Donnerstag, 20. Dezember 2018

Corbyn denkt mit Beto über den grünen Brexit, bigotte BILD-Schlagzeilen und Kindergeld-Abtreibung nach - Vermischtes 20.12.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Raus aus meinem Uterus. Der § 219a und seine Freunde.
Wer ernsthaft einen moralinsauren Stein auf eine Frau wirft, die eine Schwangerschaft beendet hat oder beenden will, sitzt so dermaßen exponiert in einem Glashaus, dass ich da gar nicht reinschauen möchte. Hier wird schonungs- und ahnungslos am letzten Glied einer langen Kette herummoralisiert, über Verhütung gelehrmeistert und über Verantwortung gefaselt, die „solche Frauen“ gefälligst zu tragen hätten, dass sich mich frage, wie es gleichzeitig sein kann, dass Kinderarmut seit Jahren zunimmt. Zudem wird Unterhaltsprellerei von ganzen Internetseiten rauf und runter gerechtfertigt und vom Gesetzgeber nicht mal im Ansatz so entschieden verfolgt, wie es die Hitzigkeit der Diskussionen um „Werbeverbote für Abtreibungen“ eigentlich konsequenterweise vermuten lassen müssten. Wenn ich das richtig verstanden habe, sind es Frauen und ihr Uterus, die „das Leben schützen“ und ermöglichen? Wieso zum Teufel können Frauen denn dann eigentlich nicht schon immer völlig von Kinderwunsch oder Kindern unbehelligt durch eine eigene sichere finanzielle Existenz gehen und allein aufgrund ihrer beruflichen Kompetenzen jede Stelle der Welt bekommen? Warum endet ein Leben mit Kinderaufzucht des schützenswerten Lebens ganz sicher in bitterlicher Armut, wenn man nicht in einem Umfang berufstätig ist, als hätte man sich gegen dieses Kind entschieden? [...] Man stelle sich mal ein staatliches Programm vor, das an die verpflichtende Konfliktberatung für ungewollt Schwangere ein Antragsrecht auf finanzielle Absicherung knüpfen würde. Ein Programm, dass diese Frauen mit 1500 Euro monatlich bei der Kinderaufzucht staatlich unterstützt, wenn sie das Kind nach einer Beratung dann tatsächlich bekommen. Freilich zusätzlich zum rentenrelevanten Erwerbseinkommen. Es wäre reflexartig von Sozialschmarotzerei die Rede und dass sich dann ja wohl jede Schwangere in den Beratungsstellen vorstellen würde. „Wieso soll ich für fremde Kinder zahlen? Was gehen mich die Blagen von der Schlampe an? Soll die halt die Beine zusammenhalten!“schreien dieselben bigotten Moralisten, die sich aber vorher doch so sehr um die fremden Kinder in den fremden Uterussen gesorgt haben. So weit geht die eigene Verantwortung für die Einmischung in die körperlichen Angelegenheiten fremder Frauen dann doch nicht. Dieselben Heinis schreien heute „Unterhaltsmafia“ und haben schon bei der Diskussion um „Nein heißt nein“ Schaum vor dem Mund. Verantwortungsvoller Umgang mit Geschlechtsverkehr und seinen Folgen spielt offenbar immer nur dann eine Rolle, wenn man sie selbst gerade nicht übernehmen muss. (Juramama)
Es handelt sich um einen sehr langen und lesenswerten Artikel, daher hier nur ein Auszug mit der unbedingten Empfehlung, das ganze Ding zu lesen. Ich halte aber den obigen Ausschnitt deswegen für den relevantesten, weil er wieder einmal deutlich die Sollbruchstelle in der konservativen Kritik an Liberalisierungsmaßnahmen aufzeigt, die wir ja auch bei Sozialleistungen so häufig sehen. Zwar wird auf der einen Seite beständig die Eigenverantwortung betont, aber auf der anderen Seite angemaßt, massiv ins Privatleben von Leuten einzugreifen. Und das ist grundsätzlich auch kein Problem! Progressive wie ich es bin sehen ja auch kein Problem damit, Liberalisierungen auf der einen Seite zu fordern und auf der anderen Seite dem Staat eine starke regulierende Rolle zuzugestehen. Nur leben die Konservativen in einer Illusion. All die Freiheiten, die sie für sich in Anspruch nehmen (und wenn es tempolimitfreies Fahren auf der Autobahn ist) werden zu Gesetzmäßigkeiten im Rang der 10 Gebote erhoben, während Freiheiten, die sie ablehnen, als in das als "natürlich" empfundene Gefüge der Welt eingreifend empfunden werden. Ich habe nicht einmal ein großes Problem damit, wenn Werteargumente hier ins Feld geführt werden. Jeder Mensch hat Werte, und die kommen miteinander in Konflikt und erfordern entweder mehrheitlichen Konsens für einen davon oder einen Kompromiss. Aber das geht halt nur, wenn überhaupt ehrlich darüber diskutiert. Und gerade in der Abtreibungsdebatte stehen sich eben zwei Wertesysteme gegenüber, die sich nicht vereinen lassen. Das ist wie bei der Homoehe auch. Entweder ich stelle gleich oder ich stelle nicht gleich, entweder die Frau ist souverän über ihren Körper oder ein ungeborenes Kind hat eigene Rechte. Manchmal sind Kompromisse drin (wie die Drei-Monats-Regel), aber letztlich sind das alles arbiträre Festsetzungen. Und tatsächlich müssen sich die konservativen Moralisten den Vorwurf der Bigotterie gefallen lassen, wenn sie einerseits darauf bestehen, dass Frauen nicht abtreiben dürfen, andererseits aber jegliche Hilfestellung für diese Frauen verweigern, weil sie ja quasi "in Sünde" leben. Diese Bigotterie ist schon so alt wie die Menschheit und immer zum Nachteil der Frauen ausgelebt worden. Man denke nur an Gretchen in Faust; aber ich schweife ab.

2) What "Law and Order" means to Trump
No president since Richard Nixon has embraced the weaponized rhetoric of “law and order” as avidly as Mr. Trump. “When I take the oath of office next year, I will restore law and order to our country,” he said during his acceptance speech at the Republican National Convention in 2016. “I will work with, and appoint, the best prosecutors and law enforcement officials in the country to get the job properly done. In this race for the White House, I am the law and order candidate.” [...] As tempting as it is to hammer Mr. Trump for his epic hypocrisy, it is a mistake. The president’s boundless benefit of the doubt for the Rob Porters and Roy Moores of the world, combined with off-with-their-heads capriciousness for immigrants accused of even minor crimes, is not a contradiction. It is the expression of a consistent worldview that he campaigned on and has pursued in office. In this view, crime is not defined by a specific offense. Crime is defined by who commits it. If a young black man grabs a white woman by the crotch, he’s a thug and deserves to be roughed up by police officers. But if Donald Trump grabs a white woman by the crotch in a nightclub (as he’s accused of doing, and denies), it’s locker-room high jinks. [...] A political movement that rails against “immigrant crime” while defending alleged abusers and child molesters is one that has stopped pretending to have any universalist aspirations. The president’s moral framework springs from an American tradition of cultivating fear and contempt among its white citizens against immigrants, indigenous people and people of color, who are placed on the other side of “the law.” It’s a practice that has taken on new strength at a time when many white people fear they may be outnumbered, outvoted and out of time. This is the opposite of what we like to tell ourselves is the traditional American civic creed: one symbolized by a blindfolded Lady Justice who applies the law without fear or favor to whoever may come before her. It is one of Mr. Trump’s most insidious victories that he has given his supporters permission to drop any pretense of insisting that their actions and views should conform to this principle. (Chris L. Hayes, New York Times)
Ich habe hier schon einmal darüber geschrieben, dass genau die Rechten, die am lautesten von "Recht und Ordnung" reden, es am wenigsten damit haben. Sie wollen das Polizei- und Justizsystem als Waffe gegen ihre Gegner nützen; die Regeln gelten ihnen nicht universal. Das sieht man auch in ihrem Hass auf den Rechtsstaat, wann immer der ein Urteil fällt, das ihnen nicht passt. Da wird dann im Sinne Carl Schmidts immer das "gesunde Volksempfinden" bemüht, um zu zeigen, als wie ungerecht doch die (natürlich schweigende) Mehrheit der Bevölkerung das sehe und sich zum Sprecher aufgeschwungen. Was dabei kaputt geht ist der Rechtsstaat. Der wird im besten Falle ausgehöhlt, im schlimmsten Falle instrumentalisiert. Man sehe sich mal die Einwanderungsbehörde ICE in den USA an: ihre Politisierung unter Trump hat dazu geführt, dass ein bereits vorher mit Rechtsextremen, Preppern und Schlägern voller Laden sich nun völlig in eine Art SA verwandelt hat, die ohne Rücksicht auf Regeln, Gesetze und Grundrechte ihre Vorstellungen durchzusetzen versucht und sich dahinter versteckt, dass ihre Entscheidungen immer gleich final sind. Wenn sie jemanden nach Honduras abschieben, der dann dort von den Machthabern ermordet wird, stört ein späteres Gerichtsurteil über die Unrechtsmäßigkeit dieser Abschiebung niemanden mehr. Gleiches gilt für das Verschleppen von Flüchtlingskindern; der mentale Schaden durch diese perverse Grausamkeit ist dann bereits angerichtet. Die vielfach gehörte "Analyse", dass Trump ja eigentlich gar nicht so viel Schaden anrichte, kann daher auch nur aus der Perspektive eines saturierten weißen Mittelschichtlers gefällt werden. Alle anderen sind bereits jetzt Opfer dieser "Recht und Ordnung", und die Geschichte hat gezeigt, wie papiern der Schild der Justiz auch und gerade für die Mittelschicht sein kann, wenn der aktuell an den Rändern zerfasernde Konsens erst einmal auseinanderbricht.

3) The new Authoritarians are waging a war on women
The problem with both American-born story lines is that authoritarian nationalism is rising in a diverse set of countries. Some are mired in recession; others are booming. Some are consumed by fears of immigration; others are not. But besides their hostility to liberal democracy, the right-wing autocrats taking power across the world share one big thing, which often goes unrecognized in the U.S.: They all want to subordinate women. To understand global Trumpism, argues Valerie M. Hudson, a political scientist at Texas A&M, it’s vital to remember that for most of human history, leaders and their male subjects forged a social contract: “Men agreed to be ruled by other men in return for all men ruling over women.” This political hierarchy appeared natural—as natural as adults ruling children—because it mirrored the hierarchy of the home. Thus, for millennia, men, and many women, have associated male dominance with political legitimacy. Women’s empowerment ruptures this order. “Youths oppress My people, and women rule over them,” laments Isaiah in the Hebrew Bible. “My people, your leaders mislead you.” Because male dominance is deeply linked to political legitimacy, many revolutionaries and counterrevolutionaries have used the specter of women’s power to discredit the regime they sought to overthrow. Then, once in power themselves, they have validated their authority by reducing women’s rights. [...] Over the long term, defeating the new authoritarians requires more than empowering women politically. It requires normalizing their empowerment so autocrats can’t turn women leaders and protesters into symbols of political perversity. And that requires confronting the underlying reason many men—and some women—view women’s political power as unnatural: because it subverts the hierarchy they see in the home. (Peter Beinart, The Atlantic)
Dies ist ein ebenso langer wie lesenswerter Artikel mit vielen Beispielen, den ich hier wieder nur auszugsweise zitieren konnte. Ich habe allerdings an dieser Stelle bereits öfter festgestellt, dass der neue Autoritarismus (und zwar rechts wie links, das spielt in dem Zusammenhang keine Rolle) massiv auf Misogynie und Sexismus aufbaut. Fragile Männeridentitäten sehen sich progressivem Fortschritt gegenüber, der ihre bisherigen Privilegien in Frage stellt (und auch viele ihrer bisherigen Leiden, aber das wird da immer nicht gesehen) und reagieren mit toxischer Maskulinität. Es ist gut zu sehen, dass immer mehr Analysen des neuen Populismus die Gender-Dimension dieser Geschichte mehr ins Blickfeld nehmen.

4) Is a Green New Deal possible without a revolution?
All of which has led the boldly naïve to ask, “What, exactly, is a Green New Deal?” The answer will depend on whom you ask. To the median Democrat, a Green New Deal is just a fancy name for an infrastructure bill that includes significant investments in renewable energy, and climate resiliency. To the progressive think tank Data for Progress, it’s a comprehensive plan for America to achieve net-zero carbon emissions by 2050, through a combination of massive public investment in renewables, smart grids, battery technology, and resiliency; turbocharged environmental regulations; and policies that promote urbanization, reforestation, wetland restoration, and soil sustainability — all designed with an eye toward achieving full employment, and advancing racial justice. But to the American left’s most utopian reformists, the Green New Deal is shorthand for an ambition even more sweeping. More precisely, it is a means of conveying their vision for radical change to a popular audience, by way of analogy. Eighty years ago, the United States was faced with a malign force that threatened to eradicate the possibility of decent civilization. We responded by entrusting our elected government to reorganize our economy, and concentrate our nation’s resources on nullifying the Axis threat. In the process, America not only defeated fascism abroad, but consolidated a progressive transformation of its domestic political economy. The war effort affirmed the public sector’s competence at directing economic activity, fostered unprecedented levels of social solidarity — and, in so doing, banished laissez-faire from the realm of respectable opinion. In the course of a decade, ideas from the far-left fringe of American thought became pillars of Establishment consensus: Very serious people suddenly agreed that it was legitimate for the state to enforce collective bargaining rights, impose steeply progressive income taxes, administer redistributive social programs, subsidize home ownership, and promote full employment. The New Deal ceased to be a single president’s ad hoc recovery program, and became a consensus economic model. An unprecedented contraction in economic inequality ensued; the most prosperous middle-class in human history was born. Many contemporary leftists believe this history is worth repeating: Just as the fight against fascism facilitated a democratic transition from laissez-faire to Keynesian liberalism, so the fight for climate sustainability can shepard America out of neoliberalism, and into ecofriendly, intersectional, democratic socialism. (Eric Levitz, New York Magazine)
Für die Beantwortung der Frage aus der Überschrift verweise ich auf den Artikel. Was mir erst einmal wichtig ist ist die Begrifflichkeit selbst. Ich halte den "Green New Deal" für ein politisch sehr erfolgversprechendes Konzept, weil es ohnehin bestehende policy-Präferenzen der Democrats unter ein schlagkräftiges Narrativ zusammenfasst und mit einer großen Vision versieht. Genau dieses Narrativ aber ist aktuell sehr ambivalent, weil es eine reine Projektionsfläche darstellt. Eine solide Mehrheit unter den Amerikaner (sogar 48% aller Republicans) finden den Green New Deal gut. Nur, was ist das eigentlich, der Green New Deal? Jeder versteht etwas anderes darunter, erhofft sich unterschiedliche Dinge. Das war beim Brexit (siehe Fundstück 5) genauso, und es ist keine Überraschung, dass am Ende keine konkrete Ausgestaltung eine Mehrheit findet. Selbst wenn die Democrats 2020 oder 2024 oder 2028 die trifecta (Kontrolle über alle drei Häuser) gewinnen sollten, haben sie deswegen keine Mehrheit für den Green New Deal. Dafür braucht es ein konkretes Programm, und das wäre, um eine Mehrheit zu finden, ein Kompromiss. Aber die aktuelle politische Grundlagenarbeit, die da gelegt wird, ist zumindest für das Reich der Politics extrem wichtig und stimmt hoffnungsfroh.

