden Politikern in den Mund legen oder, was heute häufiger ist, von außen entsprechend einwirken. Dies geschieht über die Medien und über Think-Tanks wie die INSM.
Einige mögen jetzt einwenden, dass Begriffe doch letztlich nur Worte sind, und dass Worte nichts entscheiden, sondern nur pragmatische Realpolitik. Dem möchte ich entgegenhalten, dass in einer parlamentarischen Demokratie wie wir es sind eine essentielle Notwendigkeit besteht, seine Politik in der Öffentlichkeit (nicht zwingend gleichbedeutend mit "Bürger") zu verankern. Vielleicht ist jemand aufgefallen, dass die beiden letzten Worte im ersten Satz bereits Kampfbegriffe waren - "pragmatisch" und "Realpolitik". Beide werden in der öffentlichen Debatte sehr häufig verwendet und haben einen positiv konnotierten Klang. Pragmatisch, das klingt gut, denn ist das Gegenteil von "ideologisch", und mit Ideologie haben wir Deutschen schlechte Erfahrungen gemacht. Ideologie ist ein ähnliches Reizwort wie Inflation oder Sozialismus. Es ist inhärent negativ konnotiert.
Wiederum: welche Bedeutung hat so etwas für den politischen Alltagsbetrieb? Ich behaupte: eine sehr hohe. Das Etikett des "Pragmatikers" wird von der Presse denjenigen Politikern gegeben, die eine Linie vertreten, die sie selbst unterstützen, während Politiker mit Ideen abseits dieser Linie als Ideologen gebrandmarkt werden. Dies ist besonders auffällig am Umgang mit der LINKEn, die immer als ideologisch dargestellt wird, deren rechter Flügel aber als "pragmatisch" bezeichnet wird. "Ideologie" wird aber beispielsweise nie im Zusammenhang mit der FDP gebraucht, wo es mindestens ebenso angebracht wäre. Auf diese Art und Weise werden in Artikeln und Reden Lob und Tadel verteilt, ohne dass man entsprechendes aktiv ausdrücken müsste - allein die Wahl solcher Worte reicht.
Oder man denke an "sozialdemokratisch", ein Begriff, der tatsächlich derzeit ein wenig umkämpft ist. Die Medien haben Merkel das Etikett "sozialdemokratisiert" angeheftet, weil sie von ihrem neoliberalen Programm abgerückt ist. Gleichzeitig erklärt die LINKE aufreizend oft, die SPD müsse sich "resozialdemokratisieren". Eine "resozialdemokratisierte" SPD und eine "sozialdemokratisierte" Merkel hätten aber praktisch keine Berührungspunkte - obwohl sie doch eigentlich beide "sozialdemokratisch" wären.
Ich hoffe, dass diese Beispiele hinreichend klar gemacht haben, wie leicht in der Debatte ein Kampfbegriff genutzt werden kann. Er ermöglicht es, politische Gegner leicht in die Schmuddelecke zu stellen und gleichzeitig die eigene Fraktion in ein helles Licht zu rücken. Die Leichtigkeit, mit der dies möglich ist, beruht auch auf dem geringen Wert, der dem gesprochenen Wort zugesprochen wird - ein Trugschluss, den ich im zweiten Teil meiner Betrachtung aufklären will, in dem zudem auch eine mögliche Strategie gezeigt werden soll, den Begriffskampf zu führen.

6 Kommentare:

  1. Nicht zu vergessen, dass Begriffe, respektive Worte Vorstellungen im Kopf einen Menschen evozieren, die oft mit der Sache gar nichts gemein haben.
    Wenn ich für 1000.-- Euro im Monat malochen muss, wenn ich so gar keine Ahnung habe, wie es einem Hartz-IV-Empfänger geht, lasse ich mir leicht vormachen, dass Hartz-IV-Empfänger Faulenzer sind. Ein anderes Stereotyp war in den neunziger Jahren die Rede von den leeren öffentlichen Kassen. Verwundert fragte ich mich, wieso bedienen sich die Politiker qua Diätenerhöhung aus den Kassen mit vollen Händen, obwohl sie leer sind.
    Begriffe, so formulierte es einst Adorno sinngemäß, schieben sich wie eine Wand vor die Sache, die doch zu begreifen wäre. Das heißt, Begriffe dienen nicht nur der Aufklärung, sondern nicht minder der Verschleierung.

    PS.: Nahezu jedes Kind kennt die Erfahrung, dass sich beim Lesen Vorstellungen bilden, Bilder, Phantasien. Und diese Vorstellungen kann man gezielt manipulieren.

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  2. Müntefering gestern auf die Frage, ob die Agenda 2010 als Schuldfaktor in internen Gesprächen benannt wurde: Hartz IV wurde als Begriff hinterfragt, das ist richtig.

    Nur als Begriff also! Sie sind ja so reumütig.

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  3. Frau Merkel wird doch nur deswegen als sozialdemokratisch bezeichnet, weil das Programm der Partei, die sich sozialdemokratisch nennt, dem merkel'schen nicht unähnlich ist.
    Wäre sie wirklich sozialdemokratisch, dann müßte sie sich in ihrem Tun und Handeln am Programm der Linken messen lassen.

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  4. Der Kampf um Begriffe ist selbstverständlich essentiell. Wenn ein Grundrecht einen Begriff enthält, und dieser Begriff umgedeutet wird, wird das Grundrecht ausgehebelt.

    Schönstes Beispiel ist GG Artikel 4, Absatz 3:

    Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.

    Um dieses Grundrecht zu umgehen, wurde in den 70er Jahren das Gewissen zu einem messbaren Charakterzug umdefiniert, der von einem Gremium abgefragt wurde (Gewissensprüfung).

    So wurden viele (auch ich) zum Dienst an der Waffe gezwungen.

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  5. Weitere Kapmfbegriffe: Die Bedrohung durch den "internationalen Terrorismus"

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  6. Das zieht schon nicht mehr wirklich. Inzwischen müssen sie detaillierter werden; häufigeres Chiffre sind "Taliban" und "Islamisten".

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