Samstag, 31. Oktober 2009

Mal was grundsätzliches...zum Fraktionszwang

Von Stefan Sasse

Den Oeffinger Freidenker gibt es nun seit über vier Jahren. Viele Themen wurden bereits mehrfach in unterschiedlichen Beiträgen behandelt, so dass es dem Autor oftmals unnötig erscheint, bestimmte Anspielungen oder Einstellungen näher zu erläutern. Seit 2006 hat sich die Leserschaft jedoch stark vergrößert, und für die, die neu dazugekommen sind, mag nicht immer alles sofort klar sein, was der Oeffinger Freidenker schreibt. Die neue Serie "Mal was grundsätzliches…" soll diese Lücke schließen, in dem noch einmal eine Zusammenfassung zu bestimmten Themen gegeben wird. Diese Folge befasst sich mit dem Fraktionszwang.

Abseits vom politischen Tagesgeschehen möchte ich mich heute kurz mit dem Fraktionszwang befassen. Der Fraktionszwang ist ein lustiges Ding: jeder kennt ihn, aber offiziell gibt es ihn nicht. Denn, wie wir im Gesetz nachlesen können, jeder Abgeordnete ist nur seinem Gewissen verpflichtet. Dass es den Fraktionszwang gibt ist in einer Parteiendemokratie glaube ich selbstverständlich. Die Frage ist nur: ist das gut oder schlecht?


Die freien Geister da draußen werden jetzt wahrscheinlich sofort "schlecht!" rufen. Das war auch mein erster Gedanke. Aber das hieße, es sich deutlich zu einfach zu machen. Nehmen wir eine idealtypische Situation. Sagen wir, die Partei hat, nach langen internen Debatten, den Beschluss gefasst, eine Ministerpräsidentin zu wählen, die nur eine knappe Mehrheit hat. Zwei Stimmen, um genau zu sein. Dummerweise braucht es für diese Mehrheit auch die Stimmen der Schmuddelkinder. Nun sagen alle bis auf eine, die sich auf ihr Gewissen beruft - was durchaus selten ist - ja. Bei der finalen Abstimmung verweigern aber plötzlich vier Abgeordnete unter Berufung auf ihr Gewissen die Stimme. Die meisten Kommentatoren der Blogosphäre sind sich einig, dass das unzulässig war. Warum?

Klar, in dem Fall hätten wir gerne Fraktionszwang gesehen, denn die Mehrheit dieser Fraktion war offensichtlich dafür. Und damit sind wir auch bereits mitten im Geschehen. Dissidenten, abweichende Meinungen, wird es immer geben. Doch in einer parlamentarischen Parteiendemokratie muss sich eine Regierung auf ihre eigenen Leute verlassen können, sonst hat sie schnell eine veritable Regierungskrise am Hals. In einer Präsidialdemokratie wie in den USA ist das anders. Aber hier kann ein Bundeskabinett ohne die Parlamentsmehrheit nicht regieren. Eine objektive Notwendigkeit zu einem Instrument wie dem Fraktionszwang kann also festgestellt werden, die die Verhältnisse in Deutschland zusätzlich noch dafür sorgen, dass parteiinterner Dissens auch gleich als "Zerstrittenheit" und damit negativ ausgelegt wird. Doch wie steht es mit der moralischen Legitimation?

In normalen Zeiten besteht ein grundlegender Konsens zwischen Führung und Basis. Normalerweise hat die Parteiführung in langen Gesprächen und ähnlichen Methoden die Basis von ihren Zielen überzeugt, wurde mit Werten um 90% publikumswirksam im Amt bestätigt und zwingt einzelne Abweichler durch den Fraktionszwang auf Linie, um handlungsfähig zu bleiben. Wenn die Basis sich nicht von den Zielen der Führung überzeugen lässt, muss die Führung entweder abtreten oder auf die Linie der Basis einschwenken. So weit, so normal.

Doch sieht man sich beispielsweise die heutige SPD an erkennt man, dass das nicht mehr gegeben ist. Der Fraktionszwang hat hier keine moralische Legitimation mehr. Die Parteiführung missachtet offen das Votum der Basis und zieht ihre eigene Politik durch, indem sie das Mittel des Fraktionszwangs zu ihren Gunsten einsetzt. In diesem Fall hat er keine Legitimation, und es wäre geradezu die Pflicht der Mitglieder, ihrer Führung die Gehorsam zu verweigern und damit zum Abtreten zu zwingen. Das wäre in Thüringen oder im Falle Steinmeiers offensichtlich notwendig gewesen.

Um ein anderes Beispiel zum Schluss zu bringen: auch die LINKE braucht den Fraktionszwang. Latent gibt es dort ständig den Streit zwischen der Mehrheitsfraktion, die Regierungsbündnisse anstrebt wo sie sich verwirklichen lassen, und der Minderheitsfraktion, die in der Opposition bleiben möchte. Ohne Fraktionstzwang würde die LINKE noch mehr als heillos zerstrittener Haufen wahrgenommen und dargestellt werden, als dies ohnehin der Fall ist und käme nicht als ernsthafter Verhandlunspartner in Betracht - wodurch die Minderheit der Mehrheit ihren Willen aufdrücken würde.

16 Kommentare:

  1. Ok, dann folgende provokative Gegenfrage: Wenn wir einen Fraktionszwang brauchen, warum dann nicht einfach die Sitzverteilung im Bundestag bei der Wahl nach dem gegebenen Verfahren bestimmen aber niemanden dorthin entsenden. Es genügt ein Repräsentant jeder Fraktion/ Partei um zu sagen wie er das Stimmgewicht der Partei allokieren will. Wäre deutlich günstiger als 6xx Abgeordnete, oder?

    Arbeitsgruppen etc. könnten permanent von Angestellten/ Beamten gebildet werden, welche dann Vorschläge ausarbeiten welche von den einzelnen Fraktionen in Auftrag gegeben werden.

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  2. Um dein Beispiel der Ministerpräsidentenwahl aufzugreifen:

    Also vorausgesetzt es gibt keinen Fraktionszwang - dann gilt das ja nicht nur für potentielle Regierungsparteien sondern auch für die Opposition. So, jetzt will die Linke Frau Freidenker zur Ministerpräsidentin machen, knapp die Hälfte wollen aber nicht, stimmen also in der Abstimmung dagegen, ein paar aufrechte SPDler finden Frau Freidenker aber sensationell gut und stimmen für Frau Freidenker, dasselbe gilt für ein paar Grüne und Christdemokraten. Frau Freidenker wird dann entweder gewählt, weil die Stimmen reichen oder aber eben nicht, weil keine Mehrheit da war.


    Demokratischer kann ich mir eine Wahl ohne direkte Volksbeteiligung kaum vorstellen. Es wird auch schwieriger für die Lobbyisten, die müssen jetzt nämlich die Mehrheit der Abgeordneten schmieren und nicht nur die Chefs. Nichtsdestoweniger bleibt das natürlich nur ein Wunschtraum, das würde niemals jemand durchsetzen können und wenn er es versuchen würde, wäre er bald unter der Erde.

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  3. Die 4 "Helden" aus Hessen haben aber ein ganz anderes foul begangen welches mit Fraktionszwang schon nichts mehr zu tun hatte,sie sind der Ypsilanti in den Rücken gefallen nachdem sie mitgeholfen hatten den Plan zu verwirklichen.Dagmar Metzger ausgenommen da sie ja bekanntlich von anfang an anderer Meinung war,daher paßt dieses Beispiel in dem Artikel überhaupt nicht.
    Soweit ich mich erinnern kann lebte die Kritik am Fraktionszwang erst mit der Schröder basta Politik auf,da mehr als offensichtlich war das bestimmte Themen nicht aus einer parteidemokratischen Willensbildung entstanden sind.Was sogar so weit ging das Schröder mit der Vertrauensfrage einige Abweichler in der eigenen Partei auf Linie erpresst hat.

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  4. Ich weiß was ihr meint, und ich habe nie behauptet, dass dieses System gut oder perfekt wäre. Sieht man aber mal in die USA, wo tatsächlich jeder frei Schnauze entscheidet sieht man, dass da auch kein demokratischer Mustertraum rumkommt - die Abgeordneten werden dann nämlich tatsächlich stärker direkt von den Lobbygruppen geschmiert. Wo der Vorteil dabei sein soll sehe ich auch nicht ^^

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  5. Ist das nicht offensichtlich? In dem Wort steckt der Begriff "Zwang". Damit ist schon angegeben, dass weder aus dem Gewissen, noch aus einer freien Entscheidung heraus gehandelt wird. Wie man "Zwang" und "Erpressung" (was der Fraktionszwang de faktisch ist!) in irgendeiner Form gutheißen, schönreden kann, ist mir schleierhaft.

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  6. Erklär mir mal wie unser System ohne Fraktionszwang funktionieren soll. Wohlgemerkt, ich rede davon, wenn es tatsächlich noch funktioniert - d.h. wenn sich Willen der Parteiführung mit willen der Parteimehrheit deckt. Letztlich ist der Fraktionszwang nur eine Möglichkeit, einen gefassten Mehrheitsbeschluss umzusetzen und vor der Minderheit zu schützen, die ihn nicht mag - wie wählen ja auch alle vier Jahre und nicht jeden Tag. Problematisch wird es, wenn die angesprochene Deckung nicht mehr gegeben ist.

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  7. Du sagst es ganz richtig, Partei-Beschlüsse müssen durch "Mehrheitsentscheid" der Partei geregelt werden. Der "Fraktionszwang" ist genau das, was der Begriff sagt: ein Zwang!

    Ich finde diese Unterscheidung wichtig, da er - nicht nur semantisch - sondern auch de faktisch darlegt, was zurzeit in den Parteien abgeht: korrupte/geschmierte Minderheiten zwingen die Partei(-mitglieder) auf Kurs.

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  8. Richtig, aber genau dagegen spreche ich mich ja aus.

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  9. Warum antwortet keiner auf meine Frage. Das System wäre doch günstiger wenn wir nur einen Abgeordneten pro Fraktion hätten, mit Gewicht nach Wahlergebnis... kommt auf das gleiche Hinaus wie der Fraktionszwang.
    Und wäre deutlich günstiger!

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  10. Weil das Unfug ist ^^ Allein wegen der Expertengruppen brauchst du mehr, außerdem ist der innerparteiliche Diskussionsprozess zu bedenken.

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  11. Papperlapapp... Expertengruppen. Lies meinen ersten Post. Das kann man locker mit Angestellten/ Beamten lösen die dauernd vor Ort sind und keine Diäten in dieser Höhe beziehen. Da braucht man sicher keine Abgeordneten dafür...

    Wen interessiert denn der interne Prozess wenn per Fraktionszwang alle auf Linie der Führung bewegt werden?

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  12. Niemand, genau das ist doch mein Punkt. Der Fraktionszwang hat seine Berechtigung, um die Mehrheit aus diesem internen Prozess vor der unterlegenen Minderheit zu schützen. Er verliert sie, wenn diese Minderheit die Mehrheit damit auf Kurs zwingt. Und schlecht bezahlte Beamte...? Damit es NOCH einfacher wird, den ganzen Apparat zu bestechen? Warum versteigern wir die Ministerien nicht gleich, das kommt uns noch billiger...obwohl, in the long run isses wohl doch teurer. Für uns, zumindest.

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  13. "Der Fraktionszwang hat seine Berechtigung, um die Mehrheit aus diesem internen Prozess vor der unterlegenen Minderheit zu schützen."

    Eine schöne Vorstellung, aber so sieht die Realität ja überhaupt nicht aus. Die Platzhirsche geben die Richtung vor und die Partei hechelt hinterher, ich gehe jede Wette, dass bspw. in Thüringen sich eine Mehrheit für Linke/SPD gefunden hätte noch bevor Matschie seinen Schwachsinn abgesondert hat. Jetzt aber sind sie treu ergeben, der Parteimensch an sich ist obrigkeitshörig bis zur Selbstaufgabe, das wird ihm eingetrichtert, sonst kommt er nicht weiter nach oben.

    Denen muss erst wieder beigebracht werden selbst zu denken.

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  14. Wie gesagt - kein Zweifel. Die Realität ist problematisch. Aber die Theorie ist anders ^^

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  15. @epikur: In dne Fraktionen nennt man das allerdings nicht Fraktionszwang (es gibt ja keine - offenen - Sanktionsmaßnahmen für Abweichler), sondern Fraktionstreue.
    Und wenn man sich mal so eine (nicht-geheime) Bundestagsabstimmung anschaut, merkt man von Fraktionszwang auch nicht viel - einzig die Linke stimmt regelmäßig einheitlich ab. Bei den anderen ist dies nur bei besonders wichtigen oder öffentlichkeitswirksamen Fragen der Fall.

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  16. "jeder kennt ihn, aber offiziell gibt es ihn nicht"

    das ist so nicht richtig .. der ist sogar vom BVerfG abgesegnet, heißt da allerdings Fraktionsdisziplin und es gibt gewisse Grenzen.

    Hintergrund: Kein Abgeordneter muß in einer Fraktion sein. Fraktionen sind freiwillige Zusammenschlüsse.
    Man kann auch fraktionsloser Abgeordneter sein, oder durch Rauswurf werden - wegen renitenten gegen die Fraktionsmeinung sein z.B..

    Und auch interessant, aber etwas offtopic .. Fraktionen müssen ja nicht von nur Parteimitgliedern gegründet werden. Es könnte sich bspw auch die Abgeordneten der Arbeitnehmerflügel aller Parteien zusammentun und eine Arbeitnehmerflügel-Fraktion gründen. Oder eine Atomstrom-Fraktion. Oder die Seeheimer mit dem Wirtschaftsflügel der CDU und der FDP .....

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