Montag, 31. Juli 2017

Die Ausrede mit dem Islam

Ein abgelehnter Asylbewerber, der sich in der letzten Zeit stark radikalisiert hat, hat in Hamburg in einem Supermarkt mit dem Messer bewaffnet einen Amoklauf begangen, einen Menschen getötet und sieben verletzt. Die erwartbare Reaktion der Politik: Abschiebegesetze verschärfen! Und sicher, in dem Fall hätte es vermutlich geholfen. Was dabei gerne ausgeblendet wird ist zweierlei: zum Einen die gewaltigen menschlichen Kosten, die das für zehntausende mit sich bringt die grundlos und unverschuldet in eine nunmehr "scharfe" Abschiebepraxis geraten (wie das aussieht kann man in den USA sehen, wo die Einwanderungsbehörde ICE sich alle Mühe gibt, wie ein faschistischer Schlägertrupp zu operieren), und zum Anderen, dass das Problem ein kriminalistisches ist, kein kulturelles, und sicherlich nicht auf Muslime begrenzt.

Was meine ich damit? In den zunehmenden Einzelattacken, die in letzter Zeit in der gesamten westlichen Welt auftreten, bietet der religiöse Hintergrund kein zuverlässiges Erkennungsmuster. Stattdessen haben alle diese Täter, von Fjotolf Hansen über Dylann Roof zu Omar Mateen zu Anis Amri zu Khuram Shazad Butt zu Darren Osborne zu David Sonboly und so viele mehr, einige auffällige Gemeinsamkeiten. Es ist nicht die Frage der Religion - es gibt Muslime aller Richtungen, fromme wie weniger fromme, es gibt Christen, Atheisten und Anhänger alter paganistischer Riten. Die Religion bestimmt lediglich die Aufmerksamkeit, die diese Täter erhalten, vor allem von den Strafverfolgungsbehörden. Über das empörende wie den Diensteid verletzende Versagen deutscher Polizeibehörden in den NSU-Fällen werden bereits Bücher geschrieben, und in den USA verfolgt die Bundespolizei zwar 91% aller islamistischen Attacken, aber nicht einmal 60% aller Rechtsterroristen, obwohl Letztere doppelt so viele Attacken verüben und nicht einmal halb so häufig an der Ausführung gehindert werden¹. Ähnlich sieht die Lage auch hierzulande aus.

Es ist wenig zielführend, sich auf die Religion des Islam oder Flüchtlinge als Hauptmerkmal dieser Täter zu konzentrieren. Zwar sind diese Gruppen überproportional vertreten, aber letztlich erledigt man hier nur das Handwerk der Hass-Profis. Diese wollen den großen Religionskonflikt, den die Rechte so eifrig befeuert, überhaupt erst herbeiführen. Da muss man nicht helfend zur Hand gehen, indem man eine Gruppe unter Generalverdacht stellt. Gleichzeitig kann es auch wenig sinnvoll sein, diese Ereignisse als etwas hinzunehmen, das so wenig beeinflussbar ist wie das Wetter, quasi als eine Naturkatastrophe, die man einfach überdauern muss.

Weit über 90% all dieser Täter, vor allem der muslimischen Täter, ist gemein, dass sie bereits vorher polizeibekannt waren. Häufig genug gab es Warnmeldungen aus ihrem Umfeld, so auch im Fall der Hamburger Messerattacke. Immer handelt es sich um Männer. Fast immer handelt es sich um solche, die in der Mehrheitsgesellschaft nicht zurecht kamen. Häufig handelt es sich um Personen, die eine Vorgeschichte mit häuslicher Gewalt hatten. In praktisch allen Fällen gibt es keine vorherigen Verbindungen mit irgendeiner überspannenden Organisation, geschah die ideologische Radikalisierung kurz vor der Tat aus eigenem Antrieb.

Was will ich damit sagen? Wir sollten aufhören, der Ideologie dieser Menschen zu viel Bedeutung beizumessen. Wir haben es nicht mit einem Krieg der Kulturen zu tun, sondern mit Kriminellen, mit Gewalttätern, die sich einen ideologischen Überbau zur Rechtfertigung von Taten holen, die sie bereits vorher zu begehen bereit waren. Inzwischen steht ein ganzer Katalog solcher Ideologien zur Verfügung, aus denen diese armen Würstchen sich ihre grandiosen Rechtfertigungen für das einzige holen können, mit dem sie ihr eigenes, vollständiges Versagen überkleistern können. Wenn man es erst meint mit der Prävention gegen dieses Pack, dann muss mehr in die Früherkennung investiert werden, in Sozialarbeiter und Psychologen, und ja, auch in die Polizei und Überwachungsapparate. Aber anstatt dass man ein gigantisches Netz über das ganze Land wirft, muss man gezielt die Stätten der Radikalisierung unter Kontrolle halten und mit der psychischen Labilität quervergleichen, die all diesen Mördern gemein ist. Das wäre eine sinnvolle, zielführende Reaktion - nicht der Generalverdacht gegen riesige Gruppen.

Aber das alles ist natürlich aufwändig. Es kostet Geld, Arbeit und Zeit. Dagegen ist es viel einfacher, markig einzufordern, dass man gefälligst radikaler abschieben solle. Das geht per Federstreich. Und wer weiß, vielleicht erwischt man nach hunderttausend auseinandergerissenen Familien und zerstörten Schicksalen dann auch einen potenziellen Attentäter. Gute Polizeiarbeit und verantwortliche Politik wären das allerdings nicht.

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¹ Quelle

Freitag, 28. Juli 2017

Finis Baden-Württembergiae

Hier im Ländle ist man seit jeher stolz auf den angeblich indigenen Fleiß, der das Schwabenland zum deutschen Musterland macht. Starke Industrie, niedrige Arbeitslosigkeit, "der Daimler". Baden-Württembergische Ministerpräsidenten sahen das Land in den letzten Jahrzehnten gerne als den CDU-Musterstaat schlechthin. Gerne wurde dabei vergessen, dass das Land noch in den 1950er und 1960er Jahren eher ein Problemfall als ein Nettozahler des Länderfinanzausgleichs war. Es ist menschlich nachvollziehbar, dass den Landeschefs (immer Männer mittleren und gehobenen Alters aus gutem Hause) ein bisschen zu Kopf stieg. Ein Megaprojekt wie ein völlig unnötiger, unfunktionaler Bahnhofsneubau und eine selbstherrliche, hobby-autokratische Reaktion auf die entsprechenden Proteste gepaart mit einem Atomdesaster in Japan führte dann nach nur 60 Jahren Dauerherrschaft auch endlich zum verdienten Machtverlust.

Aber entgegen progressiver Hoffnungen und konservativer Befürchtungen zeigte sich, dass das neue natürliche Regierungspersonal, im wahrsten Sinne des Wortes, "das Gleiche in Grün" ist. Winfried Kretschmann ist das wohl größte Desaster, das Baden-Württemberg passieren konnte, aber nicht aus den Gründen, die seine konservativen Kritiker anbringen, sondern aus denen, die ihm aus der progressiven Ecke entgegen schallen. Was meine ich damit?

Baden-Württemberg hat ein enormes Strukturproblem. Es teilt dieses Problem mit dem Rest Deutschlands, aber sein faustischer Pakt mit der Automobilindustrie verstärkt es gegenüber seinen Nachbarn um ein Vielfaches. Nirgendwo sonst sind Politik und Verwaltung der Autoindustrie so hörig wie im Schwabenland, nirgendwo sonst wird besonders auf der EU-Ebene so massives Lobbying für die Hauptverschmutzer des Stuttgarter Talkessels betrieben wie hier. Laut einer populären Statistik hängt jeder fünfte Job im Ländle direkt oder indirekt an der Autoindustrie, und es handelt um im Vergleich zum Dienstleistungssektor auch um gut bezahlte und gewerkschaftlich organisierte und dadurch ordentliche Jobs, auch wenn es ein starkes Qualitätsgefälle von den Autobauern selbst zu den Zulieferern gibt.

Diese aktuell starke Struktur, die das baden-württembergische Durchschnittseinkommen in die deutsche Spitzenregion hebt und die Arbeitslosigkeit niedrig hält ist aber mittelfristig gefährdet. Denn die schwäbischen Autobauer leben vor allem von schweren, kraftstoffschluckenden und Dreck verschleudernden Limousinen, Sportwagen und LkWs. Jahrelang weigerte man sich zur Kenntnis zu nehmen, dass es sich hierbei um kein nachhaltiges Geschäftsmodell handelt. Marktwirtschaftlichen Druck, diese Aufstellung zu ändern, hebelte man lieber durch massive Lobbyarbeit aus. Das ging lange Zeit gut.

