VORBEMERKUNG: Dies ist der erste Teil einer neuen Serie, die ich hier auf dem Blog starten will. Es handelt sich dabei um meine Mitschriebe aus der gleichnamigen Vorlesung an der Universität Tübingen, die ich derzeit bei Dr. Harald Barrios im Fach Politikwissenschaften besuche. Ich halte das Thema für interessant genug, um es hier zu veröffentlichen - aber urteilt darüber selbst in der Umfrage rechts. Da es sich um einen Mitschrieb von Gesprochenen handelt (wenn auch größtenteils selbst formuliert), ist der Lesefluss vielleicht nicht immer so gut wie gewohnt und die innere Konstistenz bisweilen etwas wünschenswert. Ich hoffe trotzdem, dass es für euch von Interesse ist und würde dementsprechend das Ganze wöchtenlich posten. Den Anfang machen die bereits zurückliegenden ersten beiden Vorlesungen zur Geschichte und zum Präsidentialwahlsystem.
Teil I: Geschichtlicher Abriss
Teil III: Präsidentschaftswahlen, Kongress, Senat
Teil V: Die Parteien II, Föderalismus
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Das politische System der USA I: Geschichtlicher Abriss
Politische Systeme sind keine theoretischen Konstrukte, sie fallen nicht einfach vom Himmel und werden nicht „am Schreibtisch“ entworfen. Sie sind häufig unvollständig und unperfekt. Oft könnte man sie mit einem Federstrich verbessern. Wenn also jemand am politischen System der USA einen „Fehler“ nicht korrigiert, muss das keine Frage von Dummheit sein, sondern hängt häufig mit Macht zusammen. Deshalb soll zuerst der Frage nachgegangen werden, wie die USA so wurden, wie sie sind. Am Anfang soll die Frage stehen, seit wann und ob die USA überhaupt eine Demokratie sind. Auf diese einfachen Fragen gibt es keine einfachen Antworten.
1620 ging die Mayflower vor New England vor Anker. Mit der Taufe des Landstrichs, den die Ureinwohner Massachusetts nannten als „New England“ verband sich die Hoffnung, dass er England ähnele und die angestammte Lebensweise fortführbar mache. Gleichzeitig verbindet sich damit der Anspruch, es werde ein besseres England. Der Hauptteil der Auswanderer waren nämlich Puritaner, radikale Protestanten die keinen weltlichen Herrscher an der Spitze der Kirche akzeptieren konnten und die in England zu unliebsamen Personen geworden waren. Sie hatten England bereits vorher Richtung Holland verlassen, denn dort wurden sie im toleranten Klima auch nicht mehr verfolgt. Doch gerade dieses tolerante Holland sorgte für eine Auflösung der Strukturen und des Puritanismus. Also versuchten sie, ihre eigene Vision in der „Neuen Welt“ zu realisieren.
Das Land in Amerika wurde von merchant adventures von den Monarchen gekauft, die es gegen Pacht zur Besiedlung freigaben. Der merchant adventurer der Pilgerväter änderte jedoch in letzter Sekunde den Vertrag und wichen vom ursprünglichen Plan ab und landeten an einer anderen Stelle, vertraglich ungebunden. Am 11.11.1620 wurde der Mayflower Contract unterzeichnet. An Bord der Mayflower waren auch die strangers (so nannten sie die Puritaner) bzw. saints (so nannten sich diese selbst) mit etwa 50% vertreten. Eine der Puritaner-Familien war die Familie Holland, deren Vorstand bei einem Sturm über Bord ging. Er überlebte jedoch, bekam 10 Kinder und 88 Enkel. Die andere war die Familie Hopkins, deren Vorstand bereits in Virginia dabei war, jedoch Schiffbruch erlitt und auf den Bermudas strandete, von dort aus nach Jamestown weiterkam, wo er Streit suchte und fast gehängt wurde. Er wurde in England eine literarische Figur; das alles hielt ihn nicht davon ab, dieses Mal mit der gesamten Familie nach New England überzusetzen.
Der erste Winter war sehr hart, die Hälfte der Passagiere starb. Erste Expeditionen brachten jedoch kaum Nahrung. Entscheidend wurde deshalb die Begegnung mit den Indianern. Einer von diesen war Squento, der bereits mit Thomas Hunt und John Smith in Kontakt gekommen war. In England, wohin er von Smith entführt worden war, hatte er Englisch gelernt. Aufgrund der guten Kommunikation konnten die Indianer die Siedler so zu retten und brachten ihnen im Frühling das Überleben durch Jagd und Landwirtschaft bei. Nach einem Jahr feierte man das erste Thanksgiving mit den Indianern.
