Von Frank Benedikt
Turnusgemäß alle zwei Jahre stellt sich mir eine Frage, die ich so leicht gar nicht zu beantworten weiß, obwohl in meinem Reisepass doch die Antwort stünde. “Der Inhaber dieses Passes ist Deutscher” Deutscher? So einfach ist das also? Diese 33 Zeichen in einem Dokument, das mich zum dauernden Aufenthalt in einem Land berechtigt, in das zu flüchten oder auszuwandern viele Tausende in aller Welt jährlich anstreben und dabei öfter jämmerlich zu Tode kommen? Diese sechs Worte, die ein mir zweifelhaftes Glück bescheinigen? Kann ich überhaupt ein Deutscher sein?
Natürlich setze ich mich nicht nur im zweijährigen Turnus mit dieser Frage auseinander, aber zu jeder EM oder WM bin ich in besonderer Klärungsnot, da ich überall schwarz-rot-goldene Fahnen sehen und “Deutschland”-Schlachtrufe hören muß. Selbst die Bierdosen meiner Hausmarke werden zu dieser Zeit von schlichtem Schwarz auf Schwarz-Rot-Gelb umlackiert. Einen neuen zweifelhaften Höhepunkt erlebte ich aber vorgestern in der U-Bahn, als sich eine junge Frau zu mir setzte – mit schwarz-rot-goldenen Fingernägeln. Was geht in solchen Menschen vor sich? Benötigen sie gelegentlich einen kollektiven Rausch, die “Gruppendynamik”, wie es im Psycho- und Soziologendeutsch so schön heißt? Und das vor dem Hintergrund unserer Vergangenheit?
Unweigerlich fiel mir dazu Tucholsky ein:
“Jeder Mensch hat eine Leber, eine Milz, eine Lunge und eine Fahne; sämtliche vier Organe sind lebenswichtig. Es soll Menschen ohne Leber, ohne Milz und mit halber Lunge geben; Menschen ohne Fahne gibt es nicht.”
Ist dem so? So scheint mir fast. Nationalismus war mir jedoch stets ein Rätsel, wenn mir auch Gruppendynamik aus jungen Jahren nicht fremd ist. Was treibt Menschen dazu, sich als Angehörige einer bestimmten “Nation” zu fühlen und zu gerieren? Natürlich frage ich mich dies nicht nur bezüglich der Deutschen, aber vor allem deshalb, weil ich ja per definitionem einer davon bin, und gerade Deutschland die gräßlichsten Seiten des Nationalismus hervorgebracht hat. Bin ich, obwohl ich eben dieses ganze nationalstaatliche Gehabe ablehne, dennoch Deutscher?
Da müssen wir wohl näher hinleuchten, denn nur, weil es in meinem Pass steht, empfinde ich das noch nicht so, und von den Fähnchenschwenkern unterscheide ich mich wie der Tag von der Nacht.
Da müssen wir wohl näher hinleuchten, denn nur, weil es in meinem Pass steht, empfinde ich das noch nicht so, und von den Fähnchenschwenkern unterscheide ich mich wie der Tag von der Nacht.
Da wären zunächst rund 800 Jahre Familiengeschichte väterlicherseits, die überwiegend in Deutschland stattfand. Das würde ja für “deutsch” sprechen, wenn wir nicht sorbischen Ursprungs wären und sich unser sorbisches Erbe nicht noch über Jahrhunderte erhalten hätte. Mütterlicherseits stamme ich von “Ruhrpott-Hugenotten” ab, deren Stammbaum sich nicht gar so weit zurückverfolgen läßt. Wenn ich es also im Sinne der Blut- und Rassefanatiker genau nehmen würde, wäre ich ein Franko-Sorbe und somit kein Deutscher. Aber man wird ja mit der Zeit eingebürgert …
Als Nächstes gilt es festzuhalten, daß ich auch nie bereit war, für dieses Land zu kämpfen und durch eine glückliche Fügung auch weder Wehr- noch Zivildienst leisten mußte. An dieser Stelle werde ich nicht ausführen, wofür und für wen ich zu kämpfen bereit bin – es genügt, wenn wir auch hier “vaterlandsloser Geselle” konstatieren. Mit der Idee eines Vaterlands wußte ich eh nie viel anzufangen, da ich mich schon früh als Weltbürger verstanden habe. Damit bin ich wohl ein lausiger Staatsbürger.
