Von Jürgen Voss
Vor unseren Augen, von der liberalen Öffentlichkeit fast wehrlos, ja resignativ hingenommen, spielt sich zurzeit ein tolles Schauspiel ab, dessen Dimensionen alle Phantasien des absurden Theaters weit übertreffen.
Das Drehbuch dieses Schauspiels in Stichworten: Die herrschende politische Kaste unseres Landes rennt seit nunmehr dreißig Jahren einer grotesken Wirtschaftstheorie hinterher, versucht sie mit einem gigantischen Propagandaapparat der „dummen“ Masse einzutrichtern (übrigens erfolglos), erzielt mit ihr in der Praxis aber nur Resultate, die nicht anders als desaströs bezeichnet werden können: astronomisch wachsende Verschuldung des Gemeinwesens (bei Zielsetzung „austerity“!), Massenarbeitslosigkeit, Massenarmut, massive Entziviliserung wie Amokläufe und Gewaltausbrüche, und fährt schließlich mit deregulierten Finanzmärkten die gesamte Wirtschaft vor die Wand.
Und für einen kurzen Moment scheint die neoliberale Front vor dem Zusammenbruch zu stehen.
Doch dieser Moment dauert – historisch gesehen - nur einen Lidschlag lang.
Die Gegenoffensive gelingt auf den Fuß: Nicht die eigene politische Überzeugung wird einer kritischen Reflektion unterzogen, sondern der Sozialstaat als Verursacher allen Übels diskreditiert. Die alte Lambsdorffplatte von 1982 wird neu aufgelegt. Und schon hat die neoliberale Mainstreamöffentlichkeit wieder „ihr“ Thema.
Insofern – das muss man neidlos anerkennen - ist die von Westerwelle mit gezielter Provokation in Gang gesetzte Diskussion, die inzwischen selbst von den angeblich seriösen Medien aufgenommen wurde, ein demagogisches Meisterstück.
Goebbels wäre neidisch. Dass die Mechanismen, die da in Gang gesetzt wurden und werden, gegen die Ärmsten dieser Gesellschaft (die ja nur zu faul sind), gegen die Ausländer, die in der SGBII Statistik überrepräsentiert sind (was stimmt, aber doch sachlich zu erklären ist), gegen die Arbeitslosen und Hängemattennutzer, exakt psychoanalytisch die gleichen Mechanismen sind, wie sie seinerzeit die Nazis gegen die Juden und Zigeuner eingesetzt haben, müsste – zumindest bei der Lektüre des Völkischen Beobachters der Gegenwart, der Bildzeitung, die täglich gegen Hartz IV Empfänger trommelt, einem so intelligenten Mann wie die Lorenzo von der „Zeit“, dem intellektuellen Zentralorgan kultivierter Langeweile, doch schnell offenbar werden.
Diese Verbrecher, die den Begriff „Journalist“ und dessen grundgesetzlich geschützten Freiheiten und Rechte, sträflich missbrauchen, nutzen – und da ist der inzwischen inflationär verwendete Begriff „populistisch“ mal wirklich angebracht – auf widerlich populistische Weise die tief sitzenden Aversionen der Masse gegen die, die nicht arbeiten (obwohl man selbst vielleicht frühverrentet ist), gegen die Ausländer, (obwohl man selbst Koslowski heißt), gegen die Alleinerziehende, die mit 22 drei Kinder von drei verschiedenen Vätern hat (obwohl man selbst vielleicht der Promiskuität nicht abgeneigt ist).
Als junger Mensch, in der evangelischen Jugendarbeit, habe ich in vielen Diskussionen die Frage gehört: „Wie konnte es geschehen, dass die gesamte Justiz, die gesamte Intelligenz, die Verwaltung, die Journaille, die Intellektuellen, bis auf wenige Ausnahmen einem solch dahergelaufenen Verbrecher, ausgestattet mit einer obskuren Ideologie, unkritisch nachgerannt sind und sich beim Sieg heil schreien heiser gebrüllt haben? Wir fanden damals keine Antwort. Und wir finden auch heute keine. Nur können wir feststellen, dass in der gesamten Presse bis auf wenige Ausnahmen (siehe H. Prantl in der SZ am letzten Wochenende) alle diesem neoliberalen Mainstream, trotz des Totalversagens dieser Ideologie, weiter unkritisch nachlaufen, und dies sogar „in Freiheit“, und somit anders als 1937 ohne physischen und psychischen Terror. Frage also: Wie würden sich diese Lemminge verhalten, bei einem neuen Hitler, Haider oder Henkel? Wir wissen es inzwischen: Sie würden sich genau so verhalten wie ihre Altvorderen. Ja, Sie würden es wieder tun.
