Donnerstag, 30. November 2017

You're Fired?

Seit Trumps Wahl im vergangenen November taucht eine Frage wieder und wieder in liberalen Zirkeln auf: sollte Trump impeacht werden? Ich habe mich mit der Frage bisher nie großartig auseinandergesetzt, weil ich die Idee für behämmert gehalten habe, sowohl politisch (sie hat null Chance auf Verwirklichung) als auch demokratisch (man putscht nicht einfach gegen den Wählerwillen). Die Republicans zerstören im Alleingang genügend demokratische Normen und schieben das gesamte System in Richtung einer disfunktionalen Autokratie, da braucht es nicht auch noch die Democrats die versuchen, von der anderen Seite eine Wahlentscheidung umzuwerfen, egal wie beknackt diese Wahlentscheidung war. Ich war daher überrascht, von einem Autoren wie Ezra Klein eine längere Auseinandersetzung mit dem Thema zu lesen, in der er gestand, von meiner eigenen Position, die er aus den gleichen Gründen vertrat, abgerückt zu sein und ein Impeachment zu befürworten.

Bevor wir uns mit der Frage auseinandersetzen, was von Kleins Argumentation zu halten ist, eine kurze Erklärung des Impeachment. Da in den USA die Stellung des Präsidenten nicht von einer parlamentarischen Mehrheit abhängt, gibt es anders als bei uns kein konstruktives Misstrauensvotum. Die einzige Möglichkeit, einen Präsidenten gegen seinen Willen und außerhalb der Wahl loszuwerden ist es, entweder ein Impeachment-Verfahren anzustrengen oder über Artikel 25 der US-Verfassung eine geistige Umnachtung zu erklären. Beides wurde noch nie erfolgreich angewandt.

Für ein Impeachment, das in der US-Geschichte zweimal (erfolglos) versucht wurde, braucht es eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Senat, nachdem das Repräsentantenhaus mit einfacher Mehrheit Anklage erhoben hat. Es handelt sich nicht um ein juristisches, sondern ein politisches Verfahren. Der Präsident muss sich "Fehlverhaltens" (misdemeanor) schuldig gemacht haben, aber das ist weit genug auslegbar dass es selbst für Clintons Affäre gereicht hat. Schwieriger ist im Normalfall die Mehrheit dafür zu erlangen. Noch problematischer ist Artikel 25, der für Fälle schwerer Verletzungen etwa im Rahmen eines Attentats oder Fälle geistiger Umnachtung geschaffen wurde. In diesem Fall muss der Vizepräsident eine Mehrheit im Kabinett und zwei Drittel des Kongresses hinter sich bringen. In beiden Fällen würde der Vizepräsident neuer Präsident bis zur nächsten regulären Wahl; in diesem Fall Mike Pence.

Erfolgreich angewendet wurde dieses Verfahren noch nie. Artikel 25 wurde nicht einmal versucht; das Impeachment gegen Andrew Johnson scheiterte 1867 wegen einer einzigen Stimme (und niemand hätte berechtiger eine Amtsenthebung erlitten). Clinton war nie wirklich in Gefahr, und die Republicans büßten bei den Midterms 1998 bitterlich für ihre Anmaßung. Der einzige Präsident, der wahrscheinlich erfolgreich impeacht worden wäre, war Richard Nixon, und der entzog sich der Schmach vorher durch Rücktritt.

Klein argumentiert nun, dass die Zurückhaltung bei der Anwendung des impeachment der einzige Fehler sei, den man bisher gemacht habe und dass es wie in jedem Job möglich sein müsse, einen grotesk ungeeigneten Kandidaten rauszuwerfen, besonders wenn der Kandidat die Verfügungsgewalt über Atomwaffen und die Selbstkontrolle eines durchschnittlichen Fünfjährigen hat (abgesehen davon wäre es eine Ironie der Geschichte jemanden der wegen seiner markigen Rauswurf-Phrase "You're Fired!" berühmt wurde zu feuern). Sein Hauptargument: wie würden künftige Generationen auf uns zurückblicken, wenn Trump tatsächlich einen Atomkrieg mit Nordkorea auslöste? Würden sie nicht zurecht sagen: "Ihr habt das alles gewusst und nichts getan?"

Das Argument ist zuerst einmal nicht von der Hand zu weisen. Dass Trump zumindest eine starke narzistisstische Ader hat ist offensichtlich, dass er sogar eine Persönlichkeitsstörung hat nicht unwahrscheinlich. Die verstörenden Berichte über sein Verhalten auch im Privaten geben der Vorstellung, er sei geisteskrank und instabil, noch mehr Nahrung. Über Artikel 25, so Kleins Idee, ließe sich eine psychatrische Untersuchung anordnen und bei Bestätigung des Verdachts eine Amtsenthebung einleiten.

Und die Idee ist tatsächlich relevant. Wenn Trumps Kritiker Recht haben (und das ist ein dickes "wenn") und Trump tatsächlich geisteskrank ist und in Gefahr, einen Atomkrieg auszulösen, wäre es gerade sträflich nachlässig, ihn nicht aus dem Amt zu entfernen.

Nur, das Problem ist, wir wissen es eben nicht sicher. Ich für meinen Teil bin sehr unsicher. Nicht, dass ich viel Liebe für Trump übrig hätte, aber Klein ist meiner Meinung nach sehr naiv wenn er behauptet, ein Missbrauch des Verfahrens sei auch nach einer erfolgreichen Maßnahme gegen Trump wegen der hohen Hürden (Zweidrittelmehrheit) sehr schwierig. Wie viele angeblich so schwerwiegende Hindernisse haben die Republicans in ihrem anti-demokratischen Zerstörungsfeldzug bereits beiseite geräumt? Warum sollten die Democrats, wenn sie den gleichen Anreizen ausgesetzt sind, so viel selbstloser und engelhafter in Zukunft darauf verzichten?

Ja, wenn Trump tatsächlich etwas wie einen Atomkrieg auslöste, wäre das Geschrei groß. Und das nicht zu Unrecht. Entfernt man ihn aber, werden wir nie erfahren ob er nur vier Jahre den herumalbernden Nazi-Clown spielt oder doch das Schlimmste Ereignis der jüngeren Menschengeschichte auslöst. Es ist zweifellos richtig festzustellen, dass auch Hitler nie ernst genommen wurde bis es zu spät war. Aber wie viele Hobby-Autokraten, echte und eigenbildete Diktatoren wurden schon als die nächste Inkarnation Hitlers gehandelt, um nachher als Säcke heißer Luft enttarnt zu werden?

Ich bleibe daher gegenüber der Idee eines impeachment für Trump ablehnend. Das Risiko für die Demokratie selbst ist zu hoch.

Montag, 27. November 2017

Der alternativlose Linksruck

Wie bereits in meinem letzten Artikel zum Thema erwähnt ist kaum ein Phänomen so viel erwähnt und so wenig analysiert wie die Entwicklung der CDU unter Angela Merkel. Kaum ein Kommentar kommt ohne Erwähnung der Tatsache aus, dass die CDU heute nicht mehr dieselbe Partei ist wie 2005. Das ist natürlich korrekt, nur ist die Fixierung auf die CDU schon manisch. Auch die anderen Parteien sind nicht mehr die von 2005, nur da interessiert es kaum jemanden. Man stößt mit derselben Erkenntnis auch gerne auf massiven Widerstand ("Wie, die SPD hat sich geändert? IMMER NOCH DIE GLEICHE VERRÄTERPARTEI!"). Nur bei der CDU sind sich alle einig, von links bis rechts, und das selbst in der Analyse des Zustands. Denn dieser Rutsch nach links (oder, wie Merkel das wohl betrachten würde, zur Mitte) ist ein Problem, weil es Alternativen nimmt, weil es Konsenssoße schafft, weil der Raum rechts von der CDU frei wird. Ich wage eine andere Prognose: als Strategie waren Merkels Kurswechsel alternativlos.

