Dies ist der achte Teil der Serie zum politischen System der USA, basierend auf den Mitschrieben der gleichnamigen Vorlesung von Dr. Harald Barrios.
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Teil I: Geschichtlicher Abriss
Teil III: Präsidentschaftswahlen, Kongress, Senat
Teil V: Die Parteien II, Föderalismus
Das politische System der USA VIII: Politische Kultur
Kommen wir zur politischen Kultur in den USA. In den USA herrscht eine tiefe Staatsskepsis, die immer wieder in Umfragen bestätigt wird. Wir haben es mit einer Kultur zu tun, die Zivilihilfe und Eigeninitiative groß schreibt und in der der Staat als Gängeler dieser Eigeninitiative gesehen wird. Gerade jetzt, in der Wirtschaftskrise, zeigt sich wieder, dass die Erwartungen an den Staat in Europa deutlich höher sind als in den USA.
Zu den USA gehört jedoch auch immer ein Pluralismus politischer Meinungen, der auf den Pluralismus der Religionen zurückzuführen ist, der sich bereits in der Gründerzeit manifestierte. Auf dem Land war dieser zwar kaum gegeben, besonders in den großen Städten jedoch bestand ein großer Pluralismus der Religionen. Der religiöse Pluralismus entstand durch den Zwang zur Union; erst er ließ religiöse Sonderwege nebeneinander bestehen. Die Frucht, dass ein Zentralstaat sich für eine Religion entscheiden könnte, führte zum starken Widerstand der Bevölkerung gegen die federalists und ihren Zentralstaat. Die Zurückhaltung des Staates in religiösen Fragen bedeutet jedoch nicht, dass wir einen atheistischen oder laiziven Staat hätten. „In god we trust“ ist nicht der einzige Beweis für die religiöse Unterfütterung der USA, deren Zentralstaat sich nur nie festlegte, wie man Gott genau zu huldigen hatte – dass es ihn gab und dass er geehrt werden musste, war selbstverständlich.
In einem Gemeinwesen, das durch Freie Marktwirtschaft und privatwirtschaftliche Verträge geprägt ist bietet die Religion den Hintergrund, auf deren Basis das notwendige Vertrauen für solche Verträge überhaupt erst wachsen kann. Zum Amerikanismus der Amerikaner gehört beständig sein „dunkler Zwilling“, der Anti-Amerikanismus, der seit der Unabhängigkeit in Europa besteht.
Aber zurück zu den USA.
1) Grundsätzliche politische Kontinuität
Die USA weisen die längste Verfassungskontinuität und –tradition der Welt. Innerhalb dieses Verfassungsrahmens entwickelte sich die Demokratie zwar langsam, aber kontinuierlich und ohne Unterbrechungen. Der Verfassungsrahmen wurde zwar vom Surpreme Court immer wieder interpretiert und uminterpretiert, aber es gab nie eine echte Revolution oder Verfassungsbrüche im großen Maßstab. Ungebrochene Staatlichkeit ist der Zwilling dieser Situation, und gerade Deutschland ist von dieser Tradition sehr weit entfernt. So besteht in den USA ein großes Vertrauen in die Festgefügtheit der politischen Institutionen und in die politische Stabilität. Deswegen erwartet auch niemand größere Veränderungen. Traditionellerweise gibt es deswegen auch kein öffentliches politisches Sinnieren über die Gefahren des Demokratieverlusts (im Sinne der demokratischen Ordnung als solcher; Einschränkungen demokratischer Freiheiten werden durchaus diskutiert). Daraus resultiert in den USA ein großes politisches Selbstvertrauen; gerade in Zeiten wirtschaftlicher und militärischer Unsicherheit können die Amerikaner darauf vertrauen.