In den ersten 100 Jahren der Besiedlung Nordamerikas reduzierte sich die Urbevölkerung der entsprechenden Landstriche um rund 90%. In erster Linie waren dafür eingeschleppte Krankheitserreger verantwortlich, aber auch die ökologischen Veränderungen durch Monokulturen der Europäer und die massive Anpflanzung von cash crops. Auch die Einschleppung von Tieren wie Regenwürmern und Honigbienen veränderte die Ökologie nachhaltig.
In Europa behauptete indes die Massachusetts-Bay-Company, ihr gehöre das Land. Die Puritaner, inzwischen zu Reichtum gelangt, kauften die Company und erworben so das Land, um ihren eigenen Gottesstaat aufzubauen. Zentrum dieses Gottesstaates wurde das 1630 gegründete Boston. Die Puritaner gründeten auch Harvard, um den Bildungshunger zufrieden zu stellen, der sowohl auf den Bibelinterpretationen beruhte als auch auf dem Erlernen der „gottgefälligen“ Händlerberufe. Ebenfalls Teile dieses Gottesstaates waren regelmäßige Kirchgänge und eine weitgehende Transparenz des Privatlebens. Abweichler wurden verfolgt, 1637 wurde beispielsweise eine Frau mit abweichenden Thesen aus Massachusetts vertrieben, die mit ihrer Anhängerschaft nach Rhode Island kam und die dortige Kolonie gründete. Später kam es zu den berühmten Hexenverfolgungen von Salem. Insgesamt 39 Personen wurden wegen der Vorwürfe durch „Visionen“ exekutiert. Die Verfolgungen von Salem wurden zu einer Metapher für solche Unduldsamkeit. Die Kolonie Massachusetts wurde schließlich in Folge dieser Prozesse durch die Krone annektiert, die ärgsten Auswüchse des Gottesstaates rückgängig gemacht.
Die anderen Kolonien hatten ähnliche Entstehungsgeschichten durch die merchant adventurers und ihre Pachtideen, die religiös Verfolgten Unterschlupf gewährten, so beispielsweise Maryland als Ort für Katholiken. Eine ganz gefährliche Sekte war die Society of Friends, die Waffenbesitz und staatlichen Eiden abschwörten und die als „Zitterer“ (Quaker) ob ihrer Gottesfurcht verspottet wurden. Sie gründeten Pennsylvania. In Utah siedelten später - im allgemeinen Drang des „Go West!“ - die Mormonen. Die religiöse Vielfalt war also weniger der großen Toleranz geschuldet, sondern den großen Abständen der einzelnen Religionsgruppen. Die Städte waren zwar tendenziell toleranter als das Land, aber die Landstriche blieben religiös meist unter sich. Religiöse Vielfalt gilt also für Gesamtnordamerika, aber nicht für die einzelnen Landstriche.
Die Kolonisation selbst wurde durch lässiges trial-and-error der englischen Krone betrieben. Zunächst ging es um die strategische Besetzung von Terrain zum Schutz desselben vor Frankreich und Spanien. Man versuchte auch, sich der großen Holzreserven zu bemächtigen, aber Gier nach Ressourcen war nicht das vordringlichste Ziel Englands; man versuchte eher, eine „english mass“ an der Gegenküste zum Schutz vor anderen europäischen Mächten zu erreichen. England fürchtete, umzingelt zu werden. Man setzte stark auf Eigeninitiative und Lizenzen, denn das war billiger. Deswegen wurde den Kolonisten auch der Waffenbesitz erlaubt – man wollte nicht die Kosten einer Garnison tragen. Das right to bear arms ging den Staaten also voraus, und es gelang ihnen auch nie, es den Bürgern wieder wegzunehmen. Die Gouverneure ließen entsprechend den einzelnen Gemeinden sehr viele Freiheiten. Die Amerikaner entwickelten so von der Hegemonialmacht ungehindert ihren eigenen way of life, wozu auch die Beteiligung der Menschen an den politischen Prozessen gehörte. Das war keine Demokratie, eher eine Palaverdemokratie, bei der sich trotzdem die Mächtigen und Reichen durchsetzten.