Nicht im Wortsinne, natürlich, aber in dem hat sie das Wort selbst ja auch nie gebraucht. Alternativlos war es insofern, als dass alle Alternativen für die CDU schädlich waren. Schreibtischparteistrategen erklären gerne, dass die CDU hätte deutlicher rechts bleiben müssen, um den Raum dort nicht für die AfD freizugeben. Das ist natürlich eine nette Idee, nur schreien dieselben Schreibtischstrategen entsetzt auf, wenn die SPD auch nur Trippelschritte in diesem Geiste nach links unternimmt. Und da haben sie sogar recht damit, denn der Idee, dass eine Partei einfach nur ein paar fromme Geräusche an ihren jeweiligen radikalen Rand machen kann um diesen zu kooptieren haben die bayrischen und sächsischen Wähler in der Bundestagswahl eine klare Absage erteilt. Sie bleibt auch absurd. Warum eine offensichtlich heuchelnde Kopie wählen, wenn man das Original haben kann? Und offensichtlich heuchelnd müsste es sein, denn sonst würde die Strategie ja gar nicht aufgehen. Die Schreibtischstrategen scheinen immer davon auszugehen, dass die abwandernden Wähler so dämlich sind, dass der billigste rhetorische Trick sie zurück zieht, während man selbst natürlich weiß, wofür die Partei "in Wahrheit" steht, nämlich - stets - für Vernunft und Pragmatismus.

Aber genau das lässt sich nicht vereinen. Man kann nicht gleichzeitig ein Angebot bis tief in die Schichten der gegnerischen Partei machen UND Lagerwahlkampf spielen. Merkel hat das nach der Beinahe-Niederlage von 2005 verstanden; die "asymmetrische Demobilisierung" ist die logische Schlussfolgerung. Natürlich hätte die CDU auch die Partei von 2005 bleiben können, die eine deutlich schärfere Abgrenzung zum Rest der Republik hat. Das hätte der SPD weiterhin einen Lagerwahlkampf erlaubt, den strategischen Koalitionsbruch vielleicht gar, und hätte das linke Lager in Opposition zusammengeschweißt. Stattdessen ließ Merkel ihren Handlanger Müntefering all die dummen Entscheidungen von der Rente mit 67 zur 3%-Mehrwertsteuer-Erhöhung treffen und als SPD-Ergebnis verkaufen, während sie selbst zum ersten Mal über den Dingen schwebte. Es bewährte sich.

Warum aber war diese bekannte Geschichte alternativlos für die CDU? Hätte sie nicht weiterhin mit scharfem rechten und neoliberalen Profil punkten können? Natürlich. Nur übersieht diese Idee eine Kleinigkeit, die Merkel nicht übersehen hat: Mehrheiten werden in der Mitte gewonnen. Und die Mitte in Deutschland hat sich seit den frühen 2000er Jahren stetig nach links bewegt. Ob Atomausstieg oder Mindestlohn, ob Ablehnung von Auslandseinsätzen oder Ja zur Homoehe, in zahlreichen Fragen zogen die bürgerlichen Parteien zunehmend und mit klarer Trendlinie den kürzeren demoskopischen Stecken. Statt sich in die babylonische Gefangenschaft eines einzigen möglichen Bündnispartners - der FDP - zu begeben, öffnete Merkel ihre Partei stattdessen, so dass sie mit FDP, SPD und Grünen Koalitionen schließen könnte.

Ich erinnere mich noch an einen Artikel im Spiegel von 2005, in dem die Analyse lautete, dass diese Position wegen ihrer mittigen Position im Parteienspektrum nun natürlicherweise der SPD zufallen würde. Abwegig war das damals nicht. Ohne Merkels tödliche Umarmung dieser Mitte, in der es sich die SPD damals gemütlich machen wollte, hätte die CDU durchaus als zwar mit Abstand stärkste Partei, aber ohne natürliche Regierungskoalition darstehen können, abgehängt von den Trends der Mehrheitsgesellschaft und verdammt dazu, harte Lagerwahlkämpfe mit identity politics zu führen, um vielleicht über überlegene Wählermobilisierung kleine und kleinste Mehrheiten mit der FDP zusammenzukratzen. Für Merkel war das ein Albtraumszenario, und sie machte aus ihrer persönlichen Not - niemals hätte sie eine solche CDU anführen können - eine Tugend. Der CDU brachte es eine stabile Regierungsmehrheit für 12 und, wie es aussieht, sogar für 16 Jahre.

Der Preis dafür war die Freigabe des rechten Rands, sicherlich. Aber die Entstehung einer radikalen Partei rechts von der CDU war immer und immer wieder prophezeit worden und scheiterte weniger an der Brillanz der CDU, sich als Volkspartei UND Partei am rechten Rand zu etablieren als am krassen Unvermögen der deutschen Rechten. Erinnert sich noch jemand, dass die Republikaner in den 1990er Jahren für eine Legislaturperiode im baden-württemberischen Landtag saßen? Das lag nicht an der übermäßig linken Position der BaWü-CDU. Es ist von daher ein müßiges Gedankenspiel, ob die CDU von 2005 (oder 1998 oder 1990) die AfD auf Dauer aus dem Bundestag gehalten hätte.

Merkels Strategie verschaffte der CDU die drittlängste stabile Regierungsperiode der BRD, und sie schickt sich gerade an, Kohl zum Gleichstand zu zwingen. Ihre Gegner haben auch im vierten Bundestagswahlkampf gegen sie kein Thema, das sie gegen sie in Stellung bringen können. Und die AfD ist für ihre Gegner ein mindestens ebenso großes Problem wie für sie selbst. Es ist schließlich nicht so, als könnte eine Partei außer der CDU oder der FDP mit der AfD koalieren, sollte die Fraktion ihre Neonazis doch noch loswerden und so etwas wie eine regierungsfähige Partei werden.

Merkels CDU ist daher bei weitem nicht so offenkundig schlecht, wie das gerade gerne behauptet wird. Und ich sage das als jemand, der nicht gerade ein Fan ist. Sie hat eine Strategie, und diese Strategie hält sie und ihre Partei an der Macht und gibt ihr die Möglichkeit zu bestimmen, was in Deutschland Politik wird und was nicht. Und wer glaubt, dass das ein reiner Abwehrkampf sei, irrt auch hier. Denn Merkel hat nicht nur viele Positionen der nach links gerückten Mitte adapiert und die CDU damit fit für das 21. Jahrhundert gemacht; sie hat ihrerseits in einer symbiotischen Wirkung viele Elemente zurückfließen lassen, die so selbstverständlich als Konsens gesehen werden (außerhalb der Ränder, versteht sich), dass kaum jemand darüber nachdenkt, dass sie eigentlich aus den Reihen der CDU kommen.

Das ist Erfolg. Man sollte ihn nicht kleinreden.

Sonntag, 26. November 2017

Bürger zweiter Klasse

In einem ziemlich entlarvenden Kommentar in der FAZ schreibt Henrike Rossbach:
Große Koalitionen gelten als verlässlich. Da ist etwas dran. Was sie allerdings ebenfalls sind, ist verlässlich teuer. Das lässt sich am Exemplar der vergangenen Legislaturperiode eindrucksvoll besichtigen. Da bekam die CSU ihre Mütterrente, die seither 7,5 Milliarden Euro im Jahr kostet, die SPD den Mindestlohn und die Rente mit 63, die Bürger hingegen bloß die Rechnung.
Ich will an der Stelle gar nicht die Frage des Pro und Kontra all dieser Maßnahmen debattieren - denn da hat man wahrlich genug Stoff - sondern die zugrundeliegende Weltsicht, die sich hier offenbart. Man lese den Satz noch einmal: Mütterrente, Mindestlohn und Rente mit 63 werden eingeführt, aber "die Bürger" bekommen nur die Rechnung. Was hier implizit mitschwingt ist, dass die Rezipienten dieser Leistungen eben keine Bürger sind, sondern Abhängige, und daher nicht des vollen bürgerlichen Status' würdig.