Talk of an election inevitably prompts Labour’s “centrist” critics to highlight the deadlocked polls. A standard question is: “Why isn’t Labour 20 points ahead of a disastrous Tory government?” But they rarely ask why remain isn’t 20 points ahead of a disastrous Brexit project, because the two statistics are linked. The Tories have an artificially high floor because leave voters trust them most to deliver Brexit. Labour must again shift the narrative away from Brexit to domestic policy. That will be harder this time – but it can be framed as answering the disillusionment that led to the result in the first place. But the party must prepare for a referendum, too. Those on the left who have resisted calling for one are often accused of failing to do so out of partisanship, rather than an awareness of the demons unleashed by the first referendum, and a fear even worse monsters will emerge during a second. With no dramatic shift in polling, a leave campaign that urges voters to “tell them again”, angrily decrying remainers for refusing to accept the first result, may win again. The resulting rhetoric will make “enemies of the people” and “traitors” look tame. [...] Centrists stake their hopes of a political rebirth on the remain cause. In the last referendum, they wheeled out corporate titans and City types, ignoring polling that showed the public had thought Ed Miliband’s Labour was too soft on big business by 42 to 22 a year earlier. But there are potential opportunities, too. Labour could tell its leave voters it did everything possible to make Brexit work. It could say the message had been sent, and remain would mark the start of a rebuilding of Britain. It could present its manifesto as a cure to the ills that drove the 2016 upheaval. It could paint the Tory Brexiteers as the establishment. With a new left-leaning government in Spain, a major EU nation, it could point to a powerful ally for a message of “remain and reform”. (Owen Jones, The Guardian)
Das ganze Dilemma am Brexit wird in solchen Problemstellungen deutlich. Weder bei den Tories noch bei Labour gibt es irgendeinen Konsens darüber, wie der Brexit aussehen sollte und ob man ihn überhaupt haben will. Ich erinnere mich noch daran, angesichts der Wahlen 2017 mit einem befreundeten britischen Politik-Analysten gesprochen zu haben. Meine These war, dass Labour keine Position zum Brexit habe und dass aus dieser Unklarheit viel von Corbyns Attraktivität ströme. Er widersprach und meinte: "No, the problem is that Labour has ALL the positions on Brexit." Die Tories haben es da etwas einfacher, aber hier zeigt sich in typisch rechtspopulistischer Manier das Problem, dass man zwar nach außen hin markig-simple Rhetorik raushaut, aber nach innen eigentlich weiß, dass es Unsinn ist und hofft, nach der Wahl eine sinnvollere Politik fahren zu können. Nur werden die ganzen Zauberlehrlinge die Geister nicht mehr los, die sie riefen. Das ging den Republicans in den USA ja genauso. Die dachten, sie spannen die Spinner von rechts für sich ein, dabei wurden sie von den Spinnern eingespannt. Die Tories nutzen jetzt auch nicht mehr die Daily Sun, die Daily Sun nutzt sie (als pars pro toto). Und für Labour sieht die Lage nicht besser aus. Corbyn und seine Anhänger haben ja auch völlig irrationale Hoffnungen geweckt: erst kürzlich verkündete man im Parlament, dass man nach Neuwahlen im Frühjahr ein vollständiges Handelsabkommen mit der EU zu verhandeln gedenke, das den aktuellen Status mit all seinen Vorteilen ohne die Nachteile festschreibe - bis zur Deadline am 30. März! Das ist so dermaßen illusorisch, man weiß nicht einmal, ob man noch den Kopf schütteln soll. Gefangen in der eigenen Rhetorik und (bei den true believers) der eigenen Ideologie taumeln sie sehenden Auges auf den Untergang zu.

6) Was man über die "Gelbwesten" wissen sollte
Das Dritte aber, was man zu den "Gelbwesten" wissen muss: Bewegungen, die in sozialen Medien entstehen und strukturiert werden, folgen oft ähnlichen Grundmustern. Daher kann man durch die Analyse anderer Gruppen auch etwas über die "Gelbwesten" sagen. Die diffuse Graswurzel-Struktur ist Stärke und Schwäche zugleich. Die Schwäche zeigt sich in der medialen Rezeption, denn sozial-mediale Bewegungen sind zu Beginn die perfekte Projektionsfläche: Weil "Gelbwesten" so divers sind, findet man für fast jede These über sie Belege, ob im Netz oder in Straßeninterviews. [...] Denn die Berichterstattung über die "Gelbwesten" kann die gesamte Bewegung verändern. Auch das ist typisch für diffuse Netzbewegungen. Vereinfacht gesagt: Wenn in klassischen Medien der Tenor ist, die Bewegung sei als rechtsextrem einzuschätzen, dann werden in sozialen Medien und auf der Straße zunehmend Rechtsextreme angelockt, während Nicht-Rechtsextreme sich eher abgeschreckt zurückziehen. Natürlich kann die Zuschreibung auch umgekehrt funktionieren, aber in jedem Fall dienen redaktionelle Medien als Wirkhebel in die Politik. Denn die noch sehr klassisch geprägte politische Öffentlichkeit ist bisher kaum im Stande, mit der Ambivalenz und Diffusität netzbasierter Bewegungen umzugehen. [...] Gelbe Westen sind die neuen Guy-Fawkes-Masken. Das beweist, dass in den letzten zehn Jahren die Organisationsformen und Instrumente der Netz-Avantgarde in die Bevölkerung gesickert sind. Das gilt auch für die ungünstigen Seiten: Wenn eine gelbe Weste und die Gründung einer Facebook-Gruppe reichen, um als Teil der Bewegung wahrgenommen zu werden und klassische Medien auch aus mangelnder Sachkenntnis bereit sind, an einzelnen Gruppen die gesamte Bewegung zu messen - dann entsteht enormes Missbrauchspotenzial. (Sascha Lobo, SpiegelOnline)
Wo wir es in Fundstück 4 schon von Projektionsflächen hatten, die Gelbwesten sind natürlich auch eine super Projektionsfläche. Aktuell sieht es so aus, als würden sie dasselbe Schicksal erleiden wie Pegida: Von einer unartikulierten Unmut im Sauseschritt ins rechtsextreme Lager. Dass die LINKE sich so unreflektiert mit den Gelbwesten gemein gemacht hat, wird sie noch beißen. Wie so viele Protestbewegungen unserer Tage stehen keine klaren Forderungen oder gar alternative Zukunftsvisionen hinter dem Aufstand. Das ist ja auch einer der Gründe, warum diese Bewegungen ausfransen und langsam diffundieren. Die wissen immer sehr genau, was sie nicht mögen, aber was sie genau mögen, das wissen sie nicht. Manchmal können Parteien solche Unmutsbewegungen auffangen und für sich nutzen (die AfD hat ja effektiv Pegida zu ihrer Außenstelle gemacht, und die BaWü-Grünen haben die S21-Proteste meisterhaft inkorporiert). Aber insgesamt erscheinen sie als diffuse Prozesse. Man denke an Occupy Wallstreet: daraus wurde auch nichts, weil kein konkreter Gestaltungswille dahinterstand und die Democrats sie mieden wie der Teufel das Weihwasser, während die Tea-Party-Bewegung einen sehr klaren Gestaltungswillen hatte und die GOP sich bereitwillig von ihr kapern ließ. Mich würde nicht wundern, wenn die Gelbwesten bald Teil der Le-Pen-Folklore sind.

7) I've seen the future of a Republican party that is no longer insane
Niskanen’s scholars have criticized the failures of conservative policy you might expect — climate science skepticism, the Republican health-care plan — a heterodox center-right think tank to criticize. But Niskanen has gone beyond point-by-point rebuttals and has developed a broad and deep argument with the movement’s core assumptions. Last year, Will Wilkinson argued against “small-government monomania” and in favor of a social safety net to “increase the public’s tolerance for the dislocations of a dynamic free-market economy,” and identified libertarianism with hostility to democracy, resulting in persistent Republican efforts “to find ways to keep Democrats from voting, and to minimize the electoral impact of the Democratic ballots that are cast.” Brink Lindsey attacked “the notion that downward redistribution picks the pockets of makers and doles it out to layabout takers.” These are frontal assaults on the basic orientation of the libertarian political project. By recognizing the value of social transfers as a backstop to a free-market system, and acknowledging that the right’s obsession with the protection of property has made it hostile to democracy itself, they forced themselves to rethink not only the methods but also the goals of libertarian politics. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Ich habe bereits im letzten Vermischten im Zusammenhang mit Andrew Sullivan davon geschrieben, was für mich völlig problemlos akzeptable Mitte-Rechts-Positionen sind. Was Chait hier als mögliche Zukunft der republikanischen Partei aufführt, läuft ebenfalls in diese Richtung. Nichts von diesen Ideen hat für mich irgendwelche Attraktivität, aber immerhin finden diese Ideen im selben Universum statt. Wenn Leute mit diesen Positionen an der Macht sind, fühle ich mich nicht bedroht. Das ist ja auch der große Vorteil der CDU des 21. Jahrhunderts: Kaum jemand liebt Merkel oder AKK, aber fast jeder kann mit ihnen leben. Ich weise immer wieder daraufhin, dass die größere Profilierung und Streitkultur, die beständig "für die Demokratie" eingefordert werden, eben als Zerrspiegel so aussehen wie die Republicans, die Tories, Fidesz, PiS oder Le Pen. Ich mag meine Konservativen moderat, wie sicherlich die Konservativen auch lieber moderate Progressive haben.

8) Tweet von Karolin Schwarz
Es ist echt unglaublich, welche Sympathisierung mit den Tätern da immer stattfindet, genauso wie bei Wählern von Rechtsextremen oder rechtem Terror. Sagt es mir alle nach: Das Opfer ist nicht Schuld an dem Verbrechen, das ihm begangen wurde. Egal, ob es den Täter verlassen hat, bei der NPD aktiv, freizügige Kleidung trug, aus Syrien floh, seinen Mercedes im Schanzenvirtel abstellte, Generalbundestaatsanwalt oder Chef des Arbeitgeberverbands oder Chef der Deutschen Bank war. Hört auf mit diesen Narrativen.

 9) Beto O'Rourke and the new Democratic purity test
The dispute escalated three days later when The Washington Post’s Elizabeth Bruenig wrote a column declaring that she “can’t get excited about Beto O’Rourke” as a presidential candidate, because, among other things, he lacks a “well-attested antipathy toward Wall Street, oil and gas.” To which Tanden replied, “Bruenig’s piece in the Post on Beto is just the latest attack by a supporter of Senator Sanders.” Then, on December 10, the journal Sludge, which investigates money in politics, defended Sirota’s charge and noted that the Center for American Progress itself “has in the past accepted donations from multiple fossil fuel companies.” On one level, the fight over O’Rourke is a fight over the legacy of Obama. The Obama veterans championing O’Rourke compare his “inspiration, aspiration, and authenticity” (in the words of Obama’s former campaign manager Jim Messina) to the 44th president’s. In a recent essay titled “The Case for Beto O’Rourke,” the former Obama aide Dan Pfeiffer declared that “the whole conversation around Beto has been eerily familiar to me, because these are the exact arguments people made to me when I told them I was considering working for Barack Obama 10 years ago.” [...] But the argument is about more than Obama. The people criticizing O’Rourke for taking fossil-fuel money don’t want to just prevent the Democratic Party from modeling its next presidential candidate on its last president. They want to overturn a model that has long dominated the party. Since the mid-20th century, Democrats have generally treated corporations as legitimate participants in the political process. Today, for the first time since the dawn of the Cold War, a powerful faction within the party wants to treat them as ideological adversaries instead. [...] The demands for anti-corporate purity keep increasing. Activists close to Alexandria Ocasio-Cortez are now asking presidential contenders to pledge not to appoint Wall Street bankers to administration jobs. (Peter Beinart, The Atlantic)
Ich finde diese Tendenz nicht ganz so knorke. Zum einen finde ich Obamas Ansatz zu diesem Thema ("you get a seat at the table, but you don't get to buy all seats at the table") immer noch den mit Abstand sinnvollsten und sehe durchaus die positiven Seiten von Lobbyismus. Eine Umweltgesetzgebung, in der man die Stimme der betroffenen Konzerne quasi per Gesetz ausschaltet, bettelt darum fehlzuschlagen. Jeder hat das Recht, für seine Interessen zu kämpfen, auch die Energiebranche. Es muss halt im Rahmen bleiben, aber wenn man sie außerhalb des Rahmens schiebt, macht man mehr kaputt als man gewinnt. Die zweite weniger gute Dimension ist, dass sämtliche dieser Einflussnahmemöglichkeiten legal sind, spätestens seit dem Citizens-United-Urteil von 2010. Wenn man die Forderungen, die hier erhoben werden, konsequent zu Ende denkt, müssten die Democrats wenn sie eine gestaltende Mehrheit haben diese Art der Einflussnahme verbieten, und die entsprechenden Stimmen gehen ja auch in diese Richtung. Es ist ja auch gute Politics: Wenn man sich von diesen Interessen vollständig losmacht, werden diese ausschließlich den Gegner finanzieren. Warum ihm diese Quelle lassen und ihn nicht auch ausschließen? Mit solcherlei Einschränkungen der Meinungsfreiheit haben die Republicans wahrlich viel Erfahrung, man sehe sich nur mal Planned Parenthood an. Ich bin aber weiter nicht überzeugt davon, dass der richtige Weg für Democrats ist, sich die Methoden der Republicans anzunehmen.