Mit dem Bejubeln irgendwelcher Stars und Sternchen aus Sport, Politik, Musik etc., nur weil sie Deutsche sind, habe ich ebenfalls nichts zu tun, und grölende deutsche Touristen an irgendwelchen Stränden oder Bars dieser Welt sind mir ein Greuel, weshalb ich dann auf Nachfrage immer gerne erzählt habe, ich wäre Schweizer. Nein, ein mustergültiges Exemplar der Gattung “Deutscher” bin ich fürwahr nicht – oft genug war ich folglich versucht, endgültig das Land zu verlassen, zumal es Gelegenheiten genug gab. Eine traurige kleine Hassliebe, die mich wie einst Heine oder Tucholsky mit diesem Land weiter verbunden hätte, wäre wohl die Folge gewesen …
Und mit Tucholsky, der 1929 in seinem Buch “Deutschland, Deutschland über alles” dieses Land und seine Bewohner bitter kritisierte, am Schluß aber doch ein Bekenntnis dazu abgelegt hat, möchte ich schließen: Trotz der häufigen Irrationalität seiner Bewohner liebe ich dieses Land doch. Es ist eben auch meine Sprache, die einzige, die ich halbwegs beherrsche, da ich auch in ihr denke; es sind – trotz Umweltzerstörung – auch meine Berge und Täler, meine Flüsse und Seen, es sind die Biergärten in meiner Heimat Bayern, und – es sind auch die Menschen, die eigentlich nicht schlechter oder besser sind als anderswo. Damit meine ich alle, die hier leben, nicht nur die “Eingeborenen”. Carl Zuckmayer sprach in seinem Werk “Des Teufels General” von natürlichem Adel, der durch die Vermischung am Rhein entstanden sei. Dieser Gedanke ist richtig und entspricht auch der “Melting-Pot”-Idee, die dem anglo-amerikanischen Kulturraum entstammt. Bin ich also (auch) ein “Deutscher”? Ja.
[fb]
Mir geht es ähnlich.Diesem Nationalstolz und dieser Deutschtümelei kann ich absolut nicht abgewinnen.
AntwortenLöschenIch spiele sehr viele MMORPGs und gebe mich auch immer als Schweizer aus.
Habe letztens eine ähnlichen Gedanken auf meinen Blog behandelt. Mir ist nicht nur der Nationalismus im Fussball suspekt, sondern jeglicher Kollektivismus im täglichen Leben wirkt auf mich fremdartig. Jegliche Abgrenzung zu anderen Gruppen, Nationen, Mannschaften hat etwas Künstliches an sich.
AntwortenLöschenNur weil ich mit etwas vertrauter bin, muss ich es nicht automatisch besser sein als das Fremde.
Nationalstolz ist völlig unangebracht. Es ist ein kosmischer Zufall ob man als Deutscher, Franzose oder Senegalese zur Welt kommt. Allein Deutscher zu sein, berechtigt einen nicht die Leistungen vorheriger Generationen von Deutschen für sich zu verbuchen. Oder, noch schlimmer, die Leistung anderer Landsmänner in der Gegenwart für sich selbst zu veranschlagen.
Das geschieht zur Zeit mit der Nationalmannschaft millionenfach. Die Spieler sind nicht "meine" Mannschaft, "wir" haben nicht gegen Australien gewonnen. Jogis Mannen sind "die" deutsche Nationalmannschaft und "sie" haben gewonnen.
Deswegen mochte ich deinen Satz:
"Es ist eben auch meine Sprache, die einzige, die ich halbwegs beherrsche, da ich auch in ihr denke; es sind – trotz Umweltzerstörung – auch meine Berge und Täler, meine Flüsse und Seen, es sind die Biergärten in meiner Heimat Bayern, und – es sind auch die Menschen, die eigentlich nicht schlechter oder besser sind als anderswo"
Das trifft es ganz gut. Verantwortung tragen ohne im falschen Stolz zu schwelgen!