Für den altbürgerlichen Snobismus der FAZ gehört es offensichtlich zum Bürger-Sein, dass man weder Mindestlohn empfängt noch Sorgen um die Absicherung im Alter machen muss. Es ist die alte Idee vom Wohlstand, der die Unabhängigleit erst gewährt, die einen zum verantwortlichen Mitglied der Gesellschaft macht, also die Idee, dass nur wer etwas besitzt einen echten Anteil an den Entscheidungen des Staatswesens nehmen kann. Mit dieser Argumentation wurde früher das Zensuswahlrecht legitimiert, heute reicht es immerhin für herablassende Kommentare der FAZ.

Das Ärgerliche daran ist, dass genau die Schicht "der Bürger", die hier laut Rossmann "die Rechnung" zahlen müssen, selbst Empfänger zahlreicher staatlicher Transfers sind, die selbst nie als solche anerkennen. Für diese Schicht ist das eigene Einkommen, der eigene Status, grundsätzlich selbst verdient (und häufig genug ganz selbst ererbt), während eine Maßnahme wie der Mindestlohn, der es ermöglicht von einer Vollzeitstelle nicht zu verhungern, als eine frivole soziale Wohltat gilt, die "die Parteien" in einer anrüchigen Art austeilen um sich ein Klientel zu schaffen.

Selbstverständlich ist es keine soziale Wohltat des Staats für diejenigen Arbeitgeber, die bisher sittenwidrige Löhne von der Gesellschaft alimentieren ließen. Oder von einem System, das zwar jedem Gehalt über 450 Euro im Monat Steuern und Sozialabgaben abzieht, aber kein Problem damit hat, Erbschaften steuerfrei zu stellen.

Die blasierte Attitüde der FAZ und Konsorten in dieser Frage ist manchmal nur schwer erträglich. Auch ärmere Menschen sind Bürger, und ihre Anliegen und Wünsche sind im Rahmen des politischen Systems ebenso legitim wie die Kapitalertragssteuer, das praktische Nichtvorhandensein der Erbschaftssteuer und die Bekämpfung der Vermögenssteuer. Ob die Maßnahmen der Großen Koalition immer das Richtige dafür sind ist eine andere Frage. Aber die Idee, dass "die Bürger" die Rechnung für den Mindestlohn zahlen und nichts davon haben zeugt von einem elitären Snobismus aus der Blase der Frankfurter Wolkenkratzer.

Freitag, 24. November 2017

Die FPD auf dem Weg nach Rechts

Mein Kollege Stefan Pietsch hat in seinem jüngsten Beitrag hier seine Version vom Scheitern der Koalitionsgespräche abgegeben, in der der Spin der Freiheitlichen praktisch 1:1 übernommen wurde. Da geht es um Prinzipien, Vertrauen und den dunklen Lord Jürgen Trittin. Ich will hier eine andere Deutung anbieten: die FDP unter Christian Lindner positioniert sich neu, und sie rutscht nach Rechts. Dafür gibt es viele Indizien, und es macht auch eine gehörige Menge Sinn.

In den vergangenen zwei Jahren wurde eine wahre Flutwelle an Druckerschwärze über der Erkenntnis vergossen, dass die CDU unter Merkel nach links gerückt ist und dabei die den rechten Rand freigegeben hat, weswegen sich dort die AfD etablieren konnte, was bislang keiner rechten Partei in der bundesdeutschen Geschichte gelungen ist. Ich denke nicht, dass dies ein Fehler Merkels war, aber das ist das Thema eines eigenen Artikels. Der FDP haben der Wahlkampf und der Wahlausgang 2017 gezeigt, dass hier ein Potenzial der ganz anderen Art entsteht.

Denn die AfD ist zwar der große elektorale Gewinner 2017, zumindest gemessen an den bisherigen Wahlergebnissen. Die Partei ist aber ein Schmuddelkind, zerrissen von internen Querelen und Intrigen, geleitet von abstoßenden Gestalten und mit einem radikalen Rechten Rand, gegen den die Kommunistische Plattform in der LINKEn wie ein netter Debattierklub wirkt. Für die FDP ist das eine riesige Chance, denn sie kann sich mit ein wenig rechtem Populismus der Marke CSU und den Resten der bürgerlichen Respektabilität, die die Partei noch umgeben, in genau diesen Rand zwängen und versuchen, die Protestwähler, die die AfD weniger aus Parteiloyalität denn aus einem allgemeinen Unbehagen mit der Marschrichtung der Bundesrepublik gewählt haben, abzuziehen. Simpel gesagt: Christian Lindner versucht, ein deutscher Sebastian Kurz zu werden.

Bereits während des Wahlkampfs waren dafür Elemente zu erkennen. Der starke Zuschnitt auf die Person Lindners ohne großartige Sachforderungen (abseits der Konzentration auf Digitalisierung und Bildung, die dann in den Sondierungsgesprächen praktisch keine Rolle spielten) sowie die für die FDP eher ungewöhnliche Konzentration auf die Kritik der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung sowie die aggressive Abgrenzung vor allem gegen die Grünen bereiteten hier bereits den Boden.

In den Sondierungsgesprächen für die Koalition zeigte sich denn auch schnell, dass die Maximalforderungen der FDP nicht erreichbar waren. Während die CSU und die Grünen sich erstaunlich gut einigen konnten, gelang dies mit der FDP weniger. Die Sollbruchstellen entsprachen dem Wahlkampf: Familiennachzug für Flüchtlinge und Klimapolitik, gewürzt mit einer scharfen Prise Anti-Europa-Politik. Ein Mix wie gemacht für den AfD-Wähler mit schlechtem Gewissen.

Das ist eine Neuausrichtung für die Partei. Denn als Verhikel für Protestwähler spielen traditionelle Leib- und Magenthemen der Partei wie Steuerreform und Wirtschaftspolitik eine eher geringe Rolle. Stattdessen versucht man sich an dem Ritt auf dem Tiger und betreibt ein bisschen Identitätspolitik Light. Diese Neuausrichtigung ist für diejenigen FDP-Politiker wie Alexander Lambsdorff oder Hermann Otto Solms, die eigentlich liberale Politik in der Regierung gestalten würden, ein Problem und führt zu einem Einflussverlust dieser Gruppen. Nur können sie sich schlecht dagegen wehren - das ist eben immer der Nachteil eines Personenkults, wie ihn die FDP um Christian Lindner aufgebaut hat.

Man muss sich nur einmal das Statement ansehen, das Hans-Ulrich Rülke von der Baden-Württemberg FDP zum Scheitern der Verhandlungen herausgegeben hat: "Die Sondierungsgespräche scheiterten an den eigenen inhaltlichen Widersprüchen der Verhandlungspartner. Es hat sich abgezeichnet, dass sogar die CSU den massenhaften Nachzug von Flüchtlingsfamilien zulassen will. Sogar die CDU möchte zwischenzeitlich einer energiepolitischen Deindustralisierung Deutschlands zustimmen. CDU/CSU und Grüne fanden sich im gemeinsamen Willen, dem Automobil den Garaus zu machen. Eine solche Politik kann die FDP nicht zulassen. Es gilt für uns auch weiter: Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ "Den massenhaften Nachzug von Flüchtlingsfamilien zulassen"? "Energiepolitische Deindustrialisierung"? Der Schritt zur offenen Xenophobie und Klimawandelleugnung ist nicht mehr weit.

Für die FDP macht diese Neuorientierung durchaus Sinn. Sie erlebte schließlich das gleiche Dilemma wie die SPD: eine Koalition in der Mitte mit Merkel führt zu allem, aber nicht zum eigenen elektoralen Erfolg. Da die Partei die Möglichkeit einer Ampel klar ablehnt, bleibt eigentlich nur die Opposition, will sie nicht offen für ein Schwarz-Gelb-Blaues Bündnis werben. Für eine Zukunft ohne Merkel wäre ein solcher Dreibund keine völlig abwegige Möglichkeit. Für den Moment kann sich die FDP in der Zustimmung ihrer Parteigänger suhlen und billige Statements über Prinzipientreue abgeben, ohne diese Prinzipien näher definieren zu müssen. Die echte Arbeit können und müssen derweil andere machen.

Montag, 20. November 2017

In neuen Gewässern

Und da ist es passiert. Noch nie zuvor scheiterte die Regierungsbildung nach einer Bundestagswahl in Deutschland. Als die FDP letzte Nacht einseitig das Ende der Verhandlungen verkündete, bewegte sie gleichzeitig das Staatsschiff in neue, unkartographierte Gewässer. Das Aus der Sondierungen kam überraschend. Grüne und CSU, die eigentlich als die Antipoden der Verhandlungen gewirkt hatten, standen kurz vor der Einigung. Nur noch unbedeutende Unterschiede trennten die Schwarzen von den Grünen. Es war die FDP, die in allen Belangen weitreichendere Positionen vertrat: weniger Klimaschutz, größere Steuerkürzungen, weniger Flüchtlinge. Es war ein Sprung ins Dunkle.

Denn keiner kann ernsthaft glauben prognostizieren zu können, wohin die Reise geht. Neuwahlen sind wahrscheinlich, aber nicht sicher. Merkel könnte eine Minderheitenregierung bilden. Sie könnte zurücktreten und ein anderer CDU-Kanzler könnte eine Minderheitenregierung bilden. Es könnte doch zu einer Großen Koalition kommen. Der Möglichkeiten sind viele.

Und selbst wenn es zu Neuwahlen kommen sollte, ist ihr Ergebnis alles, aber nicht vorhersehbar. Wird die FDP mit dem Onus belastet sein, die Koalitionsgespräche zum Platzen gebracht zu haben, oder einen Bonus für Prinzipientreue erhalten? Wird die SPD ihr Ergebnis verbessern oder angesichts ihrer politischen Impotenz noch einmal unterbieten? Wird die CDU nächstes Mal stärker abschneiden, weil die Wähler in ihrer Stärke einen Stabilitätsgaranten sehen, oder noch schlechter, weil sie versagt hat? Werden die Grünen für ihre Kompromissbereitschaft belohnt oder bestraft? Wird die LINKE gewinnen oder verlieren? Und, natürlich, was ist mit der AfD?

Ein beliebter Kommentar ist gerade, dass Neuwahlen nur der AfD nützen. Das ist natürlich möglich. Aber da besteht kein Automatismus, beileibe nicht. Sollte es Neuwahlen geben, so würden neue Themen die Debatte bestimmen (zumindest Variationen). Die AfD mag davon profitieren, aber sie kann auch Schaden davon tragen. Man muss sich aber klar machen, dass die Partei eine Minderheitenposition in Deutschland vertritt, was über die letzten Wochen einmal mehr klar geworden ist. Es ist nicht völlig unvorstellbar, dass dies auch Wählern klar wurde, die ihr Missfallen im September mit einem Kreuz bei der AfD zum Ausdruck brachten und nun zurückschrecken. Genau so ist es möglich, dass nun um so mehr Menschen angewidert eine "Alternative" zu den Etablierten wollen. Es ist völlig unklar.

Noch ein Wort zur Themensetzung: Der Familiennachzug, der für die FDP zur conditia sine qua non avancierte etwa, wird von einer deutlichen Mehrheit der Wähler begrüßt (übrigens auch innerhalb der FDP). Auch in Fragen des Klimaschutzes bewegt sich die FDP eher gegen den Strom der deutschen Gesellschaft. Natürlich ist das für eine Kleinpartei wie die FDP (oder auch Grüne und AfD) nicht übermäßig relevant; die 28% im Balken links wären für die AfD durchaus ein Gewinn. Aber es ist nicht völlig unvorstellbar, dass ein neuer Wahlkampf mit einer knappen Mehrheit für Schwarz-Grün endet - ein geradezu absurdes Ergebnis angesichts der Vorstellung.

Doch die Bundestagswahl ist auch für den Rest der Welt von Bedeutung. Vorbei die Zeiten, in denen Merkel als "Leader of the Free World" gehypt wurde. Die Zerstörung außenp0litischer Handlungsoptionen dürfte Lindners nachhaltigstes Erbe aus den vergangenen Wochen sein. Man liest bereits öfter den Vergleich mit 2014, als Merkel in der Ukraine-Krise wegen Hollandes innenpolitischer Schwäche effektiv im Alleingang Europas Außenpolitik bestimmen musste. Nun hat sich die Situation gedreht. Kommt es jetzt zu einer Krise, steht Macron alleine im europäischen Haus, während Deutschland Nabelschau betreibt. Es ist in Momenten wie diesen, wo man die still-pragmatische Verantwortungsfähigkeit der SPD-Großkoalitionäre schätzt.

Es dürfte für regelmäßige Leser keine Überraschung sein, dass ich kein Fan der FDP bin. Lindners Neuaufstellung brachte die Partei wieder in den Bundestag, aber wenn man meinem Kollegen Pietsch Glauben schenken darf war 2013 ohnehin ein Betriebsunfall, und die FDP hätte es so oder so wieder hinein geschafft. Die Liberalen sind eine andere Partei als früher, so viel dürfte deutlich geworden sein, und gehören in dieses neue Fahrwasser, in dem wir uns befinden. Wer hätte vor einem halben Jahr gedacht, dass die Regierungsfähigkeit der FDP in Frage steht, während Grüne und Union Hände und Köpfe schütteln? Es scheint, als ob die FDP auch selbst nicht wirklich wüsste, was sie eigentlich genau sein möchte.

Prognosen sind schwer, besonders wenn sie die Zukunft betreffen, wie es ein Bonmot hält. Ich will daher auch keine abgeben. Mich beunruhigt die Lage zutiefst, aber vielleicht haben wir ja Glück, und am Ende kommt eine stabile, neue Regierung heraus - mit oder ohne Merkel, mit oder ohne FDP, mit stärkerer oder schwächerer Opposition. Die Zeiten sind interessant, und das geht selten mit einem gesteigerten Gefühl von Sicherheit daher. Mangels Alternativen erhalte ich mir einfach optimistisch die Hoffnung, dass sich alles zum Guten wenden wird.

Dienstag, 14. November 2017

Hyper-Parteilichkeit und Skandale

In den letzten Jahren sind einige heißgeliebte demokratische Lebenslügen zerbrochen. Unter anderem war man lange der Ansicht, dass Skandale für Politiker schädlich, vielleicht sogar karriereendend sind und dass oftmals ein Rücktritt und einige Jahre politisches Exil das einzige Heilmittel sind. Der Aufstieg der Rechtspopulisten weltweit zeigt, wie wenig das tatsächlich gilt. Donald Trump formulierte dies im Wahlkampf 2016 in typischer Direktheit: "Ich könnte mitten auf der Straße stehen, jemanden erschießen und es würde mich keine Wählerstimmen kosten." Seinerzeit lachten viele die Prahlerei noch weg. Inzwischen kann daran eigentlich kein Zweifel mehr bestehen.

Die dahinterstehende Mechanik wird von Politikwissenschaftlern seit längerem mit sorgenfurchter Braue untersucht. Es handelt sich um eine Steigerungsform der schon seit längerem untersuchten Polarisierung westlicher Demokratien (die zugegeben in Deutschland verspätet und mit harmloserem Ausmaß eintraf), die wenigstens im amerikanischen Sprachraum als hyper-partisanship bezeichnet wird, etwa: Hyperparteilichkeit.

Die Idee ist, dass die Loyalität zu einer Partei oder Gruppe alle anderen Themen überragt. Prinzipien, spezifische Politiken (policies), vorherige Aussagen, selbst wirtschaftliche Konsequenzen. Politikwissenschaftler fanden dabei auch verstörenderweise heraus, dass die Meinungsführerschaft von Politikern und anderen prominenten Figuren oder Institutionen auf die eigene peer-group deutlich stärker ist als bisher angenommen. Auf Deutsch: Anhänger einer Partei übernehmen die Meinung der Partei, nicht umgekehrt. In vergleichsweise fluiden parlamentarischen Systemen wie Deutschland ist dieser Prozess dabei nicht so fortgeschritten wie in konfrontativeren Zwei-Parteien-Systemen wie in Großbritannien oder den USA (und, bei den Präsidentschaftswahlen, Frankreich).

Das erklärt auch, wie eine Parteianhängerschaft, die die Bedeutung von religiöser Frömmigkeit als conditia sine qua non behandelte plötzlich einen rassistischen Serienehebrecher und Atheisten zu ihrem Bannerträger machte: er war der neue Teamchef, also fanden die Mitglieder des Teams Gründe, mit denen sie ihre Anhängerschaft weiter legitimieren konnten.

Dieser Prozess findet selbstverständlich auch auf der Linken statt, ist dort aber (aktuell) nicht so prononciert wie auf der Rechten, weil innerhalb der westlichen Linken die Gemäßigten immer noch tonangebend sind. Es darf aber vermutet werden, dass Anhänger der Democrats, die 2016 noch die Ansicht ihrer Bannerträgerin Clinton teilten, dass Medicare für All keine gute Idee sei, problemlos einem hypothetischen Bannerträger Bernie Sanders unter dem vorher abgelehnten Schlachtruf folgen würden.

Auf der Rechten ist der Prozess aber wegen der ungleich stärkeren Radikalisierung (auch die Linke bewegt sich aus der Mitte weg, nur langsamer) wesentlich auffälliger. Innerhalb weniger Jahre, teilweise sogar nur Monate, wurden Figuren wie Nigel Farage, Marine Le Pen, Victor Orban, Donald Trump und andere zu einflussreichen oder sogar führenden Figuren der jeweiligen Rechten.

Besonders prägnant kann dies am Beispiel von Roy Moore beobachtet werden, dem Senatskandidaten für Alabama. Moore, der eine lange Geschichte von Rechtsstaatsverstößen hat und bereits zweimal per Gerichtsbeschluss aus dem Amt befördert wurde (unter anderem aus dem Verfassungsgericht Alabama!), weil er gegen Recht und Gesetz verstieß. Angesichts der Hyperparteilichkeit drohte ihm aus dieser Richtung keine Gefahr - er gewann die Vorwahlen. Nun kam allerdings ans Licht, dass Moore eine ganze Reihe von Sexualstraften gegen Minderjährige auf dem Kerbholz hat, die mittlerweile leider verjährt sind.

Nach den oben angesprochenen Lebenslügen der Demokratie müsste man nun annehmen, dass sich die Wähler in Scharen von Moore abwenden und ihn zum Rücktritt oder einer krachenden Wahlniederlage zwingen würden. Und Wähler wenden sich auch von ihm ab: in aktuellen Umfragen gaben rund 38% an, ihn "weniger wahrscheinlich" wählen zu wollen (was noch nicht heißt, dass sie ihn am Ende nicht mit Bauchschmerzen doch wählen werden), aber 28% gaben an, ihn aufgrund der Vorwürfe "mit höherer Wahrscheinlichkeit" wählen zu wollen! Und das ist, gelinde ausgedrückt, irre.

Man muss sich das vorstellen: ein Kandidat, der von (mittlerweile) fünf Frauen pädophiler sexueller Akte angeklagt wird, wird von einem starken Viertel seiner Wähler nun mehr geliebt als vorher. Das ist nicht das Viertel, das für die Legalisierung der Pädophilie ist. Dieses Viertel ist in den Strudel der Hyperparteilichkeit geraten. Die Anschuldigungen, die selbst die moralisch äußerst flexiblen Republicans im Konress zu entschiedenen Rücktrittsaufforderungen bewegten, werden mit zahlreichen mentalen Tricks für irrelevant erklärt. Da steht Ann Coulter hin und erklären, dass John F. Kennedy ja auch eine Affäre mit einer 19jährigen hatte. Da stehen Evangelikale und erklären, dass Maria ja auch ein Teenager war, als Joseph sie geheiratet hat, und die haben immerhin den Heiland bekommen - eine Aussage, die auf so vielen Ebenen falsch ist, dass man gar nicht weiß wo anfangen. Da stehen republikanische Abgeordnete da und erklären allen Ernstes, dass die Washington Post in einer gigantischen Verschwörung alles erfunden hat. Und so weiter.

Diese Hyperparteilichkeit ist in höchstem Ausmaß schädlich für die Integrität der Demokratie, weil auf diese Art und Weise weder verbrecherisches noch offensichtlich inkompetentes Personal ausgesiebt werden kann. In Deutschland ist dieses Phänomen bisher auf die AfD beschränkt; man erinnere sich, wie anders die SPD vor Kurzem mit Edathy umging. Die Hyperparteilichkeit in diesem Ausmaß ist in den USA aktuell aber auch ein rein republikanisches Phänomen. Das liegt weniger daran, dass die Democrats einfach viel bessere Menschen sind als die Republicans. Ich bin ziemlich sicher, dass sie überwiegend den gleichen Anreizen anheim fallen würden, wenn sie sich acht Jahre lang unter Trump radikalisierten wie ihr Gegenpart unter Obama.

Aber: die Democrats stellen solche Kandidaten nicht auf. Barack Obama führte acht Jahre lang eine von persönlichen Skandalen fast völlig freie Präsidentschaft. Hillary Clintons schlimmste Fehlverhalten betrafen Verstöße gegen Regularien, nicht Sexualstraftaten. Und so weiter. Zumindest aktuell gibt es für Democrats keinen Grund, der Hyperparteilichkeit anheim zu fallen, weil ihre Kandidaten besser sind. In dem Moment, in dem das nicht mehr zutrifft und beide Parteien demselben zerstörerischen Impuls folgen, ist die Demokratie in tödlicher Gefahr. Es steht zu hoffen, dass die Republicans vorher vor dem Abgrund zurückzucken und die Democrats der Versuchung weiter widerstehen werden.

Mittwoch, 8. November 2017

Die Schwerkraft hat sie wieder

Die gestrigen Wahlen in New Jersey, Virginia, New York, Maine und Washington State dürften in den Hauptquartieren der Democrats für einige Beruhigung gesorgt haben. Erwartungsgemäß siegte die Partei des blauen Esels in allen Wahlen, aber das Ausmaß ihres Sieges (und das Ergebnis in Virginia selbst) waren am Ende doch wesentlich deutlicher als erwartet. Daraus lassen sich einige Schlüsse im Hinblick auf die Midterm Elections 2018 ziehen, bei denen die Republicans unter Umständen (sehr, sehr günstigen Umständen) die Mehrheit im Repräsentantenhaus verlieren könnten.

Am wenigsten überraschend war der Ausgang der Wahl in New Jersey. Der bisherige Gouverneur Chris Christie hatte historische Beliebtheitswerte (15% Zustimmung), so dass die Frage eigentlich nur war, wie hoch der demokratische Herausforderer Phil Murphy siegen würde. Er siegte denn auch überzeugend. Wesentlich spannender ist, dass die Democrats auch in den Wahlen für das Staatenhaus einige Sitze gewannen, die normalerweise stabil republikanisch sein sollten.

Dieses Muster setzte sich in New York fort, wo die Republicans einige Sitze in den reichen Vorstädten verloren, die für die Democrats eigentlich komplett außer Reichweite sein sollten. Wenn sich daraus ein Trend ableitet, hat die GOP 2018 ernsthafte Probleme. Ob das der Fall ist, ist aus New York heraus schwer zu beurteilen - findet doch im ganzen Land eine parteitaktische Konsolidierung durch die erhöhte Polarisierung statt, die dafür sorgt, dass blaue und rote Staaten noch blauer oder noch roter werden.

In diesen unzweifelhaften Trend fällt denn auch das Wahlergebnis in Washington, wo die Democrats nun sämtliche Kammern des Staatenhauses und den Gouvernersposten kontrollieren. Die Republicans haben damit an der Westküste die Kontrolle vollständig an die Democrats verloren und spielen effektiv keine Rolle mehr, so wenig wie die Democrats ihrerseits das in republikanischen Hochburgen in den Südstaaten tun.

Maine dagegen ist ein interessanterer Fall. Der Staat hat einen Hang dazu, politische Außenseiter zu wählen und sich nicht klar in das rot-blaue Schema einzupassen. Der dortige Gouverneur, LePage, ist eine Art Proto-Trump; er nutzte dessen Strategien bereits, als die Kandidatur des Orangenen noch eine persiflierte Lachnummer war. LePage selbst stand zwar nicht zur Wahl, aber die Mainer (Manianer? Mainesen?) stimmten in einem Plebiszit über die Medicare expansion ab, einen wichtigen Baustein Obamacares, die LePage wie viele seiner Kollegen im tiefen Süden bisher ablehnte. Mit einer deutlichen 2:1-Überlegenheit stimmten die Mainer für die Einführung.