10) Die Ökonomie des Kindergelds
Pro Kind erhält man in der Schweiz eine Familienzulage von mindestens 200 Franken. Für einen Beschäftigten hat das die gleiche Wirkung wie eine Lohnerhöhung um diesen Betrag pro Kind. 200 Franken unter der Etikette Kindergeld unterscheiden sich in nichts von 200 Franken Lohn, was die Kaufkraft betrifft. Es ist ebenso Geld wie jenes, das als Gehalt ausbezahlt wird. Aus klassischer ökonomischer Sicht ist daher anzunehmen, dass die Empfänger das Geld nicht direkt für die Kinder verwenden. Gemäss dieser Analyse wird die Familie das Geld dafür verwenden, wofür sie den grössten Nutzen oder Bedarf hat. Für die Familie als Ganzes wäre es wenig rational, wenn für ein Kind Geld ausgegeben würde, das dieses weniger dringend benötigt als die Familie in einem anderen Lebensbereich. Stossend ist allerdings, wenn das Geld für Zwecke ausgegeben wird, die den Kindern sogar schaden können: Etwa für den Alkoholkonsum der Eltern, für das Rauchen, für andere Drogen oder für Unterhaltungselektronik, die dafür sorgt, dass sich die Eltern für die Kinder weniger Zeit nehmen. Dennoch: Eine gesonderte Betrachtung des Kindergeld-Einkommens wäre im Sinn des Wirtschaftsnobelpreisträgers Richard Thaler ein Beispiel für eine «mentale Buchführung» (Mental Accounting). Damit ist das oft zu beobachtende Verhalten gemeint, dass Menschen Geld verschieden wahrnehmen und ausgeben, je nachdem, wie sie dazu gekommen sind. Für Ökonomen ist das eine Verhaltensanomalie. Wie nun eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus Deutschland zeigt, hat die Etikettierung als Kindergeld tatsächlich eine sehr starke Wirkung. Untersucht wurde, wie sich das Ausgabeverhalten der Eltern änderte, wenn sich die Höhe des Kindergeldes änderte, und ob Kindergeld anders als andere Zuschüsse verwendet wurde. Das Resultat: Die Eltern geben das Geld in der Regel gezielt für Bildungs- und Freizeitaktivitäten der Kinder aus und für eine Verbesserung der Wohnsituation. (Markus Diem Meier, Tagesanzeiger.ch)
Ökonomen sind schon eine kuriose Zunft. Wenn ein Naturwissenschaftler permanent Modelle veröffentlichen würden, die durch die Realität permanent widerlegt werden, würde man ihn als Quacksalber abtun. Unter Ökonomen ist das normal. Ach was, Eltern geben ihr Geld tatsächlich für ihre Kinder aus? So richtig ohne dass die harte Hand eines Staates, geführt von kundiger Ökonomenhand, sie dazu zwingt? Ist ja faszinierend. Am Ende kommt noch heraus, dass - Schockschwerenot! - der Staat gar nicht am besten weiß, wofür Menschen ihr Geld ausgeben sollten, und es deswegen am besten deren Eigeninitiative überlassen bleibt? Nein, das ist nur so eine verrückte linke Idee, darauf würden echte Marktliberale nie kommen. - Scherz beiseite, es ist wie auch beim Arbeitslosengeld, wie bei der Obdachlosenunterstützung, wie beim Elterngeld und sonstigen solchen Maßnahmen: Studie um Studie belegt, dass die von Konservativen und Marktliberalen präferierten Policies nicht funktionieren und es wesentlich einfacher, billiger UND effizienter ist, die Geldleistungen direkt und ohne staatliche Gängelung bereitzustellen. Nur was für diesen Menschenschlag bei jeder Steuerkürzung oder Bürokratieabbaumaßnahme nur gesunder Menschenverstand ist, ist hier auf gar keinen Fall, niemals, unter keinen Umständen möglich oder auch nur zu fordern. Die Bigotterie (da sind wir wieder, hallo Fundstück 1) ist unglaublich. Entweder Freiheit oder halt nicht. Aber die Wahrheit ist, dass Konservative und Marktliberale überhaupt kein Problem mit einem überbordenden, bürokratischen Gängelstaat haben. Er soll nur nicht sie, sondern andere betreffen. Oh, hallo Fundstück 2.

11) AfD fällt unter Niveau der Bundestagswahl
Eine Woche nach der Wahl von Annegret Kramp-Karrenbauer zur Vorsitzenden der CDU hält die Partei im RTL/n-tv-Trendbarometer ihren Wert von 32 Prozent. Die Umfrage der vergangenen Woche wurde direkt nach der Wahl durchgeführt, darin sprang die CDU drei Prozentpunkte von 29 auf 32 Prozent. In der nun vom Umfrageinstitut Forsa durchgeführten Befragung legt außerdem die SPD einen Prozentpunkt zu auf 15 Zähler. Die AfD gibt einen Punkt ab und käme noch auf 12 Prozent der Wählerstimmen - damit liegt sie knapp unterhalb des Ergebnisses der Bundestagswahl von 12,6 Prozent. FDP, Grüne, Linke und die "sonstigen" Parteien verharren auf den Werten der Vorwoche. [...] Für die CDU geht es darüber hinaus in zweierlei Hinsicht aufwärts. So legt AKK auch bei der Kanzlerpräferenz zu. Bei der Wahl zwischen der SPD-Chefin Andrea Nahles und ihr würden sich 48 Prozent für die neue CDU-Chefin entscheiden. Bundeskanzlerin Angela Merkel kam bei dieser Frage zuletzt auf 46 Prozent. Auch bei der Wahl zwischen SPD-Finanzminister Olaf Scholz und AKK legt die CDU-Chefin zu: 43 Prozent würden sich bei dieser Alternative für sie entscheiden. Merkel lag dabei zuletzt bei 40 Prozent. Auch bei der Frage, welche Partei am ehesten mit den Herausforderungen in Deutschland fertig wird, legt die Union deutlich zu. 26 Prozent der Befragten trauen CDU und CSU die entsprechende politische Kompetenz zu. Ende November lagen die Unionsparteien bei 20 Prozent. Der SPD trauen nur 5 Prozent der Befragten zu, passende Antworten liefern zu können. Immerhein ein kleines Plus: Ende November waren es nur 4 Prozent. "Sonstige Parteien" bauen bei dieser Frage ab. 24 Prozent der Befragten glaubten Ende November, dass andere Parteien als CDU/CSU und SPD am ehesten die Probleme bewältigen könnten. Dieser Wert liegt nun nur noch bei 18 Prozent. (NTV)
Ich bin ehrlich verwirrt. Mir wurde von zahllosen Stellen glaubhaft versichert, dass die Wahl von Annegret Krampp-Karrenbauer zur CDU-Vorsitzenden die AfD stärken und die CDU nachhaltig auf den Abwärtstrend schicken werde. Das, so wurde mir erklärt, hatte praktisch die Kraft eines Naturgesetzes. Sollten die Leute, die das behauptet haben, am Ende gar falsch gelegen haben? Angesichts der Sicherheit ihrer Aussagen und der Beharrlichkeit, mit der sie weiter genau dieselben Argumente bringen, kann ich mir das eigentlich nicht vorstellen. Das bedeutete ja auch, dass sie sich bei ihrer Analyse von den eigenen ideologischen Präferenzen hätten blenden lassen. Aber das passiert diesen Leuten mit ihrem pragmatischen, vernünftigen und distanziert-objektiven Blick nicht, weswegen ich diese Möglichkeit sicher ausschließen kann. Nein, das muss schon an meiner links-grün verzerrten Sicht auf die Dinge liegen. Kann mir jemand aushelfen?

Dienstag, 18. Dezember 2018

Macron und Ryan werden Hausmänner während AKK im Washingtoner Thinktank gleiche Chancen für die Bundespolizei fordert - Vermischtes 18.12.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Die Verwandlung der AKK
Das Publikum erlebte während der 60 Minuten allerdings gleich zwei AKKs. Zuerst die sachliche Profi-Politikerin, die Interessierte schon länger kennen. Doch zu dieser AKK später. Interessanter war die andere AKK. Die begann sich langsam herauszuschälen, als der ehemalige Handelsblatt-Chef Steingart fragte, ob sie sich die Kanzlerschaft zutraue. Da wiederholte Kramp-Karrenbauer noch ruhig, was sie schon dutzendfach gesagt hatte seit Freitag: Wer für den CDU-Vorsitz kandidiere, der müsse bereit sein für das Kanzleramt. Also ja. Steingart konnte später glaubhaft vermitteln, er hätte das auch die Unterlegenen Merz und Spahn gefragt. Dennoch dürften sich auf der anderen Seite der Talkrunde erste Anflüge von Groll gebildet haben. [...] Kubicki, ein Mann mit schlohweißem Haar, zeigte sogleich seine Fähigkeit zum flapsigen Spruch. Er sei sich sicher, dass Frau Kramp-Karrenbauer nicht gewählt wurde, weil sie eine Frau sei. Sondern weil sie vor den Delegierten eine geniale Rede gehalten habe. Rhetorisch sehr beachtlich. "Das hätte ich Ihnen so nicht zugetraut." Es fehlte nur, dass der weise Wolfgang der kleinen Annegret einen anerkennenden Klaps auf die Wange gegeben hätte. Annegret Kramp-Karrenbauer lächelte zwar, aber es war ein erstarrtes Lächeln. Jetzt begann ihre Verwandlung. Schmunzeln müsse sie, wenn sie so etwas höre. "Die Art und Weise, wie hier gesprochen wird, begleitet mich mein ganzes Leben lang", sagte sie in eisigem Tonfall. "Als ich angefangen habe Politik zu machen, bin ich gefragt worden: 'Was wird eigentlich aus Ihren drei Kindern, wenn Sie in den Bundestag gehen?' Die Kollegen, die neben mir auch in den Bundestag gegangen sind, mussten sich diese Frage nie gefallen lassen." Sie habe in einem Auswahlprozess nie gehört, man brauche noch einen Mann, weil der gut zu Gesicht stünde. "Als ob man als Frau eine zu bemitleidende Minderheit in diesem Land wäre." [...] Gabor Steingart hatte noch nicht genug und griff die Politikerin Annegret Kramp-Karrenbauer nun frontal an: Seiner Ansicht nach habe ihre siebenjährige Amtszeit als Ministerpräsidentin für das Saarland keinerlei Erfolge gebracht. Steingart warf einige Zahlen in den Raum wie Pro-Kopf-Verschuldung oder Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt, da stünde das Bundesland "sogar hinter den ostdeutschen Ländern". Jetzt wurde es AKK endgültig zu bunt. Sie richtete sich auf und machte den Rücken gerade. Ihre Stimme wurde lauter. "Ich finde das im Höchstmaß despektierlich, auch den Saarländerinnen und Saarländern gegenüber." Kramp-Karrenbauer führte den Strukturwandel an, weg von der Steinkohle, einen "beinharten Sparkurs" der Landesregierung, erstmals kündige sich ein ausgeglichener Haushalt an. Zudem seien 40 Prozent aller Kitas bilingual ob des europäischen Gedankens. "Darauf bin ich sehr stolz, das lasse ich mir im Namen der Saarländerinnen und Saarländer nicht kaputtreden", schrie sie fast durchs Studio. (Thomas Hummel)
Viele Beobachter und Akteure der politischen Szene scheinen mit AKK denselben Fehler zu begehen, den sie mit Angela Merkel schon begangen haben, und sie zu unterschätzen und ihr keine eigene Handlungsfähigkeit zu unterstellen. Man könnte sich fragen, was beide gemeinsam haben, um diesen Verdacht seitens älterer weißer Männer auf sich zu ziehen. Aber Scherz beiseite, ich denke es ist auch relevant festzustellen dass AKK einen deutlich spritzigeren, kontroversen Stil als Merkel pflegt. Wir werden bald sehen, ob die Leute das tatsächlich mehr mögen als Merkels ungefähre, undefinierte Wortwolke. Meine Prognose ist ja eher dass nicht, und dass der viel beschworene positive Effekt für die Demokratie sich so leicht nicht wird eingrenzen lassen.

