Vorlesung I (28.10.2009) – Historische Einordnung
Vorlesung II (04.11.2009) – Die Dimension des Völkerrechts und der Internationalen Beziehungen
Vorlesung III (11.11.2009) – Annexion Österreichs und Zerstörung der Tschecheslowakei
Vorlesung IV (18.11.2009) – Rechtsbruch, Indoktrination, Unterwerfung: die Wehrmacht im NS-Staat
Vorlesung V (25.11.2009) – Kriegsbeginn und Kriegsführung in Polen. Das Jahr 1939
Vorlesung VI (02.12.2009) - Völkermord
Vorlesung VII (09.12.2009) - Vernichtungslager
Vorlesung IX (13.01.2010) - Das Internationale Militärtribunal IMT: Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher
Vorlesung X (20.01.2010) – Die Nürnberger Nachfolgeprozesse
Vorlesung XI (27.01.2010) – Probleme internationaler Rechtsprechung
Vorlesung XII (10.02.2010) – Ausblick: NS-Prozesse nach 1950
Ich werde leider jobbedingt die Vorlesung stets rund 20 Minuten vor Schluss verlassen müssen. Falls ein Leser sie ebenfalls besucht ist er herzlich eingeladen, Ergänzungen anzubringen. Ich wünsche euch viel Spaß mit der neuen Serie!
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Teil 1: Historische Einordnung
Die historische Verortung der Nürnberger Prozesse ist schwierig. Gehören sie zum Dritten Reich oder zur Besatzungszeitgeschichte? Die Nürnberger Prozesse fanden nach dem Ende des Dritten Reichs statt, aber vor Beginn der “klassischen“ Nachkriegsgeschichte mit ihrer Blockbildung ab 1949. Die Verführung, die Prozesse unter reiner Besatzungspolitik und damit für Deutschland irrelevant anzusehen, ist hoch und wurde gerne genutzt.
In deutschen Gesamtdarstellungen zur Geschichte kommt der Prozess häufig nur am Rande vor. Das ist grundfalsch. Auf Seiten der Alliierten und der SU gab es durchaus Ungewissheit, wie man die Verurteilung von Kriegsverbrechern erwirken kann, ohne sich allzusehr dem Vorwurf der Siegerjustiz auszusetzen. Im amerikanischen und englischen Verständnis gewannen die Prozesse in den 1990er Jahren wieder an Relevanz, als es darum ging, den Internationalen Gerichtshof zu etablieren. Die Verinselung dieses historischen Geschehens besonders in Deutschland hängt auch damit zusammen, dass es deutsche Bestrebungen gab, diese Geschehnisse durch die „Vergangenheitspolitik“ zu entsorgen. Als die Nürnberger und ihre zwölf Nachfolgeprozesse 1949 vorbei waren, sah man die Verbrechen als gesühnt und den Staat als frei von Kriegsverbrechern. Diese Autosuggestion ist elementar für das Selbstverständnis der Nachkriegszeit, umso mehr, als 1949 die Entnazifizierung abgeschlossen worden war. Nach der Abgabe der Entnazifizierung an die deutschen Spruchkammern 1946/47, wodurch sich die Deutschen selbst reinwaschen konnten, machte sich schnell die berühmte „Schlussstrichmentalität“ breit; man wollte über das Dritte Reich nicht mehr reden („kommunikatives Beschweigen“, von Lübbe). Nachbarn wussten voneinander, wer was im Krieg getan hatte, und machte es sich gegenseitig nicht zum Vorwurf und redete nicht darüber. Anders wäre das auch kaum vorstellbar gewesen. Die meisten Menschen waren bis zum Schluss zumindest passiv Pro-Hitler gewesen und befanden sich alle gemeinsam in der Situation, besser den Mund zu halten, aber im Bewusstsein, beteiligt gewesen zu sein, mal mehr, mal weniger.