Sie nannten die Krankenversicherung auch als wahlentscheidendes Thema, ein Trend, der sich ebenfalls durch alle Wahlstaaten dieser Woche hindurchzieht. Die Democrats haben damit ein ziemlich klares Wahlkampfthema an der Hand; ihre Aufgabe ist es nun, sich für eine Position zu entscheiden: Festigung und Ausbau von Obamacare oder Einführung einer allgemeinen Pflichtversicherung (Single-Payer)? Letzteres scheint wenigstens sehr gefährlich zu sein; nicht einmal 50% der Amerikaner heißen die Idee aktuell gut.

Damit bleibt Virginia. Die Wahl hier war die bedeutendste, denn der Staat tendiert seit einigen Jahren (Obama gewann ihn 2008 und 2012, Clinton 2016) zu den Democrats, nachdem er jahrzehntelang eine Hochburg der Republicans gewesen war. Da der Staat nur eine Legislatur für seine Gouverneure erlaubt, steht niemals der Amtsinhaber zur Wahl, und die Wahl ist entsprechend immer hart umkämpft. In Virginia spielte sich im letzten Jahr die amerikanische Politik in einer Art Mikrokosmos ab: in den primaries der Democrats stetzte sich der Kandidat des Establishments, Ralph Northam, gegen den Progressiven Tom Pereillo durch, während bei den Republicans der Kandidat des Establishments, Ed Gillespie, mit kaum einem Prozent Vorsprung vor dem Trumpisten Corey Stewart gewann.

Den Großteil des Wahlkampfs lag der kompetente, aber blasse Northam deutlich vor seinem Herausforderer. Gillespie adaptierte daraufhin Trumps Taktiken und führte einen schamlos rassistischen, hetzerischen Wahlkampf, der ihn in den Umfragen so dicht an Northam heranfürte, dass es möglich schien, dass Gillespie den Kampf wider Erwarten (und wider die schlechten Beliebtheitswerte von Trump und der GOP) für sich entscheiden würde. Doch tatsächlich scheint es, als ob der ekelhafte Rassismus wie von einigen Beobachtern prophezeit für eine Gegenreaktion gesorgt hat. Mit fast zweistelligem Vorsprung siegte Northam vor Gillespie, und das eigentlich für die Republicans sicher gerrymanderte Staatenhaus ist ebenfalls in Gefahr (aktuell ist die Auszählung noch nicht komplett).

Die Lehre, die sich daraus ziehen lässt, ist simpel: die politischen Schwerkraftgesetze gelten weiterhin. Eine unbeliebte Partei mit einem unbeliebten Präsidenten verliert Wahlen. Das gilt für Obama 2010 und 2014 genauso wie für Trump 2017 (und, hoffentlich, 2018). Zudem können die Democrats sowohl mit einem klaren Bekenntnis zu progressiver Politik (Northam unterstützte den 15$-Mindestlohn ebenso wie Black Lives Matter) und einem zwar blassen, aber kompetenten Kandidaten punkten. Es gibt keine besondere Magie Trumps, die diese Gesetze plötzlich außer Kraft setzen würde.

Mittwoch, 1. November 2017

Toxische Maskulinität - Eine Begriffsklärung

Ein Begriff, der hier im Blog in letzter Zeit sehr für Verwirrung gesorgt hat, ist der der „toxischen Maskulinität“. Es wurde fälschlich angenommen, es gehe um eine pauschale Verurteilung aller Männer sowohl als biologisches als auch als soziales Geschlecht, gewissermaßen eine Einreihung ins Glied einiger Radikalfeministinnen vom Schlage Valerie Solanas‘, eine virtuelle Kriegserklärung an den Mann als Wesen. Nichts könnte falscher sein. Worum es stattdessen geht ist die Verurteilung einiger Verhaltensmerkmale, die männlich konnotiert sind (und auch überwiegend, wenngleich nicht ausschließlich, bei Männern vorkommen). Das ist ein zentraler Unterschied. Beides soll im folgenden Artikel untersucht werden.

Zuerst möchte ich noch einmal deutlich sagen, um was es hier nicht gehen soll. Ich propagiere keine Theorien, nach denen Männer inhärent gewalttätiger, schlechter oder bösartiger wären als Frauen. Ich sage auch nicht, dass Frauen in irgendeiner Art und Weise bessere Menschen wären. In unseren Genen ist nichts, das eine dieser beiden Ideen stützen würde (und entsprechende Merkmalszuweisungen für Östrogen und Testosteron sind Pseudowissenschaft). Das bedeutet auch, dass es negative, weibliche Verhaltensweisen, Straftaten und Fehlverhalten gibt; das soll in diesem Artikel aber nur am Rande Thema sein. Generell gilt: Verhalten wird gelernt. Es ist nicht biologisches Schicksal, weder bei Frauen noch bei Männern. Ich weiß, dass das alles andere als unumstritten ist, aber es ist eine grundlegende Prämisse für meine Argumentation. Ich bitte, dies beim Kommentieren zu bedenken.

„Toxische Maskulinität“ als Begriff beschreibt daher nur die Teile männlichen Verhaltens und Wirkens, die antrainiert sind. Das betrifft unter anderem:
  • Die Vorstellungen von Romantik und richtigem Balzverhalten
  • Unterwerfung von Frauen unter ein männlich definiertes Normensystem
  • Zuschreibungen von Charaktereigenschaften
  • Fetischisierung von Gewalt
  • Ablehnen von Emotionen
  • Objektifizierung
  • Zuweisung von gesellschaftlichen Rollen
Ich möchte diese Punkte im Folgenden etwas näher beleuchten. Literatur und Film waren schon immer Spiegel der jeweiligen gesellschaftlichen Normen und Ideale. So sehen wir in den James-Bond-Filmen der 1960er Jahre Bond ganz natürlich eine Frau mit einem Klaps auf den Hintern wegschicken, wenn die Männer etwas Wichtiges zu besprechen haben, nur um dann später gegen ihre Wünsche in ihr Schlafzimmer einzudringen und ihr einen Kuss aufzudrängen. Die Hollywood-Metaphorik kleidete solche Vorgänge noch bis zur letzten Dekade in eine Sprache der Romantik: wenn Frauen in Filmen und Büchern "nein" sagen, meinen sie eigentlich immer "ja" - oder werden durch den rauen Charme des Helden schlichtweg bekehrt.

Natürlich ist das an und für sich erst einmal unproblematisch. Männliche Initiative gehört mindestens seit den Minnesängern zum absoluten Archetypus romantischen Verhaltens von Männern, ja, in gängigen Männlichkeitsvorstellungen ist etwas anderes als männliche Initiative ohnehin kaum vorstellbar. Das ist konservativ, aber nicht toxisch. Das Problem ist, dass es völlig unmöglich ist abzuschätzen, ob das "Nein" einer Frau ernst gemeint ist oder nicht. In Film und Literatur verfällt die Frau dem Drängen des Mannes, weil sie (törichtes Ding!) ohnehin nicht wirklich weiß was sie will oder nur scheu spielt. Diese Art des Balzverhaltens funktioniert und führt zu einer einvernehmlichen Beziehung.

In der Realität aber fehlt das Anschwellen romantischer Musik im Hintergrund, das durch das Drehbuch vorgegeben wird. Stattdessen haben wir es hier oft genug mit sexueller Belästigung oder Nötigung zu tun. Die Grenzen sind gezwungenermaßen fließend, denn oft genug hat das Drängen Erfolg, führt die stressige Situation zu einem Nachgeben, das später bereut wird. Besonders problematisch wird dieses dominierende Balzverhalten, wenn ein Machtgefälle hinzukommt, weil der Mann eine Position der Macht und Autorität ausübt - wie es von Harvey Weinstein zu Donald Trump, von Roger Aisles zu Bill O'Reilly, von Mark Halperin zu Kevin Spacey, von Bill Clinton zu Anthony Weiner¹ der Fall war.