2) Paul Ryan's long con
To be clear, I am not particularly concerned about deficits right now, just as I wasn’t in 2010. But I took Ryan seriously when he said he was. I covered the arguments Ryan made, the policies he crafted, and I treated them as if they offered a guide to how Republicans would govern. I listened when Ryan said things like, “In Europe, generations of welfare-dependent citizens are hurling Molotov cocktails because their governments can no longer fund their entitlement programs. We can’t let that happen here.” Ryan’s office did not grant my request for an interview for this piece. But now, as Ryan prepares to leave Congress, it is clear that his critics were correct and a credulous Washington press corps — including me — that took him at his word was wrong. In the trillions of long-term debt he racked up as speaker, in the anti-poverty proposals he promised but never passed, and in the many lies he told to sell unpopular policies, Ryan proved as much a practitioner of post-truth politics as Donald Trump. [...] In this telling, Ryan’s principled vision was foiled by Trump’s ascendancy. Faced with a Republican president he had never expected, and managing a restive majority that mostly agreed on being disagreeable, Ryan defaulted to the lowest common denominator of Republican Party policy: unpaid-for tax cuts for the rich, increases in defense spending, and failed attempts to repeal Obamacare. This is more or less the defense Ryan has offered of his tenure. “I think some people would like me to start a civil war in our party and achieve nothing,” he told the New York Times. Trump had no appetite for cutting entitlements, so Ryan got what he could, and he got out. But would it have started a civil war in the Republican Party if the most publicly anti-deficit politician of his generation had simply refused to pass laws that increased the deficit? And even if it had, isn’t that the war Ryan had promised? The question here is not why Ryan didn’t live up to a liberal philosophy of government; it’s why he didn’t live up to his own philosophy of government. [...] Ryan proved himself and his party to be exactly what the critics said: monomaniacally focused on taking health insurance from the poor, cutting taxes for the rich, and spending more on the Pentagon. And he proved that Republicans were willing to betray their promises and, in their embrace of Trump, violate basic decency to achieve those goals. [...] Ultimately, Ryan put himself forward as a test of a simple, but important, proposition: Is fiscal responsibility something Republicans believe in or something they simply weaponize against Democrats to win back power so they can pass tax cuts and defense spending? Over the past three years, he provided a clear answer. That is his legacy, and it will haunt his successors. (Ezra Klein, vox.com)
Der gute Ruf Paul Ryans ist auch so etwas, das ich nie verstehen werde. Da behauptet jemand einfach, Experte für Budgetpolitik zu sein, und das wird einfach geglaubt - ohne dass Ryan abseits seiner ideologischen credentials jemals hätte besondere Fähigkeiten vorweisen können. Der Mann hat für fast zwei Jahrzehnte dieselbe Lüge aufgestellt, immer nur in etwas abgeänderter Form. Jedes Mal, wenn er Haushalte republikanischer Präsidenten zu genehmigen hatte, weitete er die Staatsschuld der USA massiv aus (unter Bush wie unter Trump) und kürzte die Steuern für die Reichen (dito), ohne je auch nur ansatzweise dafür zu bezahlen. Das sollten dann immer die Democrats machen, die im Fall Obamas auch dumm genug waren, das zu tun und die berühmte "seriöse" Finanzpolitik zu fahren, unter großen Kosten für Gesellschaft und ihre eigenen Anhänger. Und als Dank hat Ryan dann den Ruf eines knallharten Budgetpolitikers und die Stefan Pietschs dieser Welt verkünden, dass Linke ja nur immer Geld ausgeben. Was wir hier ebenfalls sehen können ist die liberale Ehrlichkeit und policy-Orientierung. Im Gegensatz etwa zur deutschen Presselandschaft besteht da in den USA ein entscheidender Gegensatz. Denn während liberale Journalisten wie Ezra Klein unter der Annahme agieren, dass die Republicans "in good faith" handeln, also überzeugt sind, dass ihre policy-Ideen tatsächlich gut sind (auch wenn Liberale sie ablehnen), und entsprechend eine ernsthafte Diskussion führen, werfen große Teile der konservativen Journalisten den Democrats effektiv Landesverrat vor. Seit dem Aufstieg der AfD haben wir dieses Argumentationsmuster auch in Deutschland (vorher war das schlicht nicht vorhanden), aber Gott sie Dank noch nicht in größeren Medienpublikationen.

3) The case for impeaching Barrack Obama
Of course, the remarkable fact is that no president in our history has been removed from office by impeachment. And with the incoming Senate even more firmly under Republican control, it would take a series of extraordinary events for Trump to become the first. Impeachment is properly reserved, as the Constitution’s Article 2, Section 4 specifies, for “Treason, Bribery, or other high Crimes and Misdemeanors.” However deplorable has been much of Trump’s conduct, no such high crimes have yet been definitively proved. Unless and until the various investigations produce smoking guns (though the Michael Cohen sentencing memorandum released on late Friday comes may well contain one) it would be far healthier for the country if Trump is removed at the ballot box by the voters in 2020 rather than by an impeachment trial in the Senate. [...] On that point, I find my thinking somewhat more closely aligned with pro-Trump conservatives who reject the remedy of impeachment than it is with anti-Trump liberals, like the billionaire Tom Steyer, who are urging impeachment now. But whatever one’s view may be, connoisseurs of hypocrisy now have the opportunity to sample some choice delicacies. For it turns out that some of the very same people defending Trump from the specter of impeachment were not long ago hurling the most fantastical charges at Trump’s immediate predecessor and demanding his eviction from the White House. Exhibits A through Z in any such retrospective can be found in a little noticed 2014 book titled Faithless Execution by the former federal prosecutor Andrew C. McCarthy, now a columnist for National Review, and a regular commentator on FOX News. According to its dust jacket, the volume “builds the political case for President Obama’s impeachment, setting forth the broad range of his high crimes and misdemeanors and willful subversion of the Constitution.” Faithless Execution begins with an introduction to the political cast and character of its principal villain. The formative background of “Barack Hussein Obama,” we are instructed, is the “left-wing fever swamp of Chicago’s ‘community organizing.’” The term “community organizing,” argues McCarthy, is a misnomer. In fact, what Obama called community organizing was nothing more than “a gussied-up term for systematic rabble-rousing” that aimed at the “pursuit of raw power.” (Gabriel Schoenfeld, The Daily Beast)
Selbst wenn das Impeachment nicht ohnehin ein politisches Instrument ohne echten Nutzen jenseits aktuell unvorstellbarer Extremfälle wäre (in etwa vergleichbar mit Deutschands Notstandsgesetzen), sein Nutzen als nur eine weitere politische Waffe im Arsenal der Republicans seit den 1990er Jahren hat es entwertet. Schon der Prozess gegen Clinton war eine frivole Spielerei mit der Verfassungskrise; das ständige Gerede von Impeachment in der Obama-Ära verwies das Instrument vollständig in den Bereich alltäglicher politischer Rhetorik. Stattdessen zeigt der obige Artikel noch einmal gut die völlig überzogene extremistische Rhetorik der Republicans aus jener Ära und verweist all die Artikel ins Reich des Bothsiderismus, die jetzt vor angeblich überzogener Dauerkritik Trumps warnen. Umso wichtiger ist es, dass die Democrats - wie sie dies bisher ja tun - im Fall Trump mit Gerede von Impeachment zurückhalten. Nicht nur ist aktuell (noch) nichts bewiesen; es ist noch nicht einmal klar, was für Vorwürfe eigentlich erhoben werde (könnten). Obgleich es mit jedem Tag wahrscheinlicher wird, dass Mueller irgendetwas Größeres über Trump an der Hand hat, bleibt es mehr als unwahrscheinlich, dass es einen erfolgreichen Impeachmentprozess geben könnte. Das Wort ständig im Mund zu führen erlaubt es den Republicans nur erst Recht, es als reine politische Rhetorik abzutun und ihren Präsidenten zu decken. Erfahrung damit haben sie ja mehr als genug.

4) Wo steckt die gute Hausfrau?
Die fünfziger und sechziger Jahre sind als „goldenes Zeitalter der Familie“ in die Geschichte eingegangen: viele Eheschließungen, viele Kinder, wenige Scheidungen, wenige Alleinerziehende. Die Rollen waren vorgegeben. Man muss das nicht zwangsläufig spießig finden. In die Rubrik „Beruf der Mutter“ trug ich als Schüler in den sechziger Jahren „Hausfrau“ ein. Das machte man damals ohne jegliche Scham. Niemand wäre auf die Idee gekommen, es sei peinlich, zuzugeben, die Mutter habe es zu nicht mehr als zur Hausfrau gebracht. Ich habe meine Mutter als stolze Frau in Erinnerung. Um sie auf ihre Pflichten vorzubereiten, hatten meine Großeltern die Tochter in den dreißiger Jahren in die Schweiz zu einer bürgerlichen Familie geschickt, „in Stellung“, wie das damals hieß, wo sie lernen sollte, einen Haushalt zu führen (kochen, nähen, putzen und das Haushaltsgeld zusammenhalten). Dass ihr eine ordentliche Aussteuer mit in die Ehe gegeben wurde, trug ebenfalls zum Stolz bei. Hätte man meiner Mutter gesagt, sie müsse nun die Balance zwischen Familie und Beruf finden, sie hätte das weder verstanden noch gewollt. Eine Tante ging damals in den sechziger Jahren in Stuttgart arbeiten: zum „Bleyle“, jenem mit Matrosenanzügen berühmt gewordenen, legendären Hersteller von Strick- und Wirkwaren, unter dessen kratzigen Wollhosen Generationen von Buben gelitten haben. Ich auch. Niemand hätte damals gesagt, die berufstätige Tante sei fortschrittlicher als meine Mutter, die Hausfrau. Wenn ich mir überhaupt etwas gedacht habe, dann womöglich, dass die Tante, weil kinderlos, aus häuslicher Langeweile zum Arbeiten ging. Am Geld hatte es nicht gelegen. Der Onkel arbeitete wie mein Vater bei der Bank und hätte seine Rolle als „Ernährer“ oder „Breadwinner“ gewiss auch für beide einigermaßen zufriedenstellend ausüben können. Zumal es damals noch eine echte Gender Pay Gap gab, will sagen, dass die Bezahlung von Frauen lausig war. [...] Zugleich wurde auch der Haushalt dem Design der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft anverwandelt: Hausfrauenarbeit, so hieß es nun, sei „gesellschaftlich notwendige Arbeit“, die genauso bezahlt gehöre wie alle andere Arbeit. So war aus der Familie eine kapitalistische Produktionsgenossenschaft geworden. Von da ist es nur noch ein kurzer Weg zu dem damals populären Buchtitel „Die Wirtschaft braucht die Frau“. Und die Frau war offenbar der Meinung, sie brauche die Wirtschaft: Als notwendige Bedingung zur Herstellung von Geschlechtergleichheit und zur Befriedigung eines Grundbedürfnisses nach Sinnerfüllung. Dieser Verheißung der kapitalistischen Erwerbsarbeit konnte und wollte sich am Ende kaum eine Frau entziehen. Koste es, was es wolle. (Rainer Hank, FAZ)
Rainer Hanks Artikel hat, höflich ausgedrückt, für einige Aufregung gesorgt. Man muss auch sagen, dass man einen prototypischen Artikel des "alten weißen Mannes" als Satire nicht hätte besser schreiben können, wenn man gewollt hätte. Was für ein Potpurri an ätzenden Seitenhieben, offensichtlicher Unfähigkeit zur Introspektive und Klischees! Hanks Glorifizierung der bürgerlichen Familie mit ihrer patriarchalischen Struktur, die damals schon ein nie erreichtes Idealbild war, das eine hässliche Realität versteckte, reicht in ihrer nostalgischen Verklärung schon ins Komische. Dazu kommt, dass seine Argumentation auch nicht sonderlich schlüssig ist. Wenn er etwa erklärt, dass es damals einen "echten" Gender Paygap gab (ANDERS ALS HEUTE WO DER FEMINISMUS GEFÄLLIGST DIE KLAPPE HALTEN SOLL WENN ALTE WEISSE MÄNNER REDEN), hat er natürlich insofern Recht, als dass eine eigene berufliche Karriere, egal wie bescheiden, für verheiratete Frauen mit einem starken Aprobrium behaftet war, was er ja durch die Herabwürdigung seiner arbeitenden Tante (die ja einen arbeitenden Mann hatte, was fällt der ein selbst etwas erarbeiten zu wollen!) direkt bestätigt. Nur was heißt das jetzt? Dass wir wieder einen Gender Pay Gap von mehr als 40% brauchen, damit das "Goldene Zeitalter" wieder komt? Richtig spannend wird es dann gegen Enden des obigen Auszugs, wenn Hank ohne große Probleme auch noch eine breite Kapitalismuskritik mit unterbringt. Denn nicht nur sind die Verheißungen der modernen Familie für Frauen der große Betrug, der sie von den goldenen Zeiten des Haushaltsdaseins abhält; dahinter steckt die "Verheißung der kapitalistischen Erwerbsarbeit", die man im Zusammenhang mit Hartz-IV sonst gar nicht genug betonen kann. Was nicht passt, wird passend gemacht. Einmal mehr zeigt sich die Mysogynie als Grundelement des rechten Konsens. Wenn man sich bei den Reaktionären schon nicht über vieles klar ist, so doch zumindest eins: die Frau gehört zurück in die Küche. Wahrlich ein düsteres Weltbild, das einem da aus der FAZ entgegenschlägt.

5) What will follow Emanuel Macron?
“We need to rid this country of its strike culture,” Gabriel Attal, a spokesman for Macron’s En Marche party, said in April as the country prepared for a massive transportation strike. France’s strike culture endures. Macron, with an approval rating of 23 percent, might not. The crisis Macron faces doesn’t just jeopardize his presidency; it also threatens the future of the ideology he rode to victory. A banker by trade, Macron took technocratic centrism and called it revolution, in the most literal sense. The 2017 book he wrote to outline his ideology is titled Revolution. And his entire political project, as he has detailed it publicly, is a transformative one, as if he and he alone can bring France creaking into the 21st century. Macron has been in office for a little over a year, and in that time, France has been rocked by strikes and protests that are beginning to accumulate a body count. One conclusion is that France, with a relatively robust welfare state and a vibrant history of radical protest, might not be such a natural fit for Macron and his technocratic reforms. But what could follow him? The yellow vests do not tilt obviously to the right or to the left. Anyone can put on a yellow vest and join, so the ranks of participants include high-school students and union workers and, yes, some far-right activists; these factions don’t necessarily have political interests in common with each other, and thus it’s not at all clear that the protests favor either France’s ascendant far right or its beleaguered left. But the political world is not bounded by the electoral prospects of the Marine Le Pen’s fascist National Front party or Jean-Luc Mélenchon’s left-wing Insoumise party. While the yellow vests might not have an obvious political identity, the movement does have a discernible political origin that traces its way back to Macron’s centrism. [...] That alone could have earned him a reputation as a threat to the working class. But Macron has also pursued his tax agenda alongside cuts to France’s famous social safety net, which likely cemented his reputation as an existential danger to the fortunes of struggling communities. In September 2017, he drastically reformed French labor law for the private sector. He did so via executive order in an elaborately staged event — an obvious provocation that followed two days of protest by French trade unions. (Sarah Jones, New York Magazine)
Frankreich scheint gerade den Dritten Weg im Schnelldurchlauf machen zu wollen. Von der Wahl des großen Reformers über dessen unpopuläre Kürzungen zu großen Protesten und dem folgenden kläglichen Zusammenbruch der Regierung in weniger als zwei Jahren. Rot-Grün brauchte dafür immerhin sieben. Warum diese Geschehnisse für viele so überraschend sind, erschließt sich mir nicht ganz. Dass Macron ein Schröder'sches Reformprogramm für Frankreich wollte, war bereits im Wahlkampf bekannt. Dass die Franzosen das mit großer Mehrheit ablehnen auch, genauso wie ihre, sagen wir, kulturell fest etablierte Vorliebe für handfesten politischen Protest. Dass die deutschen Eliten Macron in den Rücken fallen würden, nachdem sie 20 Jahre lang genau diese Art von Reformpolitik gefordert hatten, war leider ebenfalls absehbar.
Am Schlimmsten ist, dass Macron wohl nichts Gutes folgen wird. Sollte seine Regierung fallen (was nicht garantiert ist) und er die restliche Amtszeit als lame duck verbringen, darf angenommen werden, dass die Kräfte der Mitte zumindest stärker unter Druck sind. Bei der letzten Präsidentschaftswahl gewann Macron in einem Bündnis der Demokraten. Sowohl Mitte-links als auch Mitte-rechts warfen angesichts der populistischen Bedrohung ihren Stolz und ihre Wünsche über Bord und versammelten sich hinter Macron, nicht aus Überzeugung, sondern weil er die Alternative zu Le Pen war (Jacques Chirac könnte dazu auch ein paar Takte sagen). Ob diese Wähler nächstes Mal noch einmal auf die Stimme der Vernunft hören, darf bezweifelt werden.

