Donnerstag, 15. Januar 2009

Das politische System der USA VII: Die Judikative

Dies ist der 7. Teil der Serie zum politischen System der USA, basierend auf den Mitschrieben der Vorlesung von Dr. Barrios.

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Teil I: Geschichtlicher Abriss

Teil II: Präsidialwahlsystem

Teil III: Präsidentschaftswahlen, Kongress, Senat

Teil IV: Die Parteien

Teil V: Die Parteien II, Föderalismus

Teil VI: Gewaltenteilung

Teil VII: Die Judikative

Teil VIII: Politische Kultur

Teil IX: Ausblick


Das politische System der USA VII: Die Judikative


Die Rechtssprechung in Amerika hatte sich bereits vor der Unabhängigkeit auf Grundlage des englischen Rechts entwickelt, in der Phase des benign neglect, in der die amerikanischen Kolonien wegen der inneren Schwäche des britischen Königreichs vernachlässigt worden waren und deswegen eigene Rechtsstrukturen entwickelt hatten. Das bedeutet, dass die Rechtsstrukturen bereits gelegt waren, bevor der Staat entstand! Das ist ein wichtiger Unterschied zu Europa, wo sich Rechtsstaatlichkeit erst innerhalb bestehender Staaten durchsetzen musste. In den USA waren diese bereits unumstritten „am Platz“, bevor der Staat sich überhaupt konstitutierte.

Der Bundesstaat ist aus 13 unabhängigen Staaten entstanden, dessen Verfassung aufgrund von Skeptikern dem Volk sehr viel Macht überlassen hat. Der Gedanke der Volkssouveränität entspricht der Gedanke eines surpreme law, das den gewöhnlichen Gesetzen der lawmaker übergeordnet ist. Das surpreme law ist das Ideal, an dem sich alles andere ausrichtet. Aus seiner Existenz ergab sich von Anfang an, dass sich Gerichtsarbeit hierarchisch gliedern muss. Das Verständnis des surpreme law ergibt sich also nicht aus der Schaffung der Union, sondern trug umgekehrt zu ihrer Schaffung bei. Es kann nicht von Einzelstaaten in Frage gestellt werden, es ist sogar der Verfassung übergeordnet, die sein Ausdruck, aber nicht identisch ist. Die Gesetztätigkeit des Bundes wird durch das surpreme law eingeschränkt. Die in der Bill of Rights 1791 verankerten Grundrechte binden die Gesetzgebung weiter. Hinter das surpreme law tritt das aus England kommende common law in den Hintergrund, das dort aber weiter existiert. Es handelt sich dabei um ein Konvolut von Einzelentscheidungen, die nur aufgrund des common sense der Gesellschaft getroffen wurden und aus denen sich Rechtsgrundsätze ergeben. Durch die Gesetztätigkeit der Legislative schrumpt der Raum des common law immer weiter zusammen. Besonders die Strafgerichtsbarkeit wird aber weiter durch das common law geprägt, was sich beispielsweise in der Institution der Geschworenen zeigt. Die Geschworenen sind auf die Verurteilung der strafrechtsrelevanten Tatsachen beschränkt; der Richter legt das Strafmaß fest und sichert eine faire Beweisführung in adversary processes, die die Bereitstellung von Beweismitteln und die Zeugenvernehmung dem Prozessgegner überlässt.

Ein Teil des surpreme law wurde bereits aus der englischen Entwicklung abgeleitet, beispielsweise die Grundsätze des rule of law, die von John Locke begründet wurden: niemand steht über dem Gesetz. Rechtmäßig zustanegekommene Gesetze binden auch die, die diese Gesetze gemacht haben – keine Selbstverständlichkeit, sieht man die europäische Praxis bis weit ins 19. Jahrhundert hinein an. Dazu kommt der Grundsatz, dass die Gesetze auch den Gesetzesbrecher mit unveräußerlichen und bindenden Menschenrechten ausstattet. Guantanamo Bay dürfte sich hier als die Ausnahme erweisen, die die Regel bestätigt. Diese Faktoren konstitutieren den amerikanischen Rechtsstaat, die Rechtsprechung der Judikative erfolgen auf dieser Grundlage.