Ich gehe auf diese literarische Unterfütterung deswegen so stark ein, weil sie eine ungeheure Legitimierungsfunktion ausübt. Die Wirkung von popkulturellen Vorbildunktionen gehört zu den meistunterschätzten Mechanismen der psychologischen Bewusstseinsbildung. Natürlich aber spielen auch andere Elemente eine Rolle, die deutlich tiefere Wurzeln haben.

Ein weiteres Puzzlestück zur toxischen Maskulinität ist die Unterwerfung von Frauen unter ein männliches Normen- und Wertesystem. Konkret betrifft dies die Sexualmoral. Es ist keine atemberaubend innovative Erkenntnis, dass Männer ermuntert werden, viele verschiedene Sexualpartnerinnen zu haben (dies gilt als Ausweis viriler Kraft), während das umgekehrte Verhalten für Frauen grundsätzlich verdammt wird (die sind dann Schlampen oder Huren). Dass dieser Mechanismus ein Paradox ist (Männer können nur verschiedene Partnerinnen haben, wenn Frauen verschiedene Partner haben) und durch eine jahrhundertelange Tradition bedingt ist, die die unbedingte Zweifelsfreiheit der Vaterschaft von Kindern zur Grundlage des Erb- und Herrschaftsrechts machte ist so richtig wie bedeutungslos. Auch hier gilt: konservativ und beklagenswert, aber nicht toxisch.

Toxisch wird diese Verbindung dann, wenn Männer die oben angesprochenen Balzrituale verüben und sie durch dieses Normensystem legitimieren. Konkret: sie ist ohnehin eine Schlampe/Hure, jeder weiß es. Sie hat ihren Status als "ehrbare Frau" und damit ihr Selbstbestimmungsrecht beziehungsweise ihr Schutzrecht verloren.

Diese Unterscheidung ist ebenfalls noch einmal relevant. Nicht erst im Rahmen der sexuellen Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof wurde deutlich, dass besonders in mittelöstlichen Kulturen eine Frau als Freiwild und minderes Wesen gilt, die dem männlichen Kulturkodex nicht gehorcht. In diesen Kulturen haben Frauen häufig generell keine sexuelle Selbstbestimmung; eine "ehrbare" Frau genießt allerdings männlichen Schutz (durch Verwandte und/oder Ehemann), deren gewalttätiges Racheversprechen zumindest in der Theorie Täter abschreckt. Frauen, die nicht "ehrbar" sind, genießen diesen Schutz nicht und stehen daher dem sexuellen Gebrauch zur Verfügung.

Bevor man nun zu sehr in eine sarrazinische Hasstirade gegenüber "den Muslimen" abrutscht sollte man sich ins Gedächtnis rufen, dass dieses Denkschema auch im liberalen Westen noch immer tief verwurzelt ist, wenngleich in einer abgeschwächten Variante. Die Vorstellung aber, dass das Opfer sexueller Gewalt zumindest ein bisschen selbst mit Schuld an dem Verbrechen ist, sitzt tief und ist auch in den Fällen Weinstein, Trump, Aisles, Halperin und O'Reilly et al zu beobachten.

Dieses victim blaming verbindet sich mit der Missachtung der sexuellen Selbstbestimmung von Frauen zu einem Gemisch toxischer Maskulinität. Was Kritiker dieser Zuschreibung dabei immer verwirrt ist, dass dieses Verhalten auch von Frauen ausgeübt oder wenigstens unterstützt wird (niemand schlägt andere Frauen, wenn es an's slut shaming geht). Da dieses Verhalten jedoch auf einem (wenngleich internalisierten) männlichen Normensystem beruht, gehört es mit ins System toxischer Maskulinität.

Dazu gehört auch die systemische Missachtung weiblicher Selbstbestimmung in Bezug auf den eigenen Körper. In großen Teilen der Gesellschaft gilt es nicht einmal als Kavalierdelikt, Frauen ohne deren Einwilligung zu berühren, etwa am Po. Sich als fortschrittlich wähnende Zeitgenossen beschränken diese Art der sexuellen Belästigung ohne jedes Schuld- oder Unrechtsgefühl auf alkoholgeschwängerte Bereiche wie Kneipen, wo dann das weibliche Bedienungspersonal oder sich durch die Reihen quetschende Frauen als zur Verfügung stehende Sexspielzeuge zählen. Vor dem Hintergrund dieser systemischen Belästigung und ihrer Relativierung durch Männer klingt dann auch die Empörung über Ereignisse wie am Kölner Hauptbahnhof hohl.

Ebenfalls in diesen Kontext gehört die Nutzung von Possessivpronomen in Bezug auf Frauen, wie es etwa die AfD im Wahlkampf tat. "Unsere Frauen haben Angst", "Mehr Sicherheit für unsere Frauen und Töchter", etc. Hieraus spricht die überaus problematische Vorstellung, Frauen seien passive Wesen, die des aktiv zupackenden (gerne Gewalt nutzenden) Mannes bedürfen. Nicht umsonst geht das mit einer Verherrlichung der Staatsgewalt einher. Frauen werden hierbei auch in einem westlich-liberalen Kontext der Schirmherrschaft des Mannes unterstellt (das unausgesprochene "wir" der Slogans). Wie viele Schlägereien haben bereits damit begonnen, dass jemand glaubte, jemand habe "seiner" Freundin einen Blick zugeworfen? Ich erinnere mich noch an Geschichten aus dem Lustigen Taschenbuch meiner Kindheit, wo es ein lustiges Missverständnis war, dass Donald von einem grobschlächtigen Mann (mit dessen Männlichkeit er sich als ewiger Loser ohnehin nicht messen konnte) verprügelt wurde, weil der glaubte, der Erpel habe schief zu seiner Freundin hinüber gesehen. Es handelt sich wahrlich nicht nur um ein muslimisches Element, auch wenn es dort in einer noch viel prononcierteren Form vorkommt.

Das Resultat dieser von Dominanz und Gewalt getränkten Sexualität ist dann das hier: Verstärkt werden diese Effekte durch die Zuschreibung von Charaktereigenschaften als entweder "männlich" oder "weiblich". Als männlich werden dabei gerne Charaktereigenschaften wie stark, entschlossen oder hart, als weiblich solche wie fürsorglich, einfühlsam oder selbstlos beschrieben. Dies führt zu zwei Effekten. Zum einen drückt es beide Geschlechter in eine Erwartungshaltung, was "natürliches" Verhalten ist, die unter Umständen nichts mit den eigentlichen Vorlieben der Person zu tun hat. Und zum anderen sorgt es dafür, dass Zuschreibungen des jeweils anderen Geschlechts als Kritik oder Schmähung gelten ("weibisches Verhalten", "sei ein Mann", etc.). Es gibt im Übrigen eine Wagenladung voll Studien zu diesem Thema ("implizites Vorurteil", implicit bias), und was hier gesagt wird gilt für andere Felder wie Rassismus ebenfalls.

Verwandt mit diesem Problemkomplex sexueller Gewalt und Attributierung ist eine weitere Facette von toxischer Maskulinität, nämlich die Fetischisierung - und damit Legitimation - von Gewalt. Für Männlichkeit ist Gewalt (oder ihre Androhung) häufig das erste und einzige Mittel der Konfliktlösung, gerade im Konflikt mit anderen Männern. Die Kneipenschlägerei etwa ist ein bis zur Karikatur durchgekautes Beispiel dieses Phänomens. Das soll im Übrigen kein Plädoyer für typisch weiblich konnotierte Problemlösungvarianten wie den Cat Fight, Intrigen, sozialen Ostrakismus oder üble Nachrede sein. Diese sind ebenso hochproblematisch und ablehnenswert, stellen aber nicht den Gegenstand dieses Artikels dar.