It might seem unwise for a national political movement to make “open contempt for all of the fastest-growing parts of the country” a pillar of its messaging. But the structural biases of America’s governing institutions — which grossly inflate the electoral clout of low-density areas — make the gambit politically viable for the medium-term future (with a healthy dose of voter suppression, anyway). And anyhow, there is simply no way for the conservative movement to reconcile its ideological commitments with substantially improving its electoral performance in urban centers. [...] The Republicans’ aberrant ability to advance an unabashedly plutocratic economic agenda, while still winning elections, may be partially attributable to America’s exceptional individualism. But it is nevertheless (almost certainly) dependent on our country’s abysmally low voter turnout rates; a two-party system that gives the Republicans a monopoly on cultural conservatism; and the potency of racial demagogy in a nation founded on white supremacy. Which is to say: American conservatism’s electoral viability rests on the anti-democratic features of our political system, combined with the resilient strength of our nation’s cultural traditionalism, racial animosities, and vestigial distrust for centralized authority. Unfortunately for conservatives, those last three enabling factors are inherently less operative in big cities. That peculiarly American, anti-statist ethos that imagines churches and families as adequate stand-ins for the welfare state — and government regulation as inherently dubious — has long been anachronistic, even in rural America. But to the residents of major urban centers, the frontier ideology of “rugged individualism” is manifestly absurd. Millions of people can’t efficiently move about a 23-square-mile island without heavily regulated, centralized systems of public transit. Nor can human beings feel safe in the company of so many strangers, unless the state aggressively restricts the prevalence of deadly weapons. And since a significant portion of any city’s population consists of transplants seeking opportunity far from their hometowns, the idea that social welfare should be provided networks of kinship, rather than public programs, has little purchase in high-density zip codes. There is a reason why there were “sewer socialists” in Milwaukee before the 19th century even ended (and social democracy in New York City, before Ford let it drop dead): The logic of urban life bends toward collectivism. (Eric Levitz, New York Magazine)
Es gibt kein trennendes Element in unseren Tagen, das so relevant ist wie der Stadt-Land-Gegensatz. Weder Gender noch Ethnie noch Beruf oder Vermögen können mit so großer Wahrscheinlichkeit die Anfälligkeit für rechtspopulistische Wahlentscheidungen prognostizieren wie die Größe des eigenen Heimatorts und der Abstand zu den jeweiligen Metropolen. In Deutschland ist dieses Problem bei weitem noch nicht so ausgeprägt wie in Frankreich, Großbritannien, Ungarn, Polen oder den USA. Unsere föderalistische, dezentralisierte Tradition hilft hier: Berlin ist nicht gerade das wirtschaftliche Zentrum Deutschlands, und die Städte selbst spielen ebenfalls gegenüber dem flachen Land eine nicht ganz so dominante Rolle. Das hat Gründe. Die Tradition des deutschen Mittelstands etwa ist eine, der regionale Wirtschaftscluster schafft und damit gut bezahlte Arbeitsplätze außerhalb der urbanen Zentren. Diese Cluster finden sich hauptsächlich in den breiten Speckgürteln um die Städte selbst, oder in den kleineren, regionalen Städten. Um das am Beispiel Baden-Württemberg deutlich zu machen, haben wir etwa den Speckgürtel um Stuttgart herum (in dem ich selbst wohne) oder kleinere Kreisstädte wie Esslingen, Nürtingen etc., in denen recht viel wirtschaftliche Aktivität herrscht. Geht man weiter hinaus in die ländlichen Regionen trübt sich das Bild etwas ein, aber da im Ländle effektiv Vollbeschäftigung herrscht, sind die Zustände weiterhin ziemlich positiv.
Das führt dazu, dass die Bevölkerung zwar strukturkonservativ ist - es ist schließlich Baden-Württemberg - und eher traditionellen Rollenbildern und Gesellschaftsvorstellungen anhängt, aber trotzdem tolerant ist und weiterhin Parteien der Mitte wählt (vor allem CDU, FDP und Grüne). Wo diese Umstände nicht gegeben sind, gewinnen die Populisten. Das ist für West Virginia so wahr wie für die Sächsische Schweiz. Deswegen sind Geldlöcher wie Stuttgart21 oder der BER auch ein Problem, denn sie ziehen dringend benötigte Infrastrukturinvestitionen aus der Peripherie in die urbanen Zentren, als ob die noch mehr Förderung bräuchten. Wohin das führt, sieht man in den eingangs erwähnten Ländern.

The cuts are depleting the staff members who help ensure that taxpayers pay what they owe. As of last year, the IRS had 9,510 auditors. That’s down a third from 2010. The last time the IRS had fewer than 10,000 revenue agents was 1953, when the economy was a seventh of its current size. And the IRS is still shrinking. Almost a third of its remaining employees will be eligible to retire in the next year, and with morale plummeting, many of them will. The IRS conducted 675,000 fewer audits in 2017 than it did in 2010, a drop in the audit rate of 42 percent. But even those stark numbers don’t tell the whole story, say current and former IRS employees: Auditors are stretched thin, and they’re often forced to limit their investigations and move on to the next audit as quickly as they can. Without enough staff, the IRS has slashed even basic functions. It has drastically pulled back from pursuing people who don’t bother filing their tax returns. New investigations of “nonfilers,” as they’re called, dropped from 2.4 million in 2011 to 362,000 last year. According to the inspector general for the IRS, the reduction results in at least $3 billion in lost revenue each year. Meanwhile, collections from people who do file but don’t pay have plummeted. Tax obligations expire after 10 years if the IRS doesn’t pursue them. Such expirations were relatively infrequent before the budget cuts began. In 2010, $482 million in tax debts lapsed. By 2017, according to internal IRS collection reports, that figure had risen to $8.3 billion, 17 times as much as in 2010. The IRS’ ability to investigate criminals has atrophied as well. [...] The story has been different for poor taxpayers. The IRS oversees one of the government’s largest anti-poverty programs, the earned income tax credit, which provides cash to the working poor. Under continued pressure from Republicans, the IRS has long made a priority of auditing people who receive that money, and as the IRS has shrunk, those audits have consumed even more resources, accounting for 36 percent of audits last year. The credit’s recipients — whose annual income is typically less than $20,000 — are now examined at rates similar to those who make $500,000 to $1 million a year. Only people with incomes above $1 million are examined much more frequently. (Paul Kiel/Jesse Eisinger, Propublica/The Atlantic)
Die Republicans sind ein Haufen von gierigen Räubern, anders kann man das kaum sehen. Nicht zufrieden damit, ihre eigenen Steuersätze (und die ihrer reichen Freunde und Gönner) immer weiter zusammenzustreichen sorgen sie auch noch dafür, dass weit verbreiteter Steuerbetrug praktisch ungestraft bleiben wird. Die Regierungen dieser Partei hinterlassen eine fiskale Schneise der Zerstörung, wo immer sie auftauchen. Und jedes Mal ziehen die republikanischen Heuschrecken dann weiter in die Privatwirtschaft und lassen sich ihre Dienste mit Millionen vergüten.

8) The political tribalism of Andrew Sullivan
Sullivan claims that the modern West has lost Christian practice and gained, in its place, a monstrous political tribalism. It’s a looping, strange argument in which he stitches together eloquent reflections on the hollowness of human existence, musings about electronic distraction, and concerns that an ethos of materialist progress has replaced an appreciation of metaphysical awe, all to end in a slashing justification of his own political resentments. To be clear, I have no interest in litigating anyone’s faith. What I am interested in is American politics, and in this essay, Sullivan offers a nostalgic analysis of our current problems that has become popular among a certain class of pundits — David Brooks calls Sullivan’s essay a shoe-in for his annual Sidney Awards — but that doesn’t hold up to the slightest scrutiny, and in fact displays the very biases it laments. [...] To put this more simply, Sullivan is saying that Christianity lowers the stakes of political conflict. A politics moderated by Christianity is merely procedural because the fundamental questions of human dignity have been answered elsewhere. Absent the calming effects of Christianity, he continues, Americans look to politics to find their meaning, and that escalates the stakes of political conflict. Politics ceases to be procedural and becomes fundamental. Boundaries must be drawn and tribal membership policed. This is Sullivan’s diagnosis of our current divisions. [...] This is a relentlessly ahistorical read of American politics. America’s political past was not more procedural and restrained than its present, and religion does not, in general, calm political divides. What Sullivan is missing in these sections is precisely the perspective of the groups he’s dismissing. But if Sullivan’s essay fails as historical analysis, it succeeds as a metaphor for our times. What he has done is come up with a tribal explanation for political tribalism: The problem is not enough people like him, too many people unlike him. (Ezra Klein, vox.com)
Ich bin, was Andrew Sullivan betrifft, immer etwas zwiegespalten. Er ist auf der einen Seite einer der wenigen "guten" Konservativen, weil er eigenständig denkt und grundsätzlich ehrlich gegenüber seinen politischen Gegnern ist. Er unterstellt keinem Democrat Landesverrat und bringt zwar seine policy-Präferenzen klar zum Ausdruck (die ich praktisch durch die Bank nicht teile), aber argumentiert ähnlich wie Ezra Klein das in Fundstück 2 beschreibt wenigstensd in good faith. Gleichzeitig leidet er an der Krankheit vieler Konservativer zu glauben, es gebe irgendeinen harmonischen Zustand der Einheit, wenn nur alle seiner Position folgen würden und - das ist entscheidend - dass dieser Wunsch unpolitisch sei und alle Abweichungen von seinem eigenen Bild entweder "links" oder "rechts" sind. Das aber ist eine eher undemokratische Haltung. Sullivan ist nicht ein dem politischen Meinungskampf enthobener Weiser, der einen unpolitischen Stand gefunden hat, den jede andere vernünftige Person auch einnimmt. Er hat Überzeugungen, er hat Glaubenssätze, wie jeder andere auch. Diese müssen sich gerade im Meinungsstreit durchsetzen, und nicht durch ein Schwenken des magischen Einheitszauberstabs.

 9) Wo haben Frauen gleiche Chancen?
Das Bauchgefühl ist immer dagegen. Gegen Frauen. Gegen Migranten. Gegen Behinderte. ­Vorurteile spielen bei Bewerbungen eine Rolle. Das zeigen viele Studien, und das sagen Personaler selbst. Obwohl sie wissen, dass ein ausländischer Name nichts über Deutschkenntnisse aussagt. Obwohl sie wissen, dass nicht jede Frau Kinder kriegen will. Sie stellen unbewusst lieber Menschen ein, die ihnen ähnlich sind. Solange die meisten Personalchefs männlich sind, sind Frauen also im Nachteil. Maßnahmen dagegen gab es bisher wenig. Beim Symphonieorchester in Boston kam man aber schon in den Siebzigerjahren zu dem Schluss: Frauen können genauso gut Geige, Posaune und Flöte spielen wie Männer. Irgendwas muss also schieflaufen, wenn im Orchester fast nur Männer sitzen. Von da an mussten alle Bewerber hinter einem Vorhang spielen, und der Dirigent konnte nicht sehen, ob er einen Mann oder eine Frau hört. Plötzlich kamen viel mehr Frauen durch die Vorrunde, das Orchester wurde weiblicher. [...] Mütter in Deutschland haben Wahlfreiheit: zwischen Heimchen am Herd und Rabenmutter. Sogar Personalern sind Frauen unsympathisch, die nur zwei Monate Eltern­zeit im Lebenslauf stehen haben. Das hat eine Studie jüngst gezeigt. Frauen, die ein Jahr zu Hause geblieben sind, werden öfter zu Bewerbungsgesprächen eingeladen als solche, die weniger Elternzeit genommen haben. Bei Männern war kein Unterschied zu beobachten. Doch das Rabenmutterphänomen ist länderabhängig. In Amerika, Skandinavien oder Finnland ist es beispielsweise üblich, früh in den Beruf zurückzukehren. Und haben ausländische Firmen einen Sitz in Deutschland, ist die Kultur dort oft ähnlich wie in den Mutterkonzernen. Frauen in Führungspositionen sind selbstverständlicher, lange Elternzeiten werden dagegen kritisch betrachtet. [...] Ein Arbeitstag hat acht Stunden, eine Arbeitswoche 40. Hätten sich Frauen und Männer die Erziehungsarbeit immer geteilt, müsste über Teilzeitmodelle wohl nicht diskutiert werden. Sie wären der Normalfall und Kinderbetreuung wahrscheinlich Sache der Arbeitgeber. Präsenzpflicht, Überstunden und abendliche Meetings sind deshalb ein Indiz dafür, dass Männer in einer Firma die Abläufe bestimmen. Teilzeit und flexible Arbeitszeiten hingegen deuten auf gute Karrierechancen für Frauen hin - wenn auch Führungskräfte dies in Anspruch nehmen können. Bei Bosch und Telekom passen Führung und Freizeit zum Beispiel schon zusammen: Dort können sich zwei Mitarbeiter eine Führungsposition teilen. (Larissa Holzki, Süddeutsche Zeitung)
Was ich an den offensichtlich vorhandenen Diskriminierungen gegen Frauen im Erwerbsleben so faszinierend finde ist, wie das alles den Mythos der angeblich so effizienten Wirtschaft widerlegt. Ich glaube, deswegen ist auch die Ablehnung dieser Erkenntnisse (wie etwa Rainer Hanks schnoddrige Aburteilung des Gender Pay Gaps in Fundstück 4) so aggressiv. Auf der einen Seite macht die Wirtschaft angeblich alles besser als der (oft genug quotierende und automatisch befördernde) Staat; andererseits aber sollen Frauen doch bitte eh nicht in die Wirtschaft. Das führt dann dazu, dass die Leute ständig irgendwelche Rationalisierungen für die eigenen Vorurteile suchen und natürlich finden. Wenn ich aber mit der Grundüberzeugung rangehe, dass Frauen das eh schlechter machen als Männer oder nicht richtig wollen oder was weiß ich, dann legt sich schon auch ein anderer, "objektiver" Grund parat, warum man die nicht einstellen kann. Sich selbst belügen können schließlich alle Menschen gut. Deswegen braucht es entsprechende Regeln, freiwillige Selbstverpflichtungen helfen da nur wenig.