Ich stimme der Analyse zu, aktuelles Beispiel:
AntwortenLöschenhttp://www.ftd.de/politik/europa/:arbeitsmarktreformen-holland-ist-westerwelle-land/50078507.html
Es ist nicht immer zu erkennen, ob es sich bei einem Artikel, um Satire handelt?
Noch wird in den Schulen von engagierten Lehrern versucht den Kindern Zusammenhänge und selbstständiges Denken beizubringen:
http://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/hausderniederlande/zentrum/projekte/schulprojekt/lernen/schule/40_20.pdf
http://www.uni-muenster.de/HausDerNiederlande/zentrum/Projekte/NiederlandeNet/Dossiers/Soziales/Wirtschaft/erwerbslosigkeit.html
Die Arbeitsbelastung der Beschäftigten wird im Dienst der Wirtschaft immer weiter verschärft.
Das Perfide ist, wie es Westerwelle mit Hilfe der Medien gelingt, dass Ressentiment, das sich gegen die Unterdrücker richten müsste, gegen die Arbeitslosen zu wenden.
Und die SPD?
Könnt ihr vergessen!
Neulich im Zug: Vier ältere Herrschaften, offensichtlich zwei Ehepaare, geschätzt um die 70, unterhalten sich über "Gott und die Welt". Und auch über aktuelle Politik. Tenor dieses kurzen Gesprächs: Westerwelle hat Recht! Wer arbeiten will, braucht nur loszugehen.
AntwortenLöschenMir verkrampfte innerlich Vieles und ich merkte, wie weit es die Medienhetze gebracht hat.
Westerwelle wird überschätzt - ein demagogisches Meisterstück wäre es, wenn Westerwelle seine schäbige Attacke ganz gezielt als Wahlkampfaktion eingesetzt hätte, so wie Roland Koch seinerzeit seine Antiausländeraktion (Wo kann ich denn hier gegen die Ausländer unterschreiben?)
AntwortenLöschenDas hat er aber nicht. Seine wilde Attacke hat ihren Auslöser in dem Umstand, dass ihm seine lächerliche Steuersenkungsidee davon zu schwimmen droht. Das Bundesverfassungsgerichtsurteil wurde zuallererst wieder als Argument gegen die Steuersenkung verwendet, und schon schrie Westerwelle auf.
Das war nun die billigste und schäbigste Variante, die ihm einfallen konnte - der berühmte "überbordende Sozialstaat" als Grund der Verhinderung von Steuersenkungen.
Tatsächlich begreift wohl selbst die FDP, deren ökonomische Kompetenz geradezu grotesk überschätzt wird, ganz allmählich, dass mit den abgedroschenen Phrasen aus der Irrlehre der Ökonomen kein Staat mehr zu machen ist. Seit den 80er Jahren verliert die Ideologie, die man vielleicht am besten mit marktradikalem Kapitalismus bezeichnet, samt der sie begleitenden ethischen Verwahrlosung beinahe der gesamten Gesellschaft, ihren Reiz. Immer deutlicher zeigt sich, dass Habgier und methodische Atomisierung der Gesellschaft in lauter egomanische Individuen keineswegs den Wohlstand bringen, den sie angeblich wissenschaftlich begründen müssten.
Auch das langweilige Geplärre der Gurus dieser Überzeugungen, etwa von Hayek oder Friedman, davon, dass "Staat" immer schlecht, "Privat" dagegen immer wohlstandfördernd sei, entpuppt sich gerade auf breiter Front als Unsinnigkeit. Die Finanzkrise schliesslich hat das Markt-Mantra zerstört. Die Märkte, die doch dem Ideal der Lehre am ehesten entsprechen sollten, haben ein gigantisches Versagen produziert und schmerzhaft daran erinnert, dass es ohne Staat nicht geht - und das um so weniger, als sich die ethische Verwahrlosung wie eine Epidemie ausgebreitet hat.