Als die Prozesse bereits anderthalb Jahrzehnte zurücklagen, begann in Jerusalem der Eichmann-Prozess. Eichmann war nach Südamerika geflüchtet, wo er vom Mossad entführt und in Jerusalem 1961 zum Tode verurteilt wurde. In Deutschland konnte man sich damit herausreden, dass das in Südamerika gewesen war und dass man im eigenen Lande keine Nazis mehr hätte. Es gewissermaßen ein „Einzelfall“. Mitte der 1960er Jahre fanden dann jedoch in Frankfurt die Auschwitz-Prozesse unter großem Medienecho statt. Die Prozesse beschäftigten sich mit Menschen, denen man klar nachweisen konnte, dass sie in den Lagern Auschwitz und Birkenau tätig gewesen waren, und dadurch zwangsläufig in Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwickelt waren. Auch dadurch wurde das Verhältnis „Wir und der Nationalsozialismus“ nicht wirklich berührt, es gab keine große Auseinandersetzung mit den Rechtsnormen des Nationalsozialismus’ und seinen Verbrechen. Dies geschah erst ab den 1980er Jahren und besonders in den 1990er Jahren, als die archivarische Aufarbeitung des Verbrechens begann. Die Dokumentation richtete sich jedoch hauptsächlich auf den Krieg, darin auf den Krieg im Osten, und darin wiederum auf den Krieg gegen die Sowjetunion, entstanden die ersten Vernichtungslager doch erst 1942. Vorher gab es Massenerschießungen und Gaswagen, um die Belastung der Erschießungen zu ersparen, was auch erst später in den Kontext der Massenmorde gestellt wurde.
Zurück zu den 1950er Jahren. In der zeithistorischen Forschung wurde bereits vor dem Auschwitz-Prozess begonnen, die Bedingungen zu klären, warum es im Nationalsozialismus zu Rechtsbruch kommen konnte. Die Ergebnisse dieser Forschung waren von Anfang an stichhaltig und sind kaum zu falsifizieren, waren jedoch auf den Kreis der Wissenschaft beschränkt und erreichten allenfalls über die BpB ein etwas breiteres Publikum. Das Schattendasein, das die Nürnberger Prozesse in der Forschung spielen, hängt stark mit der Konzeption der Forschung zusammen. In der Nachkriegsgesellschaft galt die Frage nach der Schuld in Kontext von Nationalsozialismus und Diktatur nicht in juristischem, sondern politischem oder moralischem Kontext. Die Argumentationslinie ist bekannt: wir sind einem Verbrecher zum Opfer gefallen (Hitler), oder, wie man es noch in den 1980er Jahren findet: das deutsche Volk habe sich verführen lassen. Obwohl die zeithistorische Forschung bereits seit den 1950ern wusste, dass der Nationalsozialismus auf einem geplanten und rücksichtslos durchgesetzten Rechtsbruch basierte, ließ sich die Selbstopfer-Stilisierung der Deutschen kaum verblassen. In den letzten Jahren ist diese Argumentation wieder aufgetaucht, etwa im Outing von Günter Grass oder den Bomben im Kosovo und Afghanistan.
Die zentrale These lautet: der Nürnberger Prozess und seine Nachfolgeprozesse (im Folgenden stets nur: Prozesse) werden in der Zeitgeschichte der Phase der Entnazifizierung und Besatzung zugerechnet, was sehr simplifizierend ist. Die Prozesse stehen im Kontinuum europäischer Geschichte und deutscher Geschichte. Sie sind ein Bindeglied mit der Nachkriegsgeschichte. Sie sind außerdem ein Bindeglied zwischen den angelsächsischen mit den mitteleuropäischen Ländern. Sie dienten auch dazu, die westliche Ordnungsvorstellung gegenüber der mitteleuropäischen im Industrieprozess der Moderne durchzusetzen. Dieses Element spielt bei der Festsetzung rechlicher Prämissen eine entscheidende Rolle, da die mitteleuropäischen Ordnungsvorstellungen als verbrechensgenerierend dargestellt werden konnten.