10) Weiler Bundespolizei hat Anfang 2018 illegale Einreisen mehr gemeldet - obwohl es weniger wurden
Die Flüchtlinge haben die Grenze mit der Basler Tram überquert, sie saßen in Reisebussen oder kamen zu Fuß: Wer in den ersten Monaten des Jahres 2018 die Pressemitteilungen der Bundespolizeiinspektion Weil am Rhein verfolgt hat, könnte denken, die Zahl der Menschen, die an der Schweizer Grenze unerlaubt in die Bundesrepublik eingereist sind – also ohne einen Aufenthaltstitel – sei stark angestiegen. Nur: Sie ist es nicht. Eigentlich ist sie laut Bundespolizei gesunken, im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 26 Prozent. Das erfährt aber nur, wer die einzelnen Pressemitteilungen im Zusammenhang betrachtet. [...] Eine Analyse der Badischen Zeitung zeigt: Im ersten Halbjahr 2018 hat die Bundespolizeiinspektion Weil am Rhein fast viermal so viele Pressemitteilungen ins Netz gestellt wie im zweiten Halbjahr 2016, als dort mehr Flüchtlinge als zu jedem anderen Zeitpunkt unerlaubt über die Grenze kamen. [...] Auch regionale Medien haben auf die Meldungsflut an der Schweizer Grenze reagiert. Im SWR etwa warnte die Bundespolizei in der ersten Jahreshälfte vor Migranten, die Mitfahrzentralen nutzten. Die Deutsche Presseagentur schrieb über Menschen, die auf der Ladefläche von Güterzügen einreisten. Der Südkurier widmete dem Grenzschutz eine ausführliche Reportage. Auch die Badische Zeitung berichtete mehrfach und intensiv über die Arbeit der Weiler Bundespolizei. [...] So haben Mitarbeiter in Weil am Rhein im ersten Halbjahr 2018 ungefähr 29 Prozent aller Bundespolizei-Pressemitteilungen zum Thema unerlaubte Einreise verfasst. In der zweiten Jahreshälfte 2017 waren es etwa 6 Prozent. [...] Wie die abstrakte Berichterstattung, die auf Statistiken beruht, könnten sich auch die auf einzelne Fälle bezogenen Polizeimeldungen auf das Sicherheitsgefühl des Lesers auswirken, sagt der Polizei- und Sicherheitsforscher Bernhard Frevel. Konkret zum Weiler Fall will sich der Professor der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen nicht äußern. Frevel sieht die gesellschaftliche Debatte aber nicht nur durch Fakten, sondern auch durch deren Bedeutungsrahmen beeinflusst. "Wir können feststellen, dass die Diskussion über Flucht in den vergangenen Jahren eng verknüpft wurde mit einer Gefährdung durch Kriminalität." (Daniel Laufer, Badische Zeitung)
Mal wieder ein gutes Beispiel "gefühlter Wahrheiten". Weil die Polizei denkt, dass die Leute fühlen es gebe mehr Verbrechen, meldet sie mehr, auch wenn es weniger werden. Das ist völlig absurd. Und der Mist landet und verbreitet sich dann in den Sozialen Medien als Meme von Pegida und AfD, und wenn die großen Medien den Bullshit, ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht nachkommend, nicht melden, schreien alle laut "Zensur!" und beklagen, wie dieses "Verschweigen" doch die AfD unterstütze. Es ist einfach Zeit, wesentlich entschlossener gegenzuhalten und sich nicht immer vom rechten Rand so in die Defensive drängen zu lassen. Es klappt doch auch immer problemlos, Hartz-IV-Horrorgeschichten als Einzelfälle abzutun und angesichts Polizeigewalt gegen linke Demonstranten auf deren nicht gerade weiße Weste zu verweisen. Warum können wir mit dem rechten Abschaum nicht auch so verfahren, warum muss man den immer "ernst nehmen"?

11) How Trump laundered the US foreign policy elite’s reputation
Washington should thank Donald Trump. Rarely has one man done so much to redeem so many reputations. Before Mr Trump’s arrival, America’s foreign policy elite were living on borrowed time. Most of them backed the Iraq war, the “global war on terror” and US unilateralism. They were co-architects of America’s greatest strategic errors since the Vietnam war — arguably worse. By doing so, they helped present China with its largest geopolitical advance since the Ming dynasty. Now most traditional foreign policy conservatives are members of the renegade “Never Trump” movement. Aside from local differences, they are hard to distinguish from their Democratic foreign policy crowd. Washington’s bipartisan think-tank elite was famously dismissed as the “blob” by an official in Barack Obama’s administration. For every problem, they usually advised a military solution. For the most part Mr Obama ignored their advice. Mr Trump does too. Yet by opposing a president despised by the establishment, their reputational slates are now wiped clean. [...] Today, Never Trumpers accuse the US president of wrecking the rules-based international order. They are right. Yet they were happy for Mr Bush to discard that order when he invaded Iraq. Mr Trump is also accused of incompetence. Again, his critics are correct. But his dislike of experts pales against Mr Bush’s appointment of interns and bible school graduates to help govern a foreign country. [...] In most professions, such a litany of errors would prompt a soul-searching. Heads would roll. Schools of thought would close down. The magic of Mr Trump is that by uniting the elites in revulsion against his abrasive style, he has restored their sense of moral self-belief. Last month, William Kristol, a leading Never Trumper and Iraq war cheerleader tweeted: “Shouldn’t an important foreign policy goal of the next couple of decades be regime change in China?” (Financial Times)
Ich habe bereits im letzten Vermischten darauf hingewiesen, dass die Neocons äußerst periphere Verbündete der Progressiven sind. Man sollte sie einbinden und mit ihnen arbeiten, wenn sie schon den Mut aufbringen mit Trump und der neuen, extremistischen GOP zu brechen, ja. Aber das heißt noch lange nicht, dass man vergessen sollte, was diese Leute angerichtet haben, besonders, wenn sie die exakt selben Rezepte jetzt wieder verkünden. Leute wie David Frum, Max Boot oder Tom Nichols haben von den Desastern der Bush- und Tea-Party-Ära ja wenigstens gelernt und distanzieren sich eindeutig davon, aber viele andere wollen einfach nur immer noch das "Project for a New American Century" fortführen und sehen dafür in der aktuellen GOP keinen Raum. Den sollten die Democrats ihnen nicht geben. Eine vernünftige Sicherheitspolitik wäre gut, da braucht man nicht zwischen den Extremen eines messianisch-aggressiven Exeptionalismus auf der einen und eines selbstbezogen-arroganten Isolationismus auf der anderen Seite zu wählen. Dazwischen ist reichlich Platz.

12) Tweet von Brendan Karet
Republicans. Abschaum der Erde.

Freitag, 14. Dezember 2018

Erdogan diskutiert ehrliche Sprachprobleme mit Merkel, Nahles, Trump und Merz - Vermischtes 14.12.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Trump on the coming debt crisis: "I won't be here when it blows up"
Since the 2016 presidential campaign, Donald Trump’s aides and advisers have tried to convince him of the importance of tackling the national debt. Sources close to the president say he has repeatedly shrugged it off, implying that he doesn’t have to worry about the money owed to America’s creditors—currently about $21 trillion—because he won’t be around to shoulder the blame when it becomes even more untenable. The friction came to a head in early 2017 when senior officials offered Trump charts and graphics laying out the numbers and showing a “hockey stick” spike in the national debt in the not-too-distant future. In response, Trump noted that the data suggested the debt would reach a critical mass only after his possible second term in office. “Yeah, but I won’t be here,” the president bluntly said, according to a source who was in the room when Trump made this comment during discussions on the debt.[...] “But there’s no doubt this administration and this Congress need to address spending because we have out-of-control entitlement programs,” Short said, adding, “it’s fair to say that... the president would be skeptical of anyone who claims that they would know exactly when a [debt] crisis really comes home to roost.” [...] But Gidley also passed the buck to the legislative branch. “While the president has and will continue to do everything in his power to rein in Washington’s out-of-control spending,” he said, “the Constitution gives Congress the power of the purse and it’s time for them to work with this president to reduce the debt.” (Asawin Suebsaeng/Lachlan Markay, The Daily Beast)
Die Ehrlichkeit Trumps in solchen Fällen ist ebenso verblüffend wie die Tatsache, dass es niemanden sonderlich zu interessieren scheint. Ich mache dafür auch den ständigen Polit-Zynismus verantwortlich. Wir sind alle so gewöhnt, dass jeder der Meinung ist, Politiker lügen eh (was überhaupt nicht stimmt), dass die echten Lügner da völlig aus dem Raster fallen. Trump ist natürlich ein extremer Fall, aber die Rechtspopulisten benutzen dieses Muster weltweit. Einfach krasse Behauptungen aufstellen und später wieder ignorieren; im Zeitalter von Post-Truth-Politics stört das eh keinen, am allerwenigsten die eigenen Anhänger, die das wahrscheinlich wieder als Ausdruck von "Stärke" nehmen. In dem Fall ist das besonders absurd, weil Trump mit der Missachtung des Defizit-Bullshits ja sogar Recht hat. Wir werden auf das Thema dieser Tage angesichts des Wechsels von Paul Ryan in die wohl dotierten Vorstandsetagen noch mehrfach zurückkommen, aber die Konservativen reden zwar immer davon, dass man den Haushalt ausgleichen müsse, aber die einzigen, die in den letzten 20 Jahren den Haushalt ausgeglichen haben, waren Democrats. Der einzige Dank, den sie je dafür erhalten haben, ist das beständige Abrollen des Klischees, sie würden nur Geld ausgegeben, während selbst nach unzähligen Lügen immer noch jeder den Konservativen glaubt, wenn sie mit Krokodilstränen das Defizit bejammern und Kürzungen im Sozialstaat fordern. Das Pack lügt, aber das dringt einfach nicht durch.

2) Das Prinzip Verleumdung
Sinan Selen hat eine der ungewöhnlichsten deutschen Beamtenkarrieren hinter und vor sich. Geboren wurde er in Istanbul, aufgewachsen ist er in Köln. Er studierte Jura, war für den Personenschutz von Kanzler Gerhard Schröder und Innenminister Otto Schily zuständig und jagte beim Bundeskriminalamt Terroristen. [...] Der frühere Journalist und heutige Verschwörungstheoretiker Oliver Janich hat auf YouTube ein Video gepostet, in dem er behauptet, Selen bekomme "seinen Job auf Wunsch der türkischen Regierung". Darunter finden sich etliche Kommentare: "Nur noch im Suff zu ertragen." Oder: "Wir Deutschen, wir echten Deutschen, sollen ausgemerzt werden. Unsere Vernichtung ist beschlossene Sache." Und schließlich: "Es fühlt sich scheußlich an, wenn die eigene Heimat zur Todesfalle wird." Selen war beim BKA in der Abteilung Staatsschutz, er diente in der Sonderkommission, die nach dem 11. September 2001 die Spuren der deutschen Todespiloten ermittelte. 2006 bekam er den Auftrag, die Suche nach den Attentätern zu leiten, die zwei Kofferbomben in Regionalzügen in Köln und Koblenz platziert hatten. Der Leitende Polizeidirektor a.D hat ziemlich viel dafür getan, dass dieses Land nicht zur "Todesfalle" wird. Dass er im Bundesinnenministerium als Referatsleiter auch für die Zusammenarbeit mit den türkischen Sicherheitsbehörden zuständig war, hat dazu geführt, dass Selen obendrein nun auch von links attackiert wird. Seine Ernennung sei eine "Hiobsbotschaft" für alle Linken türkisch-kurdischer Herkunft, schreibt etwa die linke Tageszeitung "Junge Welt". [...] Schaut man sich an, wer sich alles über Selen auslässt, fällt ein Name auf. Es ist der von Johannes Huber, stellvertretender Kreisvorsitzender der AfD im bayerischen Freising-Pfaffenhofen und Bundestagsabgeordneter. Er postete auf Facebook eine Montage, sie zeigt ein Hotel in der Türkei, das Logo von TUI und in dicken Buchstaben die eigentliche Botschaft: "Muslim wird neuer Verfassungsschutz-Vize der BRD." [...] Wie also kommt Huber zu seiner Behauptung? Ihm scheint die Frage unangenehm, er klingt verunsichert am Telefon. Ob man denn nicht wisse, dass er den Post bereits gelöscht habe. Ja, aber wie er überhaupt darauf gekommen sei, dass Selen Muslim sei. "Wieso ist das nicht richtig?", fragt Huber zurück. "Woher wollen Sie das wissen?" Leider könne er nicht mehr "im Detail nachvollziehen, ob ich es wusste oder vermutete". Drei Mal poste er am Tag und manchmal täten dies auch seine Mitarbeiter. Für ihn sei die Sache erledigt. (Georg Mascolo, Tagesschau)
Die vollkommene Ahnungslosigkeit, die diese Leute umgibt, ist neben ihrem offensichtlichen Hass das Ärgerlichste an ihnen. Ohne sich auch nur die Mühe zu machen, das kleinste bisschen zu recherchieren, werden einfach irgendwelche ausländerfeindlichen Klischees abgerollt. Türke? Muss ja von Erdogan gesteuert sein. So sind sie, die Türken, wie halt auch alle Deutschen von Merkel...oh, Moment. Und wo rechtspopulistische Kacke ist, finden sich wie in diesen Tagen so oft die Extremen von der Linken. Da wird dann, wohl im Geist des Internationalismus, auch gleich das große Stück der Ethnienkunde gefahren. Die Geburt als Schicksal, das kannst dir nicht ausdenken. Den Vogel schießt natürlich wieder die AfD ab. Wissen, vermuten, wo liegt schon der Unterschied, wenn man ein bisschen hetzen kann?