2) Zivilgesellschaft vor Staat
Die Zivilgesellschaft der USA hat bereits Abläufe geregelt, bevor es einen staatlichen Rahmen dafür gab. Politische Institutionen sind eine aus der Gesellschaft abgeleitete Größe. Engagement wird deshalb in den USA in erster Linie als gesellschaftlicher, nicht so sehr als politischer Auftrag verstanden. Dem offenen Streben des Einzelnen nach Ämtern wird mit Misstrauen begegnet. In den USA wird „Washington“ oft genauso wie „politics“ als abwertendes Sammelwort für Machenschaften anrüchiger Art benutzt. Idealistisches Engagement hingegen wird belohnt, solange man es nicht für den persönlichen Gewinn unternimmt – ein merkwürdiger Gegensatz zu den sonstigen marktwirtschaftlichen Verhaltensweisen. Gemeinwohl soll dem Staat nicht überlassen werden, ja, man hält ihn nicht für zuständig. Selbst Lobbyismus wird als Verteidigung des Gemeinwohls begriffen, kämpft doch ein Einzelner für das Wohl einer Gruppe. Auch Empathie wird als Grundvoraussetzung begriffen. Die grassroots (Feminismus, Umweltschutz, Bürgerrechte, …) waren davon ebenso getragen wie das Entstehen der evangeliken Bewegung. Auch Leidenschaft, in Deutschland eher unter Generalverdacht, wird sehr geschätzt. In allen Gruppen, die sich verschiedensten Zielen widmen, gilt der Konsens als angestrebtes Ziel, Konfrontation soll schnell zugunsten des Konsens’ beseitigt werden. Damit einher geht auch eine starke Abneigung gegen Arroganz und Abgehobenheit (z.B. Kerry), einem Politiker gegenüber kann kaum ein schlimmerer Vorwurf gemacht werden (z.B. Hillary gegen Clinton). Die Betonung des „Kumpel-Images“, des „Manns von nebenan“ ist in jedem Wahlkampf wichtig.
In den USA gibt es die Pflicht zu zeigen, dass man „all American“ ist, quasi mit dem Kulturschock umgehen zu können. Das ist ein Lob, weil derjenige sich integriert hat, aber gleichzeitig auch ein bisschen Mitleid, weil derjenige schon fast langweilig ist. Die downside dieses „all American“ ist eine Phobie gegen alles „unamerikanische“. Einen leichten Grusel gönnt man sich trotz alledem immer gerne; die Gothic-Tradition war in den USA immer stärker ausgeprägt als in ihrem Heimatland England und steht im Gegensatz zu der Licht- und Sauberkeitsrhetorik der Amerikaner (vgl. American Beauty, The Dark Knight und viele andere Filme). Die dunklen Kräfte werden gerne auch auf den Staat projiziert, besonders seit dem Untergang der Sowjetunion. Dies ist prototypisch zu sehen anhand der Serie „Akte X“, in der Bundesbehörden außer Rand und Band agieren, weil nicht genügend Leute die checks&balances wahren. Das Ganze hat einen Beigeschmack, weil viele Daten, die Polizei und Geheimdienste zum Thema Ufos im Kalten Krieg geheim gehalten und manipuliert wurden, um das Geheimnis über den U2-Aufklärungsflieger aufrechtzuerhalten.
3) Leitkultur und Integration von Einwanderern
Die USA sind eine Einwandernation, daran ist nichts zu rütteln. Daraus resultiert eine besondere demographische Dynamik durch den Zuwachs an Einwanderern. Öffentliche Ritualem wie die Inauguration Obamas, die Europäern immer wieder so merkwürdig vorkommen, übernehmen eine wichtige integrative Rolle, und ihre exzessive Ausübung überdeckt, dass nur recht wenige davon gibt. Sie sind verbindliche Elemente in einem Reich der Unverbindlichkeit. Die Teilnahme ist gewissermaßen verbindlich; dafür gibt es weniger informelle Rituale zu beobachten, so dass die Integration in den USA deutlicher leichter ist als beispielsweise in Schwaben, wo es eine ungeheure Menge inoffizieller Rituale gibt, die gegenüber Auswärtigen auch immer verneint werden.
Die amerikanische Leitkultur ist eine minimalistische Leitkultur. Dies ist in den USA stets in der Diskussion, wo besonders aus der konservativen Ecke häufig die Forderung nach der Komplettakzeptanz des „American Way of Life“ kommt, inklusive Steak. Rassismus gehört seit Beginn an zu den USA.