Wie man überhaupt rechtliche Normen international verbindlich festlegen kann ist schwierig zu beantworten. Seit dem Ersten Weltkrieg gab es Versuche, ein friedenssicherndes Völkerrecht zu schaffen. Diese Fragestellung wird für die Vereinten Nationen evident, da der Völkerbund gescheitert ist. Es muss konstatiert werden, dass sich der Rachegedanke seinen Weg durch völkerrechtliche Institutionen sucht. Es gab bereits nach dem Ersten Weltkrieg den Versuch der Alliierten, die Mittelmächte als Kriegsverbrecher darzustellen. Dies schlug vollkommen fehl, weil die Deutschen die Vorladungen der Gerichte ignorierten und es keine Möglichkeit gab, sie vor diese Gerichte zu zwingen. Auch aus diesem Grund bestanden die Alllierten im Zweiten Weltkrieg auf bedingungsloser Kapitulation, da diese die vollständige Preisgabe der Souveränität und damit auch des Rechtssystems bedeutet – und damit die Auslieferung aller unter das Rechtssystem des Siegers. Dies ist eine entscheidende Vorbedingung für das Stattfinden der Prozesse.
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag steht in direktem Bezug zu den Nürnberger Prozessen, nimmt deren Erfahrungen auf und versucht dazu beizutragen, dass das komplizierte Geflecht der Balkanländer nicht Rachegelüse deckt.
Was heißt nun Rechtsgeschichte in der Zeitgeschichte? Es ist ein geschichtswissenschaftliches Problem, dass das Problem von Recht und Rechtsstaatlichkeit eine immer weiter abnehmende Rolle gespielt hat. Jede Gesellschaft verfügt über eine staatliche Verwaltung. Diese ist in einen Kodex aktueller und traditioneller Rechtsnormen eingebunden. Diese Einbindung liefert die Gewähr dafür, dass rechtliche Entscheidungen in Politik und Justiz kalkulierbar und nachvollziehbar sind. Diese Kalkulierbarkeit ist an die Beachtung von Recht, Gesetz und Verträgen gebunden, was voraussetzt, dass Recht vorhanden ist. In Europa entstand der moderne Rechtsstaat im Zeitalter der Aufklärung. Nach der französischen Revolution wurde er Zug um Zug systematisiert und ausgebaut, je nach Region unterschiedlich. In Mitteleuropa galten bis 1848 und oft darüber hinaus deutliche Einschränkungen der liberalen Freiheitsrechte. Mit der Gründung des Reichs 1871 erfolgte eine gewisse aber keinesfalls umfassende Ausgestaltung der Freiheitsrechte. An persönliche Rechte gebundene Verwaltung muss nicht automatisch an Demokratie gebunden sein; Demokratie ist keine Voraussetzzung für einen Rechtsstaat. Das Deutsche Reich war ein Rechtsstaat, aber keine Demokratie, sondern ein Obrigkeitsstaat. Mit der Weimarer Reichsverfassung und dem Versailler Vertrag wurden Demokratie und Rechtsstaat zusammengeführt; dies besaß jedoch im Volk keine große Legitimation. In der Tradition deutscher Geschichte war die Republik aber ein Rechtsstaat. Als sie 1933 die Nationalsozialisten zur Macht brachte heißt dass, dass die Nationalsozialisten die Regierung in einem rechtsstaatlichen Kontext übernahmen, die Regierung eines Staates, der komplett in ein internationales Völkerrecht eingebunden war. Ein solches Recht galt für alle westeuropäischen Länder und die USA seit dem 19. Jahrhundert.