Als die Kolonien wirtschaftlich prosperierten, wollte England daran gerne Anteil – das kam bei den amerikanischen Siedlern natürlich nicht so gut an. Nach dem Siebenjährigen Krieg aber gab es große Haushaltslöcher, noch verschärft dadurch, dass die Briten durchgesetzt hatten, dass Privathäuser von der Armee requiriert wurden. Wegen des Krieges war die Armee allerdings stark aufgebläht. Deswegen verfiel man auf den Gedanken, die Armee in Privatwohnraum in Amerika einzuquartieren. Das schuf neben dem Zorn der Betroffenen ein allgemeines Misstrauen. Dieses Misstrauen war nicht ganz unberechtigt, hatte sich doch das politische System Großbritanniens in der Zwischenzeit erheblich durch die Parlamentssouveränität verändert. Ein Parlament achtet mehr aufs Geld, und so verfiel man zusätzlich auf den Gedanken, die bislang privilegierten Kolonisten ebenfalls zu beteiligen. Man argumentierte auch damit, dass die Kolonieprivilegien Privilegien des Königs gewesen waren. Damit kann man sich auch die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Kolonialmacht und Kolonisten erklären.
Den Anfang machte der stamp act, der alle bedruckten Erzeugnisse besteuerte, was das Zeitungsleservolk der Amerikaner hart traf. Diese Gesetze galten auch nur für die Amerikaner und nicht für die Engländer – no taxation without representation. Die Amerikaner sahen sich auch nicht als Kolonialbevölkerung; als solche wurden die Indianer angesehen, die es auszubeuten galt. Deswegen verkleideten sich die Sons of Liberty später auch als Indianer; es ist Ausdruck des gespaltenen Bewusstseins der Amerikaner. Nochmals: die Aufkündigung des Status’ als Engländer erfolgte von England aus, nicht von den Amerikanern aus. Ausgerechnet ein Engländer – Thomas Payne – forderte nun die Gründung einer unabhängigen Republik. Den Ausschlag gaben aber letztlich wirtschaftliche Gründe. Man fürchtete zwar auch politische Repressalien, aber das verhängte Industrialisierungsverbot wog schwerer. Im gleichen Jahr wie Paynes „Common Sense“ erschien Smiths „Wealth of Nations“. Die USA hatten zwar alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Industrialisierung, es wurde ihnen aber politisch verboten. Der revolutionäre Schritt erfolgte reaktiv; zuerst gab es militärische Auseinandersetzung, dann die Unabhängigkeitserklärung. Es war gewissermaßen eine Revolution wider Willen. 13 unabhängige Republiken erklärten am 4. Juli 1776 ihre Unabhängigkeit, noch ohne gemeinsames Staatswesen. In den Federalist Papers wurde für einen starken Zentralstaat argumentiert. Man fürchtete ein rollback der europäischen Mächte. Paradoxerweise heißen die Föderalisten anti-federalists, die Zentralstaatler federalists. Die erstgenannten fürchteten, das Werk der Kolonialmacht würde von der High Society in Boston fortgeführt. Sie fürchteten auch um ihre religiöse Freiheit. Sie waren auch später gegen den Aufbau einer neuen Hauptstadt. Man bestand deswegen darauf, dass die Grundrechte der einzelnen Staaten als „Bill of Rights“ in die Verfassung integriert würden: die ersten zehn Ammendments. Man forderte den religiös abstinenten Staat, obwohl man selbst sehr religiös war – man brauchte ihn als Schlichter. Auch die Bewahrung der Sklaverei war den Südstaaten wichtig.
Ein wichtiger Punkt dieser Verfassung waren die Checks and Balances, also planmäßig Sand in das Getriebe der Regierungsmaschinerie zu streuen. Bis heute wird eine ineffiziente Bundesverwaltung als Garant der Freiheit angesehen. Dieses Denken ist genau umgekehrt zu dem in Europa. Auch die Überrepräsentation der kleinen Staaten im Senat gehört in dieses Schema.