Auch hier sind Literatur, Film und Videospiel Vorreiter, indem sie Männern als Konfliktlösungsmechanismus beständig gewalttätige Lösungen anbieten und diese in positivem Kontext darstellen. Wie oft sieht man in solchen Geschichten den markigen Helden mit seiner geradlinig-gewalttätigen Art über die soften, verweichlichten Drahtzieher in den Hinterzimmern der Macht triumphieren (die oft genug als Pussys bezeichnet werden, denn nichts drückt Schwäche so sehr aus wie weibliche Attribute).

Der (gerechte) Zorn und seine Entladung in Gewalt ist denn auch die einzige Emotion, die Männern voll auszuleben zugestanden wird. Schon in der Ilias darf Achilles weinen, wenn Agamemnon ihm die Lieblingssexsklavin wegnimmt und sich danach blutrünstig rächen. Aus minderem Anlass Emotionen zu zeigen oder gar auf das Ritual antiker Schwanzvergleiche zu verzichten, kommt keinem Protagonisten in den Sinn. Genausowenig kann Menelaos akzeptieren, dass "seine" Frau einen anderen liebt; lieber zerrt er die gesamte ionische Welt in einen zehnjährigen Krieg, was von allen Seiten als völlig rationale Reaktion betrachtet wird. -

Die Verneinung von Emotionen ist aber auch jenseits antiker Dramen von großer Bedeutung. Sie erlaubt es nicht, innere Konflikte auf eine gesunde Art auszuleben, und sie gibt Männern keinerlei Instrumente an die Hand, sich gegenseitig zu helfen. Während die Traube von Freundinnen, die bei echten oder eingebildeten Schicksalsschlägen mit Rat, Tat und Trip in Kaufhaus und Café zur Seite steht ein lang etabliertes Klischee für weibliche Problembewältigung darstellt, versagt das männliche Ideal, wenn das Bier in der Kneipe und der aufmunternde Schulterklaps nicht helfen. Vom Mann wird erwartet, dass er sich seinen Problemen "mannhaft" stellt und sie im Zweifel schluckt. Dass das nicht die psychologisch gesündeste Lösung sein kann, liegt auf der Hand.

Ein weiterer für viele verwirrender Aspekt der aktuellen Debatte um toxische Maskulinität ist, dass "man nicht einmal mehr ein Kompliment machen darf". In den Strudel dieser Problematik sind schon so unterschiedliche Leute wie Rainer Brüderle ("Sie können ein Dirndl auch ausfüllen") und Barack Obama ("the best looking attorney general") geraten. Wo genau liegt das Problem, wenn man hübsche Frauen komplimentiert?

Es ist zweifacher Natur. Die erste Dimension ist eine Frage des Anstands. Wenn das erste Kompliment, das einem einfällt, ist, die körperliche Attraktivität hervorzuheben, sollte man vielleicht am besten ganz die Klappe halten. Die Objektifizierung von Frauen als Sexualobjekte ist auch ohne wohlmeinend komplimentierende "Gentlemen" problematisch genug. Niemand würde auf die Idee kommen, dies bei Männern oder bei Frauen fortgeschrittenen Alters zu tun; es würde zurecht als äußerst merkwürdig wahrgenommen werden. Das ist der Grund, warum ich auch im privaten Rahmen auf diese Art von "Komplimenten" verzichte, aber das ist natürlich Privatsache und kann von anderen Leuten mit anderen Maßstäben anders beurteilt werden.

Die andere Dimension dieser Debatte ist, dass die auffälligen und stark kritisierten Komplimente dieser Art - etwa von Brüderle oder Obama - in einem professionellen Umfeld stattfinden. Und wo es im privaten Bereich vielleicht noch reine Geschmacksfrage ist, verbittet sich das in einem professionellen Umfeld vollständig. Wer sein Gegenüber hier loben will, kann dies mit Attributen tun, die hier auch hin gehören. Man muss Obama zugute halten, dass er vor seinem missratenen "Kompliment" wenigstens jobrelevante Aspekte von Frau Harris lobte. Aber durch seinen Fauxpas am Ende zählt das alles letztlich nichts.

Gerne werden diese so etablierten Aspekte dann genutzt, um gesellschaftliche Rollenzuschreibungen zu verewigen. Ist erst einmal etabliert, dass Frauen fürsorglich und einfühlsam sind, ist es nur natürlich, ihnen die Erziehung von Kindern und die Pflege von Alten und Kranken zuzuweisen - Aufgaben, die allumfassend und zeitverschlingend sind. Definiert man dann alle anderen Konflikte so, dass es sich um Konflikte handelt, die eine gewalttätige oder harte Lösung erfordern, so übernehmen zwangsläufig Männer diese Rolle. Auf diese Art findet sich das Patriarchat "natürlich" ein, und Männer an der Spitze der Nahrungskette übernehmen die Macht, während alle anderen sich unter ihnen einordnen.

An dieser Stelle lohnt es sich, kurz innezuhalten und zwei grundlegende Sachverhalte festzustellen. Erstens ist toxische Maskulinität wie eingangs dargestellt nichts, was Männern inhärent innewohnt. Es handelt sich um Verhaltensweisen, die durch kulturelle Osmose angeeignet wurden und die man genausogut wieder abtrainieren kann. Toxische Maskulinität ist daher all das, was schlecht ist an männlichen Konnotationen, männlichen Rollenzuschreibungen, männlichen Verhaltensmustern. Sie ist nicht gleichbedeutend mit Männlichkeit an sich.

Auf der anderen Seite muss festgestellt werden, dass das Patriarchat allen schadet - Männern wie Frauen. Männer sind nicht die "klaren Gewinner" toxischer Maskulinität und patriarchalischer Strukturen, sondern tragen ebenfalls bleibende Schäden davon. Sie sind die überwiegenden Opfer männlicher Gewalt. Sie müssen mit gesellschaftlicher Ausgrenzung rechnen, wenn sie ihre "weiblich" konnotierte Seite - die emotionalen Seite - ausleben. Auf ihnen lasten überzogene und widersprüchliche Anforderungen. Sie sterben in Konflikten, weil diesen Konflikten aus dem Weg zu gehen ihnen als Schwäche ausgelegt worden wäre. Sie werden von anderen Männern in ihrer Entfaltung gehemmt, weil es im Wesen der Dominanz liegt, stets nur von einigen wenigen ausgeübt werden zu können und der Dominierten zur Statussicherung zu bedürfen.

Der gesellschaftliche Wandel der letzten Jahrzehnte hat diese traditionelle Auslebung von Männlichkeit immer mehr obsolet gemacht. Die sexuelle Revolution und der Feminismus geben Frauen eine nie dagewesene Selbstbestimmung. Die Arbeitswelt erfordert immer weniger die traditionell männlichen Eigenschaften. Der Doppelverdienerhaushalt wird die Regel. Gewaltausübung wird geächtet. Doch so schnell lässt sich ein so tief verankertes System nicht aus den Angeln heben. Die notwendige Folge ist ein backlash, eine Gegenreaktion. Diese Krise der männlichen Handlungsfähigkeit (crisis of male agency) und die Reaktion darauf werden Gegenstand eines weiteren Artikels sein.

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¹ Trump wurde von einer ganzen Reihe Frauen der sexuellen Belästigung und Nötigung bezichtigt und hat sich auch privat (und auf Tape) dazu bekannt; Harvey Weinstein unterliegt im Endeffekt denselben Anschuldigungen. Aisles und O'Reilly waren beides wichtige Figuren beim rechtsextremen US-Sender FOX News, die von mehreren untergebenen Frauen der sexuellen Nötigung angeklagt wurden und deswegen den Sender verlassen mussten. Gleiches gilt für Mark Halperin, der beim Sender NBC arbeitete. Kevin Spacey wurde von einem Schauspielkollegen vorgeworfen, ihn als er 14 Jahre alt war (Spacey war 26) sexuell genötigt zu haben. Bill Clinton nutzte mindestens seine Autoritätsposition gegenüber Monica Lewinsky aus, gegen ihn werden auch von anderen Frauen Nötigungs- und Vergewaltigungsvorwürfe erhoben. Anthony Weiner schickte Bilder seines Penis' an Minderjährige und bedrängte sie, sich mit ihm zu treffen.