Dienstag, 28. August 2018

Alles Lügen? Die wahren Kriegsursachen 1939

Sucht man nach den Kriegsursachen von 1939, stößt man bei Netzrecherchen fast unweigerlich über einen Vortrag von Generalmajor a.D. Gerd Schulze Rohnhof über die Ursachen des Zweiten Weltkriegs bei Faket News, der mittlerweile rund 62.000 Aufrufe hat. In diesem Video redet der Generalmajor rund eine Stunde lang auf Grundlage seines Buchs (Rezension der FAZ) über die Geschichte, die die deutschen Geschichtsbücher über den Beginn des Zweiten Weltkriegs nicht erzählen. Und diese Geschichte findet sich in den Geschichtsbüchern tatsächlich nicht. Die Frage ist daher: zu Recht?

Schulze Rohnhofs Vortrag, das sei gleich vorweg gesagt, ist ein strukturelles Desaster. Er springt zwischen Themen hin und her, ohne eine analytische Struktur anzubieten, was das Verständnis seiner eigentlichen Argumente erschwert und diese teilweise deutlich verwässert. Ich werde daher im Folgenden versuchen, seine Argumente etwas kohärenter zusammenzufassen und folge nicht der Struktur seines Vortrags.

Ein grundlegendes Problem Schulze Rohnhofs, auf das ich immer wieder zurückkommen werde, entspringt zum Teil aus dieser mangelnden Struktur, ist aber wesentlich dadurch begründet, dass er selbst kein ausgebildeter Historiker, sondern Amateur ist. Das ist sein Mangel an Kontext. Alle seine Argumente klingen grundsätzlich vernünftig, wenn man den jeweiligen Kontext nicht kennt. Eine Einbettung in einen solchen erfolgt aber nicht, und genau diese Einbettung ist das Kernarbeitsgebiet des Historikers. Jeder kann irgendwelche Akten lesen und dann die auffälligsten Zahlen atemlos vortragen, aber ohne Kontext wird die Interpretation dieser Zahlen mit Sicherheit in die Irre führen. Ich werde daher diesen Kontext bei den jeweiligen Argumenten Schulz Rohnhofs bereitstellen.

Der letzte generelle Kritikpunkt betrifft seine Quellen. Schulze Rohnhof erklärt immer wieder, dass er auf ausländische Quellen Bezug nehmen musste, weil in deutschen Geschichtsbüchern nichts zu den Themen zu finden sei. Ich nehme an, das liegt daran, dass er nur populäre Geschichtsbücher liest (zumindest interpretiere ich seine Einschränkung entsprechend), denn die befassen sich in Deutschland tatsächlich wenig mit dieser Geschichte, weil die Diplomatie der 1930er Jahre eher ein Nischenthema ist. Das gilt allerdings für die meisten Themen. Es gibt hier kein Schweigekartell; Schulze Rohnhof wird vielmehr ein Opfer des akademischen Betriebs. Leider schreiben deutsche Historiker a) wenig Bücher sondern mehr Artikel und b) im Vergleich zur angelsächsischen Welt sehr kompliziert und unverständlich.

Der interessierte Laie muss so auf die wissenschaftliche Lehrliteratur zurückgreifen, die nicht sonderlich ansprechend (oder leicht zu bekommen) ist oder eben auf die Übersetzung der deutlich besser lesbaren angelsächsischen Werke. Der deutsche Wissenschaftsbetrieb schießt sich da immer selbst in den Fuß. Nur stößt Schulze Rohnhof dann auf das übliche Problem des Amateurs: er kann die seriösen Werke nicht von den abseitigeren unterscheiden. Deswegen gerät er da teