Von Stefan Sasse
In den Herzen der meisten linken und linksliberalen Zeitgenossen löst die Inflation von Schwarz-Rot-Gold, die sich zu WM und EM seit 2006 auf den Straßen zeigt, eine innere Unruhe aus. Wir waren zufrieden damit, dass in Deutschland kein genuiner Nationalstolz zu erkennen war, dass die Flagge auf wenige offizielle Anlässe beschränkt blieb und die meisten Menschen nicht einmal auf die Idee kamen, sich die Nationalfarben ins Gesicht zu schminken. Seit 2006 hat sich das alles wie mit einem Schlag geändert, und heute gehören die Farben der BRD in das Umfeld der beiden großen Fußballturniere wie das Bier in die Kneipe. Natürlich fehlt es nicht an mahnenden Stimmen, die diesen Trend für bedrohlich halten, den ersten Schritt auf dem Weg in einen chauvinistischen Nationalismus, der in dieser Lesart bereits in den Ersten Weltkrieg geführt hat. Ich sehe diese Gefahr allerdings nicht.
Das Schwenken der Flaggen, das Tragen der Trikots, das Schminken in den Farben - all das ist Ausdruck nicht eines neuen Nationalstolzes, war es auch bereits 2006 nicht. Entsprechende Instrumentalisierungsversuche sind fehlgeschlagen, der Versuch, die "gute Stimmung" auf die Politik zu übertragen und mit irgendetwas anderem als Fußball zu assoziieren, schlug fehl. Daher auch das schnelle Verschwinden des schwarz-rot-goldenen Kitsches mit Ende des entsprechenden Cups. Es ist ein bisschen wie Sylvester, nur auf zwei Wochen ausgedehnt: man fängt schon ein, zwei Tage vorher mit Knallen an und brennt den Rest am 1. Januar noch kurz mit ab. Trotzdem werden nicht das ganze Jahr Böller gezündet. Gleich verhält es sich mit dem Kult um Schwarz-Rot-Gold.
In der Tat handelt es sich dabei um einen, wenngleich sehr starken, Modetrend. Das entstehende Zusammengehörigkeitsgefühl hat sicherlich einen großen Reiz, aber - und das beweist dieser nun dritte unter schwarz-rot-goldenen Farben stehende Cup - es transzendiert den Fußball nicht. Die Begeisterung für "Schland" ist in keinster Weise gleichzusetzen mit der Bundesrepublik Deutschland und ihrem politischen System. Alle Versuche, die 2006 und 2008 in Richtung einer entsprechenden Instrumentalisierung gemacht wurden, sind fehlgeschlagen. Konsequenzerweise fehlt dieses Jahr auch eine passende Begeisterung; nicht einmal Westerwelle hat sich bisher dazu herabgelassen, plötzlich den Fußballfan zu mimen und in Südafrika zu jubeln, wie das 2006 noch Politikerpflichtprogramm war.
Ich halte deswegen die ganze Aufregung von links wie von rechts um die Flaggenschwenkerei für übertrieben. Weder werden die Deutschen im Sinne der Konservativen "normal" und übertragen die Begeisterung für Nationalsymbole auf Fußballerbrust auf Nationalsymbole an der Soldatenschulter, noch marschieren wir bald wieder alle im Gleichschritt in ein Zeitalter des Imperialismus hinein. "Schland" ist ein Fantasieland, in dem die Mehrheit der Deutschen für zwei Wochen alle zwei Jahre einzieht, eine große Partei feiert und das Aufräumen dann den aufgeregten Leuten in den Klatschspalten überlässt, während man den ganzen Schwarz-Rot-Gold-Kitsch in den Keller räumt.
Links:
NDS - Das Schwenken der Fahnen - Eine Einübung in Gleichschaltung für alles Mögliche
FR - Dem Jubel ist nicht zu trauen
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NDS - Das Schwenken der Fahnen - Eine Einübung in Gleichschaltung für alles Mögliche
FR - Dem Jubel ist nicht zu trauen
Da hat der Freidenker gerade noch einmal die Kurve gekriegt...;-)
AntwortenLöschenNach dem ersten Absatz war ich ob der sich abzeichnenden "Nationalismus-Keule" schon wieder bedient, nur um dann in dem Folgendem meine Auffassung wiederzufinden.