Aber -ganz ohne Nationalstolz, denn worauf soll ich stolz sein, jung wie ich bin- kann ich anmerken dass ich in eben diesem Land gelebt und gewirkt habe, dieses Land ebenso an mir gewirkt hat. Unter dem deutschen Einfluss bin ich die geworden die ich bin, mein früherer Plan nach Istanbul auszuwandern hat mir vor allem gezeigt dass ich eine ganz andere wäre wenn ich woanders geboren und aufgewachsen wäre.
AntwortenLöschenSomit ist Stolz zwar nicht ganz richtig, aber eine gewisse Zugehörigkeit ist sicher da. und ja, ich mag meine Heimat schon deshalb weil die Landschaften hier liebenswert sind (und oft auch die Menschen die darin leben).
Und ich dachte ich bin der Einzige, der so denkt.
AntwortenLöschenLeute die nie Fußball gucken werfen einem mangelnden Nationalstolz (den hab ich sowieso nicht) vor, wenn man eben nicht die Spiele der deutschen Mannschaft sieht.
Leute, die sich sonst einen Dreck um D scheren und nur nörgeln, SIND auf einmal Deutschland. Ich weiß nicht, wie andere das sehen aber irgendwie entbehrt das jeglicher Logik. *koppkratz
Mit freundlichen Grüßen
So wie alle zwei Jahre diesselbe Diskussion aufzukommen scheint, ob dieses kollektive Fahnengeschwenke denn nun ein Ausbruch nationalistischer Gesinnung ist, so kommen mit tödlicher Sicherheit Beiträge wie dieser auf die Agenda. Und ehrlich: Ich weiß nicht, was mich mehr nervt.
AntwortenLöschenVor allem der Bemerkung, dass irgendwann immer unvermeidlich die Sprache darauf kommt, dass diese unsäglichen 12 Jahre allen Nationalstolz verbieten, bin ich sowas von überdrüssig.
Stolz auf meine Heimat ist so eine Sache. Den Glücksfall, hier und nicht etwa 1.000 km weiter östlich geboren zu sein, kann mich nicht mit Stolz erfüllen. Glücklich bin ich, dass dieses Land für eine großartige Tradition, große Dichter und Denker, Komponisten und vielfältiger Kultur steht.
Glück würde ich es nennen, nicht Stolz.
jaja der toitsche Fussballfan ist super!!!!1111
AntwortenLöschenhttp://www.basicthinking.de/blog/2010/06/18/facebook-attacke-gegen-spanischen-referee-alberto-undiano/
Eine interessante Sache! Da scheinen sich fast alle Intellektuellen zu treffen - nämlich darin, dass sie keine Deutschen sein wollen. Wir identifizieren uns nicht mit diesem Land (warum auch sollte man sich mir irgendeinem Land identifizieren, das ja nur ein abstraktes Gebilde ist, eine Gedankenform)! Dabei entsteht eine andere Identifikation, die der guten, der kritischen Deutschen. Die, die über den Tellerrand schauen, und die den anderen, den dummen Deutschen natürlich überlegen sind. Wir sind die Deutschen, die sich schämen, die sich als Schweizer ausgeben. Dabei ist das Contra eine fast ebenso starke Identifikation wie das Pro. Ob ich versuche besonders deutsch, oder besonders undeutsch zu sein, bei beidem steht die Gedankenform "deutsch" im Zentrum meiner Bemühungen. Beides sind Rollenspiele. Schaut her, wie undeutsch ich bin. Es hindert uns, spontan, authentisch und vielleicht einfach unverkrampft und menschlich zu sein.
AntwortenLöschen@Daniel:
AntwortenLöschenIch weiß zwar nicht, wo ich in meinem Beitrag ein "Hohelied" gesungen hätte, aber sei es drum.
Ich erkenne vielmehr, dass Du mir eine Haltung andichten willst, die a) nicht nur in meinem Beitrag nicht angeklungen ist und die b) überhaupt nicht meiner Meinung entspricht.
Vielleicht finde ich ja die Tatsache hier geboren zu sein total unwichtig? Ich bezeichnete es schlicht als Glück, nicht mehr.
Dass ich mit meinen bescheidenen Möglichkeiten einiges versuche, das gewaltige Ungleichgewicht auf der Welt zu beseitigen, kannst Du natürlich nicht wissen.