Die Anwendung des surpreme law ist das constitutional law (darunter statuatory law und administrative law, die beide dem constitutional law nicht wiedersprechen dürfen). Die Gliederung der USA in Einzelstaaten führt neben der hierarchischen Gliederung des Rechtssystems auch zu einer horizontalen Gliederung, die aber nichts am Prinzip des surpreme law ändert. Nur dadurch sind letztinstantliche Entscheidungen überhaupt möglich, unabhängig davon, wie weit die administrative Gewalt greift. Deswegen ist der Surpreme Court auch mehr als nur ein verfassungsinterpretierendes Gericht. Seine Entscheidungen werden auf Grundlage des surpreme law getroffen (im Gegensatz zum BVerfG), sie sind somit als ebenbürtig zum Verfassungstext anzusehen. Der Surpreme Court hat also auch rechtsstiftende Funktionen und kann vor allem frühere Entwicklungen korrigieren. Diese Revisionsmöglichkeit durch spätere Richter war die Grundlage für die Interation der ursprünglich amerikanischen Bevölkerung. Der Surpreme Court entscheidet aber auch darüber, welche Klagen überhaupt zugelassen werden und welche nicht; er kann sich als zuständig oder nicht zuständig erklären und damit politisch brisante Kontroversen entscheiden oder ignorieren. Diese durch keine Instanz eingeschränkte Handlungsfreiheit (traditional self-restraint oder political activism) macht den Surpreme Court zu einem extrem wichtigen Bestandteil des politischen Systems der USA.

Es gab überraschend häufig Zeiten, in denen der Surpreme Court zu einem der beiden Extreme tendierte. Konservative plädieren häufig für einen restraint, die Liberalen häufig für einen activism. Das Problematische an einem activism ist, dass Verfassungsrevisionen nicht den langen Weg der Ratifizierung gehen müssen, sondern einfach durch den Surpreme Court bestimmt werden. Zurückhaltung ist natürlich, entgegen konservativer Propaganda, nicht automatisch mit Neutralität gleichzusetzen. Ein einmal rechtskräftiger Spruch kann einzig und allein durch den Surpreme Court wieder aufgehoben wird.

Interessant ist, dass die verfassungsmäßig so gar nicht vorgesehene Rolle des Surpreme Court durch eine Entscheidung des Surpreme Court gegeben wurde: Am 3.3.1801, am letzten Tag seiner Amtszeit (Man muss sich vor Augen halten, dass die Abwahl durch die Opposition eine weltweite Premiere darstellt; man rechnete damals europaweit damit, dass dies nicht funktionieren würde.), setzte der scheidende Präsident John Adams (federalist, abgwählt durch Thomas Jefferson, anti-federalist) noch schnell einige Parteifreunde in wichtige Ämter ein, die dafür erst geschaffen wurden (midnight appointments). Der neue Minister Madison behielt jedoch eine Richterernennung einfach ein. Die federalists klagten auf Zustellung der Urkunde, der Surpreme Court lehnte dies ab, da das Adams-Gesetz nicht mit der Verfassung kompatibel sei. Damit gab sich der Surpreme Court die Möglichkeit, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu prüfen, die bisher nicht existierte. In den USA gibt es aber NICHT das Mittel der abstrakten Normenkontrolle (§93, GG, eine Mehrheit von Abgeordneten kann Verfassungsmäßigkeit prüfen und eine BVerfG-Entscheidung herbeiführen), hier braucht es eine tatsächliche Klage.

Die Richter des Surpreme Court werden vom Präsidenten ernannt, der Senat muss mit absoluter Mehrheit zustimmen. Im Falle eines united government ist dies relativ einfach. Solche Ernennungen, die auf Lebenszeit erfolgen, können die Politik des Landes auf mehrere Jahre hinaus prägen (in Deutschland: Ernennung für 12 Jahre, einmalig). Die Ernennung auf Lebenszeit sollte die Unbeeinflussbarkeit der Entscheidungen sicherstellen. Deswegen sind die Amerikaner auch immer übermäßig stark am Gesundheitszustand ihrer Obersten Richter interessiert. Es ist möglich, dass Obama eine Ernennung durchführen und dadurch die derzeitge knappe konservative Mehrheit brechen könnte. Die Zahl der Richter des Surpreme Court ist in der Verfassung nicht festgelegt, dies tut der Senat. 1801 waren es fünf, 1807 sieben, 1831 waren es neun, das sind es heute noch.