Nur geht der Trend klar in zwei Richtungen: zum einen selbstfahrende Autos, zum anderen elektrische Autos. Beide Trends hat die deutsche Automobilindustrie, besonders aber die schwäbische, nicht nur verschlafen sondern aktiv verleugnet und hintertrieben. Das daraus resultierende Strukturproblem ist daher mannigfaltig.
  • Die rechtliche Lage für selbstfahrende Fahrzeuge befindet sich im juristischen Limbo. Das erschwert Tests und verlängert Produktionszyklen.
  • Die chauvinistische Autokultur macht eine Änderung zu weniger auftrumpfenden Fahrzeugen und einem sichereren, automatisierten Fahrprozess deutlich schwieriger.
  • Die Produktion von Elektroautos benötigt deutlich weniger und weniger spezialisiertes Personal als die von Kraftstoff verbrennenden Fahrzeugen.
  • Es gibt keinerlei Infrastruktur für das Aufladen von Elektrofahrzeugen.
  • Es gibt keinerlei Infrastruktur, die einen Strukturwandel in der Wirtschaft ermöglichen würde.
Der letzte Punkt bezieht sich, natürlich, auf den Breitbandausbau. Ich wohne kaum eine halbe Stunde von Stuttgart Mitte weg, und die Telekom bietet atemberaubende 16k-Internetverbindungen als Maximum an, von denen in der Realität 4k oder 5k erreicht werden. Selbst in Stuttgart selbst sind leistungsstarke Verbindungen kaum zu bekommen. Öffentliches WLAN gibt es immer noch praktisch nicht, die rechtliche Lage ist eine Katastrophe. Das Land ist technologisch in den 1990er Jahren steckengeblieben, bestenfalls. Wenn die Automobilbranche als Wachstumsmotor wegbricht - und das wird sie zwangsläufig - verliert Baden-Württemberg sein wichtigstes Standbein. Sämtlliche Parteien im Landtag verleugnen diese Realität völlig und verweigern sich jeglichem Umdenken.

Und damit kommen wir zurück zu Winfried Kretschmann. Die einzige Partei, die von ihrer Programmatik und politischen DNA her in der Lage wäre, diesen Konflikt aufzulösen, wären die Grünen. Sie alleine haben die nötige Glaubwürdigkeit bei diesen Themen und das ohnehin bereits vorgesetzte Image, solcherlei Veränderungen anzustreben. Stattdessen hören wir von Kretschmann Tiraden wie diese heimlich aufgezeichnete vom Grünen-Parteitag 2017:


Kretschmann macht genau das Gleiche, was ich Peer Steinbrück und anderen SPD-Politikern letzthin vorgeworfen habe: er sonnt sich in der Bewunderung seiner Sykophanten ob seiner ach so pragmatischen Einstellung und macht einen Vulgär-Helmut-Schmidt. Nichts ist so mutig im deutschen Diskurs, wie den Vorschlägen der Grünen mangelnde Realitätsnähe vorzuwerfen. Man muss Kretschmann schon applaudieren, da stellt er sich wacker dem Mainstream entgegen.

Es ist ein Trauerspiel. Was Kretschmann hier als größte Weisheit seit der Senkung der Kapitalertragssteuer verkündet, was seine Parteigenossen in ihrer idealistischen Verblendung nicht sehen, ist dass an den Tankstellen kein Platz für alle Autos ist, die 20 Minuten lang die Batterie laden. Das ist ein Mann, dessen Vorstellungsvermögen nicht weiter reicht als bei Tankstellen zu bleiben. Und Recht hat er! Es wäre schon problematisch, wenn alle Autos, die aktuell immer tanken, dort statt fünf Minuten nun 20 stehen müssen. Man könnte sich aber auch fragen, warum für eine Stromladestelle unterirdische Tanks und Zapfsäulen vonnöten sein sollen. Und warum ich überhaupt mein Auto an einer Tankstelle aufladen wollen sollte.

Aber dazu ist Kretschmann nicht in der Lage. Und er ist der Vorsitzende der Partei, die in Baden-Württemberg am freundlichsten gegenüber diesen Veränderungen sein sollte. Es ist ein intellektuelles Desaster, eine intellektuelle Bankrotterklärung, und niemand merkt es. Unter tosendem Beifall ruinieren die Vulgärpragmatiker die Zukunft des Landes. Ihnen kann es aber egal sein. Denn ausbaden wird diese Ignoranz und Eitelkeit die folgende Generation.  