3) The lame-duck power grab
The peaceful uncontested transfer of power is the cornerstone of representative democracy—the critical moment where we see if political actors have embraced the spirit of cooperation and adherence to the rules that make self-government possible. There are laws for how we accomplish the orderly transfer of power, but the moment itself, the choice of a party or politician to honor to the will of the voters, is an act of democratic faith—a statement of belief in the American idea. It’s why Donald Trump earned wide condemnation when he hinted, during the 2016 election, that he would not concede the election in the event of a loss to Hillary Clinton. To reject the outcome of a fair election is to directly undermine the entire democratic project. Republicans in Michigan, Wisconsin, and North Carolina haven’t gone as far as to challenge the results of their respective elections, but their actions, which serve to hamstring the incoming body of duly elected officials, are movement in that direction. In national politics, Republican lawmakers are openly questioning the legitimacy of the Democratic House of Representatives victory, casting ordinary acts—the counting of ballots—as potentially insidious. Indeed, much of the Republican Party has already embraced voter suppression, extreme gerrymandering, and other methods to preserve legislative majorities in the face of popular opposition. The lame-duck power grab is just a natural next step. For all the attention on Donald Trump as a threat to American democracy, it’s these actions—from ordinary, almost anonymous, Republican politicians, uncontested by anyone of influence in the party—that are much more ominous. It’s one thing to jockey for partisan advantage, it’s something much more dangerous to treat democracy like a game of Calvinball, where the rules only count when they suit your interests. (Jamelle Bouie, Slate)
Das größte Problem ist hoffentlich kein Streit mehr um die Frage, ob die Republicans eine demokratische Partei sind. Sie sind es nicht. Das größte Problem ist, wie man dem entgegentreten soll. Sollen die Democrats es ihnen mit gleicher Münze heimzahlen und anfangen, sie institutionell zu bekriegen, oder sollen sie die andere Wange hinhalten und die Normen der Demokratie aufrechterhalten, auch wenn es sie massiv kostet und die andere Seite nicht reziprokiert? Die Antwort ist nicht einfach. Demokratien gehen unter, wenn ihre Normen zerstört werden. Und das passiert höchstwahrscheinlich, wenn die Democrats zurückschlagen. Es ist zwar möglich, dass die GOP dann zur Besinnung kommt, aber ich halte es nicht für wahrscheinlich. Stattdessen droht eine Eskalationsspirale. Aber auf der anderen Seite ist ein Halten des High Grounds zwar löblich, aber auch eine Partei alleine kann die Demokratie auf diese Art zerstören. Dass die SPD sich stets an die demokratischen Normen und Spielregeln gehalten hat war zwischen 1930 und 1933 schließlich auch nicht der ausschlaggebende Faktor im Untergang der Republik. Die Frage bleibt ungeheuer schwierig und wird mich hier im Blog sicherlich noch eine Weile beschäftigen. Wie so oft darf dies gerne als Aufruf zur Diskussion verstanden werden.

Merz’grundsätzliche Idee bestand darin, die meisten Steuervergünstigungen, Ausnahmen, Freibeträge abzuschaffen und den allmählich ansteigenden Steuertarif durch drei klare Stufen zu ersetzen: 12 Prozent Einkommensteuer bis 16.000 Euro, 24 Prozent bis 40.000 Euro, darüber 36 Prozent. Ökonom Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin rechnete damals aus, was das bedeutete. Etwa zwei Drittel der bundesdeutschen Steuerzahler*innen, 20 Millionen Bürger*innen, hätten weniger Abgaben entrichtet als vorher. Leute mit kleinen Einkommen sparten ein paar hundert Euro pro Jahr, Haushalte mit mittleren und höheren Gehältern (bis 250.000) dagegen einige tausend Euro – eine soziale Unwucht. Zusätzliche Belastungen wären auch auf Arbeitnehmer*innen zugekommen, weil beispielsweise die Freibeträge für Feiertags- und Nachtzuschläge weggefallen wären. Reiche Haushalte ab 500.000 Euro hätten allerdings mehr Steuern zahlen müssen. Eine andere Schlagseite des Modells: massive Einnahmeausfällen zu Lasten des Staates. Auf bis zu 28 Milliarden Euro jährlich hätten die Finanzminister verzichten müssen. Die potenzielle Einbuße im Bundeshaushalt betrug etwa fünf Prozent aller Ausgaben. Öffentliche Aufwendungen für Bildung, Polizei oder Straßenbau standen zur Disposition. Auf ein solides Konzept der Gegenfinanzierung hatte Merz verzichtet. [...] Auf dem politischen Markt ist eine radikale Steuerreformen derzeit jedenfalls nicht. Eher in der Diskussion sind kleine Änderungen wie die Abschaffung des Solidaritätsbeitrages. Auch unterscheidet sich die öffentliche Stimmung von 2003. Wegen der guten Wirtschaftslage profitiert der größte Teil der Bürger*innen jetzt von steigenden Verdiensten. Steuersenkungen sind nicht so relevant. Außerdem begrüßen viele, dass der Staat endlich mal wieder Geld ausgeben kann, um Schulen zu renovieren, Lehrer*innen und Polizist*innen einzustellen. Und die CDU erinnert sich daran, dass sie im Bundestagswahlkampf 2005 mit einem Merz-mäßigen Steuerkonzept – der Urheber hieß Paul Kirchhof – ziemlich baden ging. (Hannes Koch, taz)
Die Merz'schen Steuerversprechungen zeigen ein typisches Schema konservativer Reformideen: da werden Steuerkürzungen vorgeschlagen, die aus politischen Gründen zwar irgendwie alle betreffen, aber deren Löwenanteil bei den oberen paar Prozent rauskommt. Nun klingen Steuerentlastungen zwar immer erst einmal toll - wer will nicht weniger Steuern zahlen? - aber stoßen in diesen Zeiten völlig zu Recht auf wenig Gegenliebe in der breiten arbeitenden Bevölkerung. Was diese konservativen Reformvorschläge gemeinsam haben: Nie haben sie eine Gegenfinanzierung. Die kommt immer irgendwann später, vielleicht. Üblicherweise werden Leistungen gekürzt und, wesentlich häufiger, Schulden aufgenommen - über die man sich dann später wortreich beklagt. Die Linken kündigen wenigstens von Anfang an Steuererhöhungen an. Dieser immer gleiche Unfug kann natürlich von konservativer Seite auch deswegen so abgezogen werden, weil CDU und FDP in Deutschland und andere konservative Parteien in anderen Ländern dieses Thema im Endeffekt besitzen. Stefan Pietsch hat ja recht, wenn er beklagt, dass dieses Thema von links praktisch keine Rolle spielt. Deswegen ist es auch ein totes Thema. Linke diskutieren es gar nicht, und Rechte verlogen und selbstreferenziell. Auf diese Art und Weise bleibt die "Vereinfachung des Steuersystems" ein Evergreen, ähnlich wie "soziale Gerechtigkeit": Keiner stellt sich dagegen, jeder findet es im Prinzip gut, praktisch jeder findet jeden konkreten Reformvorschlag schlecht, und in Reden wird es konstant beschworen ohne dass etwas passiert. Und, genauso wie bei sozialer Gerechtigkeit auch, ist völlig unklar, ob das Steuersystem politisch gesehen überhaupt substanziell vereinfacht werden KANN.

Was hat Merkel über die vergangenen Jahrzehnte beibehalten? Eigentlich nur die Arbeitsweise, die mir immer sehr entgegen kam. Merkel geht mit gutem Selbstbewusstsein an Aufgaben heran. Sie informiert sich umfassend, lässt sich von Fachleuten informieren. Erst dann, wenn sie über großes Wissen verfügt, entscheidet sie. Sie macht das alles nicht arrogant oder hochnäsig, sondern eher nüchtern, lösungsorientiert und der Sache verpflichtet. Aber Merkel ist durchaus auch jenseits von Expertenmeinungen und Statistiken zugänglich. Vor allem zeigt sich das im kleinen Kreis, wenn sie mit Menschen beisammen ist, denen sie vertraut. Dann zeigt sich auch ihr feiner, hintersinniger Humor besonders schön. Die CDU ist unter Merkel politisch in die Mitte gerückt, manche Stimmen sprechen sogar von einer "Sozialdemokratisierung". Aber hat sie ihre Partei auch liberalisiert? Wirtschaftspolitisch hat sie es versucht, man denke nur an den Leipziger Parteitag 2004. Im Folgejahr hat sie die Bundestagswahl fast verloren. Aber eine gesellschaftspolitische "Sozialdemokratisierung" kann ich nicht ausmachen, die CDU ist ja keine linke Partei geworden. Gesellschaftspolitisch ist sie unter Merkel offener und moderner geworden, wichtig war auch, dass sie ihre Partei in mehrere Richtungen koalitionsfähig gemacht hat. Aber in vielen anderen Bereichen zeigte sich, dass die CDU eben doch nicht so liberal ist. Welche Bereiche meinen Sie? Drei Beispiele: Mit Law-and-Order-Projekten wie etwa der Vorratsdatenspeicherung war Merkel immer voll und ganz einverstanden. Ein nötiges Einwanderungsgesetz bekommen wir erst jetzt unter einem CSU-Innenminister, weil es nicht mehr argumentativ verhindert werden kann. Dann die Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften: Als Koalitionspartner wollte die FDP viel mehr erreichen, aber mit Merkel und der Union war das in den Jahren 2009 bis 2013 nicht zu machen. Wesentliche Schritte sind ja dann später gekommen, aber immer nur durch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Liberalität mussten Merkel und der CDU doch eher abgenötigt werden. (Oliver Das Gupta, Süddeutsche Zeitung)
Die Beobachtungen Leutheusser-Schnarrenbergers hier sind mehr als relevant. Die CDU unter Merkel ist, was die CDU eigentlich immer war: eine konservative Volkspartei der Mitte. Die NachDenkSeiten hatten durchaus Recht, das Narrativ von der "Sozialdemokratisierung" der CDU stets anzugreifen. Es war zwar griffig, aber analytisch nutzlos. Und wenn man etwa an die Große Koalition 2005-2009 zurückdenkt, war da auch nicht viel mit Liberalität. Schäuble als Innenminister kann einem ja heute noch Angstschweiß auf die Stirn treiben. Liberalität, um zur anderen weitsichtigen Beobachtung Leutheusser-Schnarrenbergers zu kommen, wird auch der neuen Vorsitzenden abgenötigt werden müssen. Die CDU wird vor allem durch zwei Faktoren zur Liberalität gezwungen: Einerseits durch ihre Koalitionspartner, ohne die sie auch weiterhin nicht auskommen wird (da der Bundesparteitag wohl ein Kooperationsverbot mit der AfD beschließen wird), und anderer seits durch die Bevölkerung. Denn die Natur der CDU als Partei der Mitte sorgte mehr als Merkel oder irgendjemand anders in den letzten 13 Jahren dafür, dass die CDU im Vergleich zu den Zeiten Kohls heute als liberaler wirkt. Wir sehen hier übrigens auch einmal mehr, dass es Quatsch ist, sie als "links" oder "sozialdemokratich" zu qualifizieren, selbst mit einer Lokalpräposition ("nach X gerückt"). Ein Norbert Blüm etwa wettert ja nicht umsonst seit Jahren gegen Windmühlen an. Es ist halt etwas komplizierter, als es die Schlagworte häufig deutlich machen.

6) The Neill deGrace Tyson and the carreers that weren't
What the summaries can miss—and what many of the write-ups of the matter, far beyond the blunt demands of the headline, can miss as well—is the fact that the claims in question are not, actually, just about sexual misconduct. The women who have come forward to share stories about Neil deGrasse Tyson have also been talking about a related, but different, indignity: the harm that the alleged misconduct has done to their careers. They are talking, in that, about something Americans haven’t been terribly good at talking about, even in the age of #MeToo: the radiating damage that sexual abuse can inflict on women’s professional lives. The smothered ambitions. The seeded self-doubts. The notion that careers can experience trauma, too. [...] Today, Amet talks about the ongoing effects the alleged rape has had on her body, on her mind, on her capacity to maintain relationships with other people. But her accusation extends beyond that: Amet also alleges that Tyson’s behavior led her to leave the graduate program she had worked so hard to be admitted to, and thus to stop nurturing aspirations of becoming an astrophysicist, and thus to give up her dream of becoming the first black woman astronaut. This is how Amet, addressing Tyson from the distance of diverged paths, put it in a blog post in 2014: “How does it feel to know that YOU are the reason there is one less black female galactic astronomer on this planet? Yes, YOU.” Ashley Watson—who served as Tyson’s driver and later as his assistant when his TV show, Cosmos, was filming in New Mexico—similarly frames Tyson’s alleged sexual impropriety as a matter of professional harm. As the months-long shoot came to its close, she has said, Tyson invited her to join him in his apartment for a bottle of wine; Watson, thinking he might use the occasion to offer her a job on another Cosmos shoot, accepted. (A glass of wine, though, she said.) In his apartment, Watson says, Tyson removed his shirt, began quoting the Nina Simone songs he started playing (“Do I make you quiver?”), and began confessing to her about his need for “release.” Tyson told her as well, Watson says, “I want to hug you so bad right now, but I know that if I do, I’ll just want more.” (Megan Garber, The Atlantic)
Der nächste Fall im sich beständig weitenden #MeToo-Skandal. Ich halte zwei Sachverhalte für wert, festgehalten zu werden. Das eine ist ein Muster in diesen Fällen: es geht jedes Mal um einen Missbrauch von Autorität. Ich glaube, dass viel damit zu tun hat. Es ist letztlich eine Frage von Manieren und Umgangsformen, was ja auch schon den deutschen Prototyp dieses Skandals damals um Brüderle unterlegt hat. Zu glauben, eine hervorgehobene Stellung sei mit einem freien Ausleben der eigenen Sexualität verbunden, ist bei Männern wohl weit verbreitet. Im Fall deGrasse Tysons ist dies besonders augenscheinlich. Die Einladung zum Wein kann kaum ausgeschlagen werden und hätte schon gar nicht ausgesprochen werden sollen, und von dem was dann laut der Anschuldigung folgte gilt dasselbe. Es ist ein offenkundiges Ausnutzen der eigenen Machtposition; ein Beherrschen des Raumes, in dem man sich befindet und quasi eine Deklarierung dieses Raums als Privatgebiet. Und daraus folgt die zweite Beobachtung, die diese Skandale unterlegt: es geht um Karrieren. Die Frauen, die in diesen Fällen Opfer sind, geraten in diese Situationen, weil sie von ihre Autorität missbrauchenden Vorgesetzten in unmögliche Positionen gedrängt werden. Eine Ablehnung dieser sozialen Annäherungsversuche (Einladung zum Wein, zum Scherzen zu zweit, was auch immer) kann sehr schnell Probleme mit dem jeweiligen Vorgesetzten verursachen, die die eigene Karriere behindern. Und wie man an der Reaktion deGrasse Tysons auf ihre ultimative Ablehnung sehen kann, ist diese Furcht auch nicht unbegründet. Die logische Reaktion kann dann auch nicht die Diskriminierung von Frauen sein, wie sie etwa Mike Pence betreibt. Stattdessen ist es an der Zeit, dass es endlich mit diesen Männlichkeitskonzepten aufhört. Wenn Vorgesetzte sich professionell verhalten würden und Anstandsregeln einhalten, wäre das kein Problem. Frauen bekommen das ja auch hin. Und falls es jetzt einem Kommentator in den Fingern juckt zu schreiben, dass das halt so die männliche Natur sei, dann drängt sich da die Schlussfolgerung auf, dass Männer für Führungspositionen wohl einfach emotional nicht geeignet sind. Aber daran glaube ich nicht. Ich glaube, dass es sehr bequem ist, ständig Entschuldigungen zu finden und sich nicht ändern zu müssen. Deswegen ist #MeToo auch so wichtig.