Die Nationalsozialisten zerschnitten vom ersten Tag an die Verbindungen zum Rechtsstaat. Sie zerstörten das rechtliche Fundament des Staates und seines Verhältnisses zur Gesellschaft ebenso wie das Völkerrecht zu den Nachbarn. Mit ihrer rechtlosen Willkürherrschaft schufen sie auch von Anfang an eine sich immer weiter ausbreitende Anarchie. Sie erzeugten, anders gesagt, von Anfang an die Bedingungen für den Untergang ihres eigenen Systems, der eigenen Gesellschaft und des eigenen diktatorischen Systems, und zwar gleich ob sie im Krieg erfolgreich waren oder nicht. Die ad-hoc-Entscheidungen je nach aktuellen Bedürfnissen ohne rechtliche Grundlage muss zur totalen Anarchie führen, besonders im Falle eines Sieges des Nationalsozialismus’, an dessen Ende nur die totale Gesellschaftsvernichtung oder Bürgerkrieg stehen kann. Die Reaktion der Sieger darauf war nicht nur militärischer Widerstand, sondern auch der Versuch einer Rückkehr zur rechtsstaatlichen Tradition vor 1933. Es gab nach den Prozessen einen langen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess, der am Ende erfolgreich war. Das Zerstörungspotential des Nationalsozialismus’ basiert nicht erst auf Krieg und Holocaust, sondern auf seiner Rechtszerstörung auch mithilfe der eigenen Gesellschaft.
Nationalsozialisten konnten nicht von einem Tag auf den anderen gewachsene Rechtsverhältnisse komplett beseitigen. Elemente der Rechtsstaatlichkeit blieben bis in die Kriegszeit, teils bis 1945 bestehen. Das traditionelle Rechtsempfinden ließ sich nicht von einem Tag auf den anderen aus den Köpfen entfernen. Rechtsstaatlichkeit dachte damals in nationalen Kategorien. In den 1950er Jahren wurde deswegen ein Kontinuum der Staatlichkeit seit dem 19. Jahrhundert hergestellt, in dem der Nationalsozialismus eine Diskontinuität darstellen solle. Die Historiker wollten sich nicht eingestehen, welchen Einfluss die Nationalsozialisten auf die Rechtsnormen hatten. Noch heute stößt das Verweisen auf die rechtlichen Implikation des Nationalsozialismus’ auf großen Widerspruch. Seit 1945 wurde zudem die Sozialgeschichte deutlich dominierender innerhalb der Geschichtswissenschaft. In diesem Kontext tauchte die Rechtsgeschichte nicht mehr auf, da sie mit Institutionen verkoppelt ist und nicht mit Schichten. Sie erzeugt gewissermaßen einen blinden Fleck innerhalb der historischen Wahrnehmung, den es zu beseitigen gilt. Vor 1945 galt übrigens das Paradigma der Politikgeschichte. Die frühesten Ansätze einer Beseitigung dieses blinden Flecks stammen vor allem von Politologen.
Die Prozesse entstanden vor allem aus dem Prozess gegen die sogenannten Hauptkriegsverbrecher. Dazu gehörten Göring, Keitel und Jodl als Vertretet des Militärs, außerdem einige Parteigrößen. Dieser im Herbst 1946 stattfindende Prozess IMT (International Military Tribunal) wird um den Vorwurf herum aufgebaut, die Angeklagten hätten die Führung eines Angriffskriegs vorbereitet. Die Frage, was zwischen 1933 und 1939 geschah, die für diese Vorlesung noch wichtig werden wird, spielt in den Prozessen keine Rolle. Die Folgeprozesse richten sich gegen die IG Farben, Militärgeneräle, SS-Leute aus der Rassegesetzgebung, gegen die SS-Einsatzgruppen, gegen Krupp, das Auswärtige Amt und das OKH. Alle diese Prozesse nehmen die Zeit des Krieges und den Genozid an den Juden in den Blick. Innerhalb dieser Prozesse kann jedoch die wahre Dimension des Holocaust nicht geklärt werden. Dies ist wohl damit zu erklären, dass die Vorbereitungsgruppen westlich dominiert waren und eine gewisse Distanz zu den Vorgängen im Osten bestand. Es brauchte bis in die 1980er Jahre, um die Dimension begreifbar zu machen; vollständig ist dies bis heute nicht gelungen. Das zeigt aber auch, warum die Zeitgenossen 1946 nicht in der Lage waren, das zu problematisieren: es gab keine plausible Gründe für das Warum. Das versuchen wir erst seit den 1980er und 1990er Jahren langsam zusammenzuführen. Gegenstand der Prozesse war also nicht die Politik des Nationalsozialismus’ vor 1939 sofern sie sich nicht mit der Vorbereitung des Krieges befasste.
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