Ich vermag in dem kollektiven Fahnengeschwenke nichts deutschtümelndes zu erkennen. Es ist Unterstützung einer eben seit 2006 um sich greifenden Feierei, vergleichbar mit Karneval.
Bei einigen der sogenannten Fans frage ich mich denn auch, ob sie wohl in der Lage wären, den Kader der Truppe in Afrika aufzuzählen.
Es geht den Meisten nicht um Deutschland; es geht um Party, Fun und gemeinsamem Erleben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Oder wie schon der römische Dichter Juvenal sagte: "Panem et circenses"
Und was ist jetzt mit den Vuvuzelas???
AntwortenLöschenDie summieren sich mit in den Kitsch. Außerdem machten sie ne gute Überschrift. :)
AntwortenLöschenRichtig, es geht darum eine Rechtfertigung zu haben, proletenhaft rumzugröhlen und zu saufen. Sehe ich auch so!
AntwortenLöschenDennoch würde ich das ganze nicht ganz so verharmlosen, wie Du das in Deinem Artikel machst. Ich höre durchaus Stimmen, die sagen, dass sie froh sind, wieder stolz auf Deutschland sein zu dürfen, ohne dass ihnen eine rechte Gesinnng vorgeworfen wird. Solche Sätze machen mich dann stutzig.
Und nur weil der Nationalstolz noch nicht erfolgreich instrumentalisiert worden ist, heisst das nicht, dass das nicht noch passieren kann, oder?
Ich vergleiche den Schamas immer mit Fasching und das kann ich auch nicht leiden. Wenn man da mal unversehens am falschen Ort ist bekommt man beim einen ein Herz und beim anderen eine Trikolore auf die Wange gemalt. Sieht doch alles lächerlich aus und ist nur ein Grund zu saufen und aus den angestammten Rollen auszubrechen. Kann ich meistens mit leben und ich meide dann halt die einschlägigen Orte.
AntwortenLöschenIm übrigen wäre der Spuk zur Hälfte vorbei, wenn man den Tussis mal wieder ins Gedächtnis rufen würde, dass Querstreifen fett machen...
Uff, schön gesagt ...ich trage Vereinsfarben und die sind eben momentan schwarz-rot-gold, normalerweise aber rot-weiß oder am liebsten braun-weiß!
AntwortenLöschenAuch auf mich wirkt das Ganze befremdlich.
AntwortenLöschenDie Leute haben nichts in ihrem alltäglichen Leben, was Begeisterung zulässt. Der Fußball ist der willkommene Anlaß um ein Glücks und Euphoriegefühl in der wohlig wärmenden Masse simulieren zu können.
Da ist keine wirkliche Freude zu erkennen für mich, eher eine Ausrede zum Saufen. Und was ist Saufen anderes, als die Möglichkeit für einen kurzen Moment die Probleme des Alltags zu vergessen.
Also ich hab noch nie eine Fahne geschwenkt und werde das auch gewiss in Zukunft nicht tun. Trotzdem wirkte die "Mahnung" von Albrecht Müller auf den NDS auf mich - sauertöpfisch. Wer nicht genießt wird ungenießbar - und für Fußballfans ist das offenbar ein Genuss. Andere gehen ins Konzert oder ins Theater, auch das kann Politikflucht sein.
AntwortenLöschenDen Vergleich mit Silvester, auch mit Karneval, finde ich treffend.
Zudem wurden Boris und Steffi bejubelt, nicht weil sie Deutsche sind, sondern weil sie großen Sport zeigten. Insofern hinkt der Vergleich. Und Schumi ist für mich ein Steuerflüchtling, genau wie der Kaiser.
AntwortenLöschenNatürlich sind "wir Proletarier" gemeinsam zu sehen. Aber es gibt nun mal nationale Unterschiede, die hinter der gemeinsamen Sache zurückstehen. Griechen sind Griechen, Schweden sind Schweden und Deutsche eben Deutsche. Das kann man drehen und wenden wie man will.
Ich weiß sehr wohl, dass mein "Feind" auch und gerade hier in diesem Lande sitzt, aber deshalb kann ich doch trotzdem mit der Kultur dieses Landes konform gehen.
Nur äußert sich das eben nicht im Fahnenschwenken und Vuvuzelas tröten...