Dienstag, 11. Juli 2017

Vom Nutzen der kritischen Distanz

Ich bin in meiner Timeline über einen Tweet gestolpert, der mir symptomatisch für ein verbreitetes Problem im aktuellen politischen Diskurs zu sein scheint. Matthias Blumencron von der FAZ kritisiert darin einen Artikel von Heribert Prantl zur Wahrung der Grundrechte beim G20-Gipfel wie folgt:
Ich möchte mich dabei gar nicht mit dem Inhalt des Artikels selbst beschäftigen, sondern mit dem Ressentiment, das in der Kritik steckt: dass da jemand aus der Distanz ohne emotionale Beteiligung urteilt. Dieses "nah dran an den Menschen" ist ein Trend im Journalismus dieser Tage, der deutlich über das Ziel hinaus geschossen ist.


Wie so oft liegt der sichtbare Beginn dieser Entwicklung im Trump-Wahlkampf, als sich plötzlich jeder berufen fühlte die Refugien der White Working Class aufzusuchen und sensible und wohlwollende Porträts über die Mentalität und Lebensumstände dieser Leute zu verfassen, ohne je auch nur daran zu denken anderen marginalisierten Gruppen eine ähnliche Behandlung angedeihen zu lassen (aber die Anliegen von Schwarzen sind natürlich auch bei weitem nicht so legitim wie die von Weißen). Dass man dabei nur eine Blase gegen die andere eintauscht, schien dabei niemandem klar zu sein.

Auch in Deutschland feiert dieses Format seit dem kurzen politischen Frühling der AfD fröhliche Urständ. Ein Beispiel hierfür ist Zeit-Redakteur Henning Sußebach, der durch Deutschland wandernd die bahnbrechende Erkenntnis hatte, dass Menschen verschieden sind und ihre politischen Ansichten und Interessen sich nicht zu 100% mit Wahlprogrammen der Parteien decken. Natürlich ist es schön, dass er tolle Geschichten dazu erzählen kann, aber dieselbe Erkenntnis hätte das oberflächliche Studium der letzten politikwissenschaftlichen Wahl- und Umfrageanalysen auch ergeben¹.

Dabei wird so getan, als sei es quasi unmöglich, außerhalb des direkten Kontakts mit Betroffenen (Linke würden von "solidarisieren" sprechen) keinerlei Berichterstattung möglich². Aber das ist Unsinn. Jeder Journalist weiß, dass zu große Nähe zum Gegenstand ein Problem sein kann. Die Berliner Hauptstadtpresse etwa kann sich diese Kritik rund um die Uhr anhören.

Die Annahme Blumencrons also, dass wertvolle Erkenntnisse über die Gefährdung von Grundrechten nur dann zu gewinnen seien, wenn man mit der Mentalität eines Kriegsberichterstatters in Hamburg sitzt und in den Zustand professioneller Empörung geschaltet hat, ist nicht haltbar. Sie würde für die meisten anderen Themen auch nicht akzeptiert werden.

Dabei ist es gerade die Mischung, die eine vernünftige Analyse und ein halbwegs realitätsnahes Gesamtbild überhaupt erst ermöglicht. Beides ist nötig: die Berichterstattung nahe am Thema, mit all der Aufregung und Emotionalisierung die dabei zwangsläufig ist, und die kühl-distanzierte Analyse von weiter weg, wo man nicht im Strom der Gefühle mitgerissen wird.

Vermutlich hat Blumencron ein deutlich geringeres Problem mit Fernglas-Analysen aus der guten Bürgerstube über die Höhe der Hartz-IV-Sätze. Es ist eben doch alles eine Frage des jeweiligen Standorts.

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¹Sußenbach hatte natürlich noch mehr Erkenntnisse erlangt, die seine Reise insgesamt wertvoll machen. Mir geht es mehr um die Überhöhung einiger Erkenntnisse als bahnbrechend neu, die vielmehr reichlich banal sind und eher das angesprochene Blasen-Problem untermauern.

² Dazu kommt die starke Rechtslastigkeit dieser Art von Berichterstattung; die wohlwollend-nahe Reportage aus dem linken Milieu wird wohl ewig ausstehen.