4) Frontier-spirit
Die Geschichte der USA ist fast untrennbar mit der Verschiebung der westlichen Demarkationslinie verbunden. 1763 verbot Großbritannien das Übertreten der Appalachen, um weitere Kriege mit den Indianern und Franzosen zu vermeiden. Mit der Unabhängigkeit 1783 war die Grenze nach Westen offen und zog mit dem Mississippi eine neue Demarkationslinie und deportierte mit dem Indian Removal Act 1830 alle Indianer hinter den Fluss. Die Cherokee klagten dagegen, der Surpreme Court erklärte sich für nicht zuständig („Trail of Tears“). Die immer weitere Verschiebung erleichterte die Einwanderung von Menschen aus Europa, Afrika, Asien und der Karibik. Mit der Bewegung nach Westen zelebrierte man immer wieder den Gründungsmythos der USA. Tief verwurzelt ist darin ebenfalls eine tief verankerte Arbeitsethik, die Spaß am Arbeiten und teilweise die Selbstverwirklichung mit einschließt. In Deutschland ist es genau andersherum; hier sollte man besser nicht verlauten lassen, dass man Spaß an der Arbeit hat, will man nicht vorgeworfen bekommen nicht ernsthaft genug zu arbeiten.
In den USA gibt es außerdem die „Job-Ethik“, die sich im Gegensatz zu Deutschland nicht am Beruf festmacht, sondern an der Existenzfrage (Arbeit – Sinn = Job), Pflichterfüllung, egal wohin einen das Leben hinstellt, und wenn ich Ex-CEO an der Supermarktkasse bin. Dadurch gibt es natürlich auch Schwierigkeiten, soziale Veränderungen durchzuführen.
Im 19. Jahrhundert hieß es „Go West, young man, and grow up with your country“. Noch heute setzt sich der Treck in den fernen Westen fort; nach wie vor definiert die Wanderung nach Westen sehr stark das amerikanische Innenleben, die Oststaaten verlieren an die Weststaaten Bevölkerung. Es gibt auch den „Can-do-Spirit“, der bis heute deutlich spürbar ist. 1845 wurde von John O. Sullivan das Manifest Destiny formuliert, nach dem die USA zur Größe bestimmt sind und deswegen – im Zirkelschluss – auch das Recht dazu haben, diese Größe zu erreichen. Diese Phrase vom Manifest Destiny prägte auch die Phase des US-Imperialismus’ 1890-1914, ist aber kein kontinuierlicher Begriff. Lincoln setzte sich bereits davon ab, und er wird heute nicht mehr benutzt. Geblieben ist aber die Frontier-Metapher, die Kennedy als letzter groß für die Legitimation des US-Raumprogramms bemühte.
Ein nicht vollständig aufgearbeiter Teil der US-Geschichte ist das Massaker an den Indianern, das häufig in Horrorfilmen thematisiert wird (Haus im Westen, gebaut auf Indianerfriedhof, spukt).
5) Pluralismus und Konformitätsdruck
Der Unternehmergeist wird in den USA hochgehalten und resultiert aus dem Can-do-Spirit. Wie viel Diversität aber wird in den USA trotz aller Toleranzreden zugelassen? In den USA hat das Exotische prinzipiell eine größere Daseinsberechtigung als hierzulande, solange es nicht als subversiv gilt oder man sich nicht zu intensiv damit befasst. Selbstverständlich gibt es regional große Unterschiede. In den Großstädten gibt es mehr Toleranz als in den suburbs oder fly-over-America. Auf der anderen Seite gibt es aber einen stets vorhandenen Konformitätsdruck, der auf den Amerikanern lastet. So haben die amerikanischen Jugendlichen deutlich weniger Freiheiten als Jugendliche hierzulande, weswegen es immer wieder Ausbrüche wie Saufgelage gilt. Der Konformitätsdruck wird vorrangig über das Behalten des Jobs ausgeübt („Was sagt dein Arbeitgeber zu deinem Tattoo?“), was hier in Deutschland aber ebenfalls auf dem Vormarsch ist. Dass Normalität nur ein relativer Wert ist ist klar, und der Provinzialismus vieler Amerikaner ist berühmt.