Hallo Stefan,
AntwortenLöschenIch sehe das genau so. Merkt man auch wunderbar, wie schnell die Staatsbeflaggung wieder verschwindet, wenn das Turnier vorbei ist.
Hier gehts vielen Leuten wohl eher darum, im Sommer nochmal Karneval zu feiern.
@ Hoeschler
AntwortenLöschenSeit wann wird beim Karneval geheult? Fliegt Deutschland gegen Argentenien raus, sieht man im Fehrnsehen nur noch verweinte Gesichter.
Weshalb heulen die Leute?
Etwa darüber,dass sie nicht mehr bis zum Finale feiern dürfen?
Dass "ihr" Deutschland sich gegenüber einer anderen Nation als unterlegen dargestellt hat?
Ich versthe einfach den ganzen Aufruhr nicht. Männer, die nicht mal Gefühle zeigen, wenn ihr Partner sie verlässt oder ein naher Angehöriger stirbt, brechen in Tränen aus, sobald "Schland" nicht mehr dabei ist. Totale Massenhysterie!
@algore85: Naja, mir ist diese "Emotionalität" doch bissl anders in Erinnerung... zumindest am Wochenende war das so.
AntwortenLöschenGroße Party mit Autokorso, wenn man die Fußballgroßmacht Ghana bezwingt.
Und wenns gegen Argentinien verlieren, werden mal kurz paar Bildchen von den enttäuschten Korsofahrern gezeigt und dann is ja Gott sei Dank auch wieder gut mit WM
@Algore: Warum heulen Leute, wenn Leonardo di Caprios Charakter vor Kate Winslet im Meer versinkt? Das hat auch nichts damit zu tun, dass plötzlich alle schwimmen gehen wollen. Es sind halt Emotionen, fertig aus.
AntwortenLöschen@ Stefan Sasse
AntwortenLöschenGuter Einwand!
Was man beim Film "Titanic" beobachten kann, nennt man eine Katharsis. Seelische Reinigung durch eine Tragödie. Die Leute heulen, weil sie sich mit dem Schicksal der jungen Schönheit identifizieren, der gerade die Liebe ihres Lebens gewaltsam entrissen wurde.
Wenn der selbe Mechanismus, der der Katharsis, auch bei der Niederlage einer Fussballmannschaft wirkt, so soll es mir recht sein. Ich halte den Anlass dennoch für recht trivial!
Na ja, man hat ja immer die Wahl mitzuhampeln oder nicht. Auf das Spiel der deutschen Mannschaft am Samstag freue ich mich auf jeden Fall!
@ Daniel
AntwortenLöschenGrundsätzlich gebe ich dir Recht. Ich denke dennoch, dass sich der von dir kritisierte Nationalismus wandelt, was man auch bei der Fussball-WM sehen kann.
Deswegen halte ich auch den Fasching Vergleich passend. Während der Fussball WM kann der "Deutschland-Fan" ein in den letzten Jahrzehnten verlorengegangens Einheitsgefühl simulieren. "Wir" sind wieder Deutsche, aber nur vier Wochen lang. Heute werden Identitäten und Persönlichkeit schneller gewechselt als ein alter Pullover. Die Leute haben gar keine Möglichkeit mehr eine autarke, eigene Persönlichkeit zu entwickeln.
Deswegen rennt die Masse auch jedem Trend, jeder Facebook-Gruppe, jeder Marke, jedem Gauck blindlings hinterher. Sie sehnen sich nach Identität, vermuten einen Teil ihrer Persönlichkeit in der sinnleeren Nationalismussimulation Fussball-WM finden zu können.
@Sasse
"Es sind halt Emotionen, fertig aus"
Ja kann sein, vielleicht interpretier ich da zu viel rein, s.oben :). Um es mit George Carlin zu sagen:
"These are the kind of thoughts that kept me out of the really good schools"
Ich stimme dir absolut zu. Da geht es um das "Happening", um das Feiern und um den gemeinsamen Anlass zur Party. Nationalismus ist was völlig anderes.
AntwortenLöschenNur eine kleine Ergänzung/Berichtigung: Das ist nicht erst 2006 aufgekommen. Das war schon 1974 so, zumindest laut meinem Vater und den Fernsehbildern. Damals nicht so sehr Public-Viewing, aber innerhalb der Stadien war das Flaggenmeer genauso groß wie 2006.