Waren die USA zum Zeitpunkt dieser Verfassung eine Demokratie? Welterschütternd war die Einrichtung der Republik. Die mündig gewordenen Untertanen benötigten keinen Hirten mehr; Demokratie galt damals allerdings als launische, instabile Regierung der Massen. Deswegen versuchten die amerikanischen Eliten auch, allzu viel Demokratie zu verhindern. Die Furcht vor einer Revolution, die sich immer weiter fortsetzt, dominierte das politische Geschehen in den Anfangsjahren der USA (Frankreich diente hier denn auch als Negativbeispiel). Demokratische Tendenzen wurden also eingedämmt, Wahlen zum Präsident und Senat waren indirekt. Die Volkssouveränität war durch das mehrfach gefilterte Repräsentationssystem gedämpft. 1800 gab es dann durch die Wahl Jeffersons – und damit der Opposition – ein weiteres weltweites Beben, weil niemand damit gerechnet hatte, dass die Regeln tatsächlich eingehalten würden. Aber selbst das reicht nicht für das Etikett „Demokratie“; die Sklaverei beispielsweise war auch in den Augen vieler Zeitgenossen ein Fleck auf der Menschenwürde. Es gab ein ausgesprochenes Unrechtbewusstsein gegenüber der Sklaverei, da die Sklaverei quasi erst nachträglich eingeführt wurde. An ihrem Anfang stand die Schuldknechtschaft, die auch den Weißen zufallen konnte. Die cattle slavery, wie das genannt wurde, wurde schrittweise und abweichend vom englischen common law abweichend eingeführt. Legitimiert wurde dies beispielsweise damit, dass die Afrikaner keine Christen waren; diese Begründung entfiel aber mit den zunehmenden Konversionen. Zwar entwickelten die Sklaven auch einige eigenen kulturellen Elemente, nichtsdestotrotz waren sie aber auf sich allein gestellt, da sie beständig auseinander gerissen wurden, was eine brutale Einsamkeit schuf. Die einzig verbleibende Erklärung war der Rassismus. Die Bewirtschaftung der cash crops brauchte Arbeitskräfte; europäischer Dünkel verband sich mit Rassismus, zwar recht erfolgreich, aber auf Kosten einer großen Stagnation. Dies ließ den Eindruck entstehen, dass es sich bei der Pflanzenaristokratie um eine bewahrenswerte Kultur handelte. Die dunkle Hautfarbe wurde so zum Stigma, man konnte der Sklaverei nicht entfliehen. Afrikaner sein war gleichbedeutend – mit wenigen Ausnahmen von Freien – mit Versklavtheit. Rassismus bestand auch nach dem Ende der Sklaverei unverändert weiter. Die Befreiung durch den Bürgerkrieg entließ die Bevölkerung aus dem Sklavensystem, der lange Weg zur Integration aus aber musste aus schwierigeren Bedingungen heraus erfolgen als der der Europäer. Die Afrikaner hatten keinerlei Kaufkraft, schließlich hatten sie weder Vermögen aufbauen noch Bildung erwerben können. Sklaven das Lesen und Schreiben beizubringen war streng verboten gewesen. Die asiatischen Einwanderer der heutigen Zeit haben wesentlich bessere Ausgangschancen. Offiziell erhielten sie das Wahlrecht nach dem Ende des Bürgerkriegs, was jedoch faktisch durch den Ausschluss der Analphabeten eingeschränkt wurde. Der Surpreme Court vertrat 1896 noch die Auffassung, dass eine durchgehende Trennung der Rassen in der Öffentlichkeit das Prinzip der Rechtsgleichheit nicht verletze (seperate but equal). Die USA waren daher auch nach dem Bürgerkrieg keine Demokratie.
1830 war das Wahlrecht unter Andrew Jackson auf alle weißen Männer ausgedehnt worden (Jacksonian Revolution). Das geheime Wahlrecht wurde erst 1868 als Regel eingeführt. Erst 1913 wurde der Senat direkt wählbar. Die für das Aufbrechen der Parteimonopole unentbehrlichen Vorwahlen wurden erst 1905 zögerlich eingeführt. Die meisten Delegierten waren damals noch durch die Parteien bestimmt. Komplett ausgeschlossen vom Wahlrecht blieb auch die Urbevölkerung, die als Mitglieder anderer Nationen galt – und damit als Feindvölker. 1831 entschied aber der Surpreme Court im Urteil Cherokee vs. Georgia, dass der Status des Nicht-Amerikaners keine Selbstbestimmung implizierte. Die Vertreibung und Ausrottung der Indianer fand in der Westbewegung ihren Abschluss. Soziale Spannungen wurden durch territoriale Expansion gelöst. Noch heute sind die Probleme der Indianer nicht gelöst. Erst 1923 erhielten die natives die Staatsbürgerschaft der USA und damit das Wahlrecht. 1920 hatten die Frauen das Wahlrecht erhalten. Doch erst 1971 erhielt die gesamte US-Bevölkerung einschließlich der Schwarzen uneingeschränkt das Wahlrecht, womit die USA als Demokratie gelten dürfen.
Danke, sehr gut, bitte weiter so..
AntwortenLöschenWas mir fehlt wäre ein Hinweis geesen, dass diese protestantischen Fundamentalisten und Calvinisten wort-wörtlich davon überzeugt waren und SIND, dass ein Leben, das dem Ansammeln von Besitz und Profit Gott gefällig sei, und der materielle Reichtum eine direkte Folge dieser Gott gefälligkeit ist.
Da sich daran bis heute bei dieser Sorte "Mensch" nicht viel geändert hat, erklärt das vieles, was uns von Europa aus stets so absurd in den USA vorkommt..
Tyler Durden
Sorte "Mensch"? Was bist du denn für ne Sorte?
AntwortenLöschenGuter Artikel/Abriss von Oeffinger. Danke.