6) Political correctness
Der Konformitätsdruck, der dem Versuch der Selbstfindung enge Grenzen setzt, weckt auch immer wieder das Bedürfnis nach offiziellen Sprachregelungen für anrüchige Themen, um gewissermaßen sich nicht an anrüchiger Sprache „anzustecken“. Die Neigung, etwas in schöne Worte zu packen ist eine Folge des Vermeidens von Streit und Konfrontation. Die reine Masse von Sprechrunden und Versammlungen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es einen großen Bedarf an Konsens gibt. In den 1970ern versuchte eine Gruppe linker Progressiver, sich das zunutze zu machen und die political correctness gegen ihre Erfinder zu lenken. Dies war äußerst erfolgreich, so erfolgreich, dass selbst Linke es kritisierten, von den Konservativen ganz zu schweigen. Dies schwang auch wieder um, das zeigt beispielsweise das große „I“ im Wort, das das Erreichen eines Zustands vorgaukelte, den es gar nicht gab (ProfessorInnen, VorstandschefInnen, etc.). Die Sprachregelungen setzten sich aber durch, ihr Wirkung bleibt zweischneidig. Auch in Deutschland ist es allerdings nicht weit her mit einer Streitkultur, was hier allerdings eher auf das Obrigkeitsdenken zurückzuführen ist.
7) Das Verhältnis der USA zur Welt
In der politischen Kultur gar nicht zu spüren ist eine Großmachtsarroganz. Es gibt eher Minderwertigkeitskomplexe gegenüber Europas, auf die man bisweilen aggressiv reagiert. Das Befremden gegenüber Europa ist oft gepaart mit einer Bewunderung für alles europäische. Spätestens seit den Beatles hat sich diese Vorbildfunktion Europas als „modisch“ und „cool“ verstärkt. Auf Seiten der politischen Linken geht diese Bewunderung oft mit der Kritik des Fehlens am Sozialstaats in den USA einher. Oft fehlverstanden wird die Bedeutung der EU, die von den Amerikanern gerne als Vereinigte Staaten von Europa gesehen wird. Politisch ist man eher isolationistisch geprägt; die interventionistische Haltung ist eher Tradition der Liberalen, die gerne mit einer Fehleinschätzung der Einflusschancen einhergeht. Die Regierung Bush ist eine Ausnahme, insofern als dass hier eine konservative Regierung diese Einflusschancen überschätzt. Auch Krieg gilt als Mittel der Politik und ist komplett verpönt. Die Schonung der eigenen Soldaten, in den USA durch die Präferenz des Luftkriegs manifestiert, wird in den USA als Beleg für Demokratie gesehen.
Lieber Oeffinger Freidenker,
AntwortenLöschenals in Deutschland lebender Amerikaner habe ich mich sehr über diesen Beitrag gefreut, denn er ist neutral anstatt politisch korrekt. Appropos politisch korrekt, ich fand den Passus über das große "I" etwas seltsam, obwohl klar ist, dass dies lediglich ein Übertragung der diversen inklusiven Formen ins Deutsche ist. Macht aber nichts. Jedenfalls finde ich, dass dieser Beitrag unsere Eigenschaften - und die Unterschiede zu Deutschland - sehr gut wiedergibt. Die erwähnten Unterschiede zwischen den USA und Deutschland stimmen mit meinen Erfahrungen meiner fast 19 Jahren in Deutschland überein. Gerade diese Unterschiede machen es einem schwer, sich an die andere Gesellschaft zu gewöhnen.
Gruß
Roger Strassburg
Danke für die vielen Infos. Ich muss ein Englisch Referat drüber halten und man findet fast nur Seiten, die einem Reisen in die USA andrehen wollen...
AntwortenLöschenglückliche Schülerin aus München
Bitte, bitte! Freut mich, dass es dir hilft.
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