7) Wofür gibt es die SPD?
Die Bedeutung des Marxismus für die frühe Sozialdemokratie darf dabei nicht unterschätzt werden. Es ist vielfach beschrieben worden, dass er den Arbeitern als „Religionsersatz“ diente. Der feste Glaube an die Revolution, die unweigerlich und notwendig irgendwann kommen würde, verlieh Hoffnung, Halt und Sinn im oftmals trüben Alltag des Industrieproletariats. Die Formulierung von gemeinsamen „Glaubenssätzen“ war es erst, die aus der Sozialdemokratie eine Massenbewegung machte. Sie trug entscheidend zur Etablierung einer spezifischen Arbeiterkultur, eines gemeinsamen Ethos und einer weitgehend unwidersprochenen Gruppen- und Klassensolidarität bei, die sich bis weit in unsere Gegenwart erhalten konnte. Auch wenn der Marxismus, so wie „die letzten Dinge“ allgemein, in Godesberg aus der offiziellen Programmatik entfernt wurde, so konnten sich spezifische Traditionsbestände, nicht zuletzt was Rhetorik und Kultur angeht, noch lange halten – bis etwa zum Wahlsieg 1998 und dem Projekt der Neuen Mitte. Traditionsbestände, die auf erloschenen Grundlagen basieren, sind irgendwann aufgebraucht. Sie erscheinen dann künstlich, manchmal fast peinlich, und entfalten schließlich keine integrierende Wirkung mehr. Die SPD hat es aber in all den Jahren versäumt, ihre Sinnbestände wieder aufzufüllen und einen Ersatz für das Fernziel der Revolution und der klassenlosen Gesellschaft zu formulieren. Lange Zeit hat sie Herz und Verstand bedient. Heute hat sie sich dem reinen Pragmatismus verschrieben. Ohne mittel- und langfristige Vision ist sie zum Reparaturbetrieb des Bestehenden geworden. Erkennbar reicht das nicht, um gesellschaftliche Mehrheiten zu generieren. Der offizielle Erneuerungsprozess der Partei beschränkt sich bislang auf Oberflächenkosmetik. Im Regierungshandeln soll jetzt ein „Fahrplan“ definiert werden, der Themen herausstellt und mit Deadlines versieht. Es ist wohl nicht gewagt zu behaupten, dass dieses Vorgehen keine grundlegende Wende bringen wird. Gefragt ist also ein neues Leitbild, damit die SPD nicht zum Opfer ihres eigenen Erfolges wird. Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen: Wie wäre es mit einer ökologisch nachhaltigen Postarbeitsgesellschaft mit sozial gestalteter Digitalisierung in einem vereinten Europa, die den Wachstumsgedanken ganz neu definiert? Auf dem Weg zu diesem Fernziel sollte doch einiges möglich sein. (Karl Adam, Starke Meinungen) - Danke an J. S. für den Link.
Zu all den Thesen, woran der Niedergang der SPD festzumachen ist, gehört der Mangel an einer Vision mit Sicherheit zu den erklärungsmächtigsten. Schließlich können nicht einmal die eigenen Spitzenkandidaten eine überzeugende Antwort darauf geben, welche Rolle die SPD künftig eigentlich spielen soll. Wer ist die anvisierte Wählerschaft? Wie soll Deutschland in 10 Jahren aussehen? Und so weiter. Das alles ist bei der Partei völlig unklar. Bei den anderen geht das recht einfach. Die CDU - so wie jetzt. Die Grünen - so wie jetzt, aber grüner. Die FDP - so wie jetzt, aber mit weniger Steuern. Die LINKE - komplett anders, viel gleicher, gerechter und solidarischer. Die AfD - so wie jetzt, nur ohne Ausländer und Gleichberechtigung. Aber die SPD? Unklar.

8) Wie die SPD ihre Sprache vernachlässigt
Das größte Problem ist aus Sicht von Juso-Chef Kühnert, dass die Begriffe, die die SPD verwendet, oft zu kompliziert seien. Er nennt das Beispiel „doppelte Haltelinie“ bei der Rente. Gemeint ist damit, dass das Rentenniveau 48 Prozent nicht unterschreiten darf und der Beitragssatz bei 20 Prozent gedeckelt wird. Aber wer wisse das schon? „Das erschließt sich einfach nicht. Dabei ist Rente für die SPD eines der wichtigsten Themen, um eine Abgrenzung von der Union hinzubekommen“, sagt Kühnert. „Die SPD verwendet häufig bürokratische, technokratische und fachsprachliche Worte, von denen kaum ein Bürger weiß, was dahinter steht“, sagt auch der Marburger Linguist Heiko Girnth. [...] Zwar tue sich mit dem Prägen von Begriffen das gesamte linke Lager tendenziell schwer, sagt der Berliner Politikberater Johannes Hillje. „Aber die Grünen machen sich zumindest schon lange intensiv Gedanken darüber.“ Das sehe man etwa daran, dass sie häufiger von einer „Klimakrise“ sprechen, als vom „Klimawandel“, da Wandel zumindest im linken Lager positiv konnotiert sei. Die Linke sei wiederum gut darin, pointiert Feindbilder zu benennen – etwa die „Großbanken“ oder die „Großkonzerne“. [...] „Aber damit ein Frame sich festsetzt, muss man ihn konsequent benutzen.“ Hillje glaubt, dass es helfen würde, wenn die SPD einen Framing-Experten anstellen würde, der von Beginn an mitarbeitet an der Formulierung von Politikvorhaben. Vielleicht haben die Probleme mit dem Framing auch tieferliegende Gründe. Der Politikberater und Werbetexter Frank Stauss hat viele SPD-Wahlkämpfe begleitet. Er gibt zu bedenken, dass das klare Herausbilden von Sprache erst einmal „eine gewisse Klarheit in der Programmatik“ voraussetze. Daran arbeite die SPD derzeit. Er erinnert sich vor allem an ein Positivbeispiel aus den vergangenen Jahren: den Begriff „Bürgerversicherung“. „Das ist ein Wort, das die Gegner von Vornherein in Bedrängnis gebracht hat und gleichzeitig ein werbendes Wort für das eigene Vorhaben war.“ (Maria Fiedler, Tagesspiegel) - Danke an J. S. für den Link
Passend zu Fundstück 7 haben wir dieses Problem. Anders als der generelle Mangel an einer Vision ist das ein hausgemachtes Problem. Die SPD ist einfach ungeheuer schlecht im Wahlkampf. Das Ausmaß des taktischen Versagens der Partei, das anders als das strategische Versagen wirklich komplett in ihrer Macht liegt, ist einfach unglaublich. Absolute Grundkonzepte politischen Handelns werden offensichtlich nicht verstanden. Der Artikel oben ist länger und geht viel mehr ins Detail, ich empfehle ihn grundsätzlich. Ich muss beim Thema Wahlkampf und SPD auch immer an die Lektüre von Markus Feldenkirchens Schulz-Story denken, wo das ganze Ausmaß der Amateurhaftigkeit, Ziellosigkeit und schlichtweg Inkompetenz der gesamten Wahlkampfsstruktur überdeutlich wurde. Aber, und da sind wir wieder bei Fundstück 7, eine klare Programmatik ist halt auch notwendig, um eine klare Sprache zu haben. Ich muss ja in Narrativen und Begriffen denken und sprechen, und wenn diese kein Ziel haben, geht das auch nicht.

9) Tweet von Parker Molloy

Solcherlei Überschriften sind ein Problem, nicht weil sie faktisch falsch sind, sondern weil nachgewiesen ist, dass die meisten Artikel nicht gelesen werden, sondern nur die Überschriften. Dass der Artikel später die offensichtliche Lüge entlarvt ist irrelevant. So weit kommen die meisten Leute gar nicht. Auf diese Art und Weise betreiben die Medien zwar objektiv korrekten Journalismus, legitimieren aber ungewollt die Lügen Trumps, der AfD und Co. Es muss deutlich mehr Aufmerksamkeit dahin gehen, wie Überschriften wirken, und es muss aufgehört werden, falsche Aussagen ohne Kontext in Überschriften zu packen.

10) Tweet von Carlos Maza // Tweet von Negative Dunks
Diese Werbung von Yahoo hat völlig zu Recht viel Kritik abbekommen. Sie ist ein Musterbeispiel dafür, wie schädlich Bothsiderism ist. Da wird einfach eine Hass-Haltung gegenüber Migranten als eine von zwei gleichberechtigten, völlig normalen Haltungen betrachtet und der wünschenswerte Endpunkt in der Mitte gefunden. Hätte Yahoo zur Zeit des Holocausts bereits existiert, hätten sie auch den Mittelweg zwischen "Vernichten" und "nicht Vernichten" propagiert? Both sides and all? Das Beispiel ist extrem, aber es zeigt das Problem des Bothsiderismus auf. Nicht immer gibt es einen vernünftigen Mittelweg. Manchmal ist es notwendig und geboten, einen klaren Standpunkt einzunehmen. Die Fähigkeit zu erkennen, wann das ist, ist gerade nicht weit ausgeprägt. Und das ist ein Problem.

11) Die junge Elite verlässt die Türkei
Laut Angaben türkischer Statistiker verließen 2017 mehr als 250.000 Menschen das Land aus wirtschaftlichen, politischen, sozialen oder kulturellen Gründen - fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor. In diesem Jahr dürften die Zahlen aufgrund der Wirtschaftskrise noch einmal steigen. Es sind vor allem junge, gut ausgebildete Bürger, die der Türkei unter Erdogan den Rücken kehren: Fast die Hälfte der Emigranten ist zwischen 25 und 34 Jahre alt, 57 Prozent kommen aus Großstädten wie Istanbul, Ankara oder Izmir. Die wenigsten von ihnen wurden von der Regierung direkt verfolgt oder waren Repressionen ausgesetzt, wie es Oppositionelle oder Journalisten sind. Sie sehen, wie Öztürk, schlicht keine Zukunft mehr für sich in einem Land, in dem die Regierung die bürgerlichen Freiheiten immer stärker einschränkt. Im Frühsommer 2013 demonstrierten im Istanbuler Gezi-Park noch Hunderttausende Menschen für mehr Demokratie. Sie trugen Bilder in die Welt, wie man sie in Deutschland viel zu selten wahrnimmt, Bilder einer modernen, progressiven, säkularen Türkei. Jetzt ist es genau jene "Generation Gezi", die die Hoffnung verliert. [...] Der Exodus der Eliten dürfte die Entwicklung des Landes weiter hemmen. Schon jetzt steckt die Türkei in der schwersten Wirtschaftskrise seit Erdogans Machtübernahme 2003. Die Lira hat seit Jahresbeginn 20 Prozent an Wert verloren. Die Inflation stieg im Oktober auf den Rekordstand von 25 Prozent. [...] Die Regierung hat das Problem inzwischen erkannt. Industrie- und Technologieminister Mustafa Varank klagte unlängst darüber, dass das Land durch den Brain Drain Fachkräfte verliere. Erdogan versprach Akademikern, die aus dem Ausland in die Türkei zurückkehren, ein Monatsgehalt von umgerechnet 4000 Euro, deutlich mehr als der türkische Durchschnitt. Es ist nur fraglich, ob die Initiative Erfolg hat. Nur eine Woche nach Erdogans Ankündigung nahm die Polizei 13 Akademiker und Kulturschaffende fest, die angeblich die Gezi-Proteste organisiert haben sollen. Zwar sind die meisten von ihnen inzwischen wieder frei, die Razzia war aber sicher keine Werbung für den Standort Türkei. (Maximilian Popp, SpiegelOnline)
Insgesamt ist das wenig überraschend. Egal wo man hinschaut ist der Rechtspopulismus immer mit einer starken anti-intellektuellen Attitüde ausgestattet, die das geistige Leben austrocknet, ob Ungarn, Türkei, Polen oder was auch immer. Dazu kommt, dass seine wirtschaftlichen Konzept von Abschottung und arbiträrer Regulierung auch nicht taugen und die beruflichen Aussichten damit auch schlecht sind. Bedauerlicherweise hilft das wieder den Autokraten selbst: dadurch dass potenzielle Dissidenten das Land verlassen, verliert man zwar die Elite von morgen - gut ausgebildete, junge, aufstrebende Menschen - aber eben auch gleichzeitig potenzielle Unruhestifter. Die gleiche Mechanik stabilisierte ja auch die DDR. Links wie rechts, West wie Ost, die Mechanik der Autokraten, ihrer verfehlten Politik und der würgenden Verkrustung ist immer dieselbe.