Die katastrophale Wirtschaftsdepression der 1930er Jahre führte zur Auflegung des New Deal durch Roosevelt. Der Surpreme Court erklärte die meisten Gesetze jedoch erkläre diese Gesetze für verfassungswidrig. Nach seiner Wiederwahl 1936 forderte Roosevelt den Surpreme Court auf, diese Entscheidung zurückzunehmen. Er verband diese Aufforderung mit der Drohung, die Zahl der Richter drastisch zu erhöhen (court packing, wozu er das volle Recht hatte). Die Medien reagierten äußerst empört; die Zahl von neun Richtern hatte sich bereits stark als Gewohnheit eingeschliffen. Je nach Radikalität der Reformen, die Obama plant, könnte ein solches Szenario erneut bevorstehen, ist aber äußerst unwahrscheinlich. Sollte daraus eine liberale Mehrheit entstehen, wird eine lange Zeit konservativer Rechtsprechung enden, die seit den Ernennungen Ronald Reagans bestand. Besonders zu erwähnen ist hier die Ernennung von Manquist, der 1971 von Nixon berufen wurde und der seit 1986 durch Reagan zum Vorsitzenden des Surpreme Courts bestimmt wurde. In den letzten Jahren gab es zeitgleich den Sonderfall eines aktivistischen konservativen Surpreme Court. Die Reagan-Appointees ermöglichten dann auch 2000 die Präsidentschaft von Bush. Eine Garantie für ein Folgen der Richter der Linie ihrer Ernenner ist jedoch keine Garantie; eine der Ernennungen Eisenhowes („biggest mistake of my life“) nahm in den 1960er Jahren äußerst liberale Positionen in Bürgerrechtsfragen ein. Die Möglichkeit des impeachment wurde nur sehr selten genutzt; insgesamt zehn Richter wurden seit dem Bestehen des Surpreme Court impeached.

Extrem wichtig wurde der Surpreme Court in der Frage der Bürgerrechte der Afroamerikaner und der Stärkung des Zentralstaats. Beides hängt eng zusammen, da Rassisten sich gerne hinter den Rechten der (südlichen) Einzelstaaten verschanzen. So schuf der Surpreme Court mit der „necessary and proper“-Klausel und ihrer exzessiven Auslegung die Grundlage für den starken Zentralstaat; die „general-welfare“-Klausel bot die Grundlage für den Ausbau des Sozialstaats im 20. Jahrhundert. Hinsichtlich der allmählichen Gleichstellung der afroamerikanischen Gleichstellung ist besonders die Entscheidung zugunsten eines Gesetzes in Louisiana wichtig, nachdem die Seperation in der Eisenbahn erlaubt sei. „Seperate, but equal“ zu verfahren verstoße nicht gegen die Verfassung. In der Praxis war dies natürlich eine Schlechterstellung. Nach dem Zweiten Weltkrieg, 1954, wurde diese Entscheidung durch den Surpreme Court wieder aufgehoben. Der Zeitpunkt ist kein Zufall, da der Einsatz vieler Afroamerikaner im Zweiten Weltkrieg einen Meinungsumschwung in der amerikanischen Bevölkerung hervorrief. 1954 klagte Brown gegen den Board of Education in Tupeca. Der Surpreme Court befand einstimmig, dass die segregation hier verfassungswidrig sei, die Integration sei mit maximaler Geschwindigkeit voranzustreiben. Die segregation wurde daraufhin aufgehoben, die Integrationshoffnungen der Bürgerrechtsaktivisten wurden jedoch insgesamt eher enttäuscht.

2 Kommentare:

  1. Eine kleine Korrektur: Manquist sollte Rehnquist heißen. Er ist 2005 gestorben, sein Nachfolger is John Roberts - der Richter, der die Amtsvereidigung von Obama verbockt hat.

    Gruß
    Roger Strassburg

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