Westerwelle schlägt jetzt einfach um sich und bedient dabei die Stammtische. Er ist sozusagen ganz unten angekommen.
Ich vermute, er schiesst sich damit selbst ins Knie. Seinem proletarischen Ausfall wird nichts folgen - das kann man in der Oppositon machen, aber nicht in der Regierung. Sanktionen gegen einige Arbeitsunwillige gibt es jetzt schon, die "Verschärfung" der Regeln oder ihrer Anwendung wird, selbst wenn sie kämen, gar nichts ändern, und die Idee von der öffentlichen Beschäftigung Arbeitsloser ist so alt wie untauglich. Das ist alles längst ausgelutscht - nicht einmal an dieser Stelle hat Westerwelle eine irgendwie brauchbaren oder ga neuen Gedanken.
So hat er mal wieder die öffentliche Meinung aufgeheizt, ganz ohne Sinn. Bis zu den Wahlen in NRW ist der Quark ergebnislos ausdiskutiert, der Tiger als Bettvorleger gelandet.
Mit Westerwelle ist kein Staat zu machen. Mit seiner Partei in ihrem derzeitigen Zustand und ihrem ganz besonders dürftigem Personal schon gar nicht.
Eigentlich kann man den Typen nicht ernst nehmen. Das aber
AntwortenLöschenein Spaßmobilist mit aufgemalten Ziffern auf den Schuhen Parteivorsitzender der FDP ist, zeigt leider, wie treffend Hermann Keskes einschätzung von der Dürftigkeit des Personals ist.
Von jemanden, dem nicht einmal der Besuch im RTLII Container zu blöd ist, erwarte ich keine ernsthaften Statements. Unser Guido liebt den Lärm um sich, weil er dann sich dann einbilden kann, er sei wichtig. Dabei ist er nur ein Kasper, dem Merkel und Gutenberg genau aufschreiben, was er zu sagen hat wenn er ins Ausland fährt (s. Afghanistankonferenz).
Westerwelle geht ja schon seit Jahren mit seinem Schmarotzergeschwätz hausieren -mehr hat unser Guido leider nicht drauf und sein ganzer korrupter FTP-Laden auch nicht.
==>Wieso geht hier copy und paste nicht?
Di Lorenzo gehört zu der Sorte Lemminge,
AntwortenLöschendie bis zum Schluss nicht wahrhaben wollen,
dass Sie nicht dazu gehören.
Super! Vielen Dank! Sie haben voll ins Schwarze getroffen.
AntwortenLöschenNichts Neues unter der Sonne
AntwortenLöschenWissenschaftler vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB) zählen vier große Faulheitsdebatten in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Forscher formulieren ein fast prognosefähiges Gesetz für deren Auftreten: Vor der Wahl und in der Flaute.
http://www.wissenschaft.de/sixcms/detail.php?id=152104
Ich stimme Herrn Voss voll und ganz zu.
AntwortenLöschenUnd noch schlimmer: Heute gibt es mindestens genau so viele psychisch schwer deformierte Menschen wie im Dritten Reich.
Deshalb wäre auch kein Mangel an Soldaten und Polizisten, die auf das eigene Volk schießen würden und es wäre auch kein Mangel an KZ-Wärtern und Wärterinnen. Ich kann mir mehrere Bekannte und Nachbarn sehr "gut" als Anwärter für solche "Berufe" vorstellen. Und ich weiß aus vielfacher Erfahrung, dass ich mich auf meine Intuition verlassen kann.
Das ist kein Scherz. Mir ist es todernst!
Ib man allerdings mit Rosa Luxemburg unbedingt weiter kommt, darf bezweifelt werden.
AntwortenLöschenEin sehr guter Beitrag, Herr Voss!
AntwortenLöschenEs ist auch in den Kommentaren schon vieles angesprochen worden.
Es ist richtig: Wir leben in einer kapitalistischen Diktatur. Wenn 10% der Bevölkerung mittlerweile etwa 60% des Gesamtvermögens besitzen, müßte es auch den unbelehrbaren Opfern der Neoliberalen langsam klar werden, daß (nicht nur) in deutschen Landen etwas nicht stimmen kann.
Aber anscheinend ist die stete Verkündung neoliberalen Heilsversprechens, die permanente Indoktrinierung neoliberaler Wirtschaftsheoreme durch diverse Medien Ursache für die Verblödung breiter Massen.
Punktlandung! Glückwunsch!
AntwortenLöschenHerr Voss,
AntwortenLöschenvielen Dank für Ihren Kommentar! Bitte, machen Sie weiter so!
Sprachlich wie gedanklich super! Danke!
AntwortenLöschenDie zigste-Beschreibung in diesem Blogquadranten ohne Analyse. Kleines Beispiel: "Nur können wir feststellen, dass in der gesamten Presse bis auf wenige Ausnahmen (siehe H. Prantl in der SZ am letzten Wochenende) alle diesem neoliberalen Mainstream, trotz des Totalversagens dieser Ideologie, weiter unkritisch nachlaufen..." - Jetzt fehlt der Grund. Dann wäre der Artikel okay.
AntwortenLöschenUnd der Grund ist völlig unspektakulär: Weil genügend von diesem System profitieren. - Man sollte also nicht von den Profiteuren Änderung erwarten, sondern von den Geschächteten. Aber ausgerechnet die ALG-II-Partei (ca. 9 Mio) bleibt stumm. DIE hätten Grund für einen Aufstand. Nicht Prof. Sinn & Co. - die leben doch schließlich von der Verklärung der Zustände.
Ich stoße mich ein bisschen an der Formulierung "nur Resultate, die nicht anders als desaströs bezeichnet werden können". Sie sind sicher desaströs für den überwiegenden Teil der Gesellschaft - aber genau das ist ja die erste Regel dieses makabren Spiels: dass nur ein paar Wenige davon profitieren. Dies ist der Grund dafür, dass es auch in der Krise weitergespielt wird, und es ist auch der Grund dafür, dass es, scheinbar einer exponentiellen Kurve folgend, immer extremer betrieben wird.
AntwortenLöschenDabei wird in diesem Blog-Artikel noch völlig außer Acht gelassen, dass der überwiegende Teil der Opfer nicht mal in Deutschland lebt. Die Verlierer in unserem Land konsumieren ja selbst immernoch fleißig - und zwar den ganzen Billig-Dreck, der unter sklavereiartigen Umständen in der Dritten Welt und in den Schwellenländern hergestellt wird. Wer erfolgreich gegen das neoliberale, globalisierte Finanz- und Wirtschaftssystem rebellieren will, muss einfach aufhören, deren Produkte zu kaufen (das ist angesichts einer größtenteils ausgeschalteten Konkurrenz zwar kaum noch möglich, aber mit etwas Verstand momentan noch zu realisieren).
Wenn ich mit meinen 61 Jahren zurückblicke, erscheint mir eine Zeitspanne von 12 Jahren fast als ein Augenblick - als ein Gestern. Und genau diese 12 Jahre Ausnahmezustand (getarnt als 1000jähriges Reich) hat man - und das ist nach wie vor das herrschende Dogma - abgehakt und als eine Laune des Schicksals verniedlicht - und an einem schönen Tage im Jahre 1945 sind alle Deutschen als Bekehrte aufgewacht. Wer's glaubt, wird selig!
AntwortenLöschenUntertanengeist, Obrigkeitsdenken, Denunziantentum, Anbiederung, Rückgratlosigkeit und Feigheit sind jahrhundertelang vor 1933 gepflegt worden und sollen nun so ganz plötzlich von der Bildfläche verschwunden sein? Sozialrassismus, Wirtschaftsfeudalismus, Standortnationalismus, Parteiendiktatur, als Demokratie getarnte Plutokratie - das sind einige Kriterien, die ich unserer Bananenrepublik zuordne.
Ich kann Jürgen Voss in seiner Einschätzung der Lage nur zustimmen: ja, sie würden es wieder tun. Die Anzeichen sprechen dafür, dass die Fassade und Oberfläche, unter der sich Rassismus, Insolidarität, Intoleranz, Missgunst und rücksichtsloser Egoismus zu verbergen versucht haben, immer dünner wird und grossflächig durchbricht. Deutschland - mir graut vor Dir!
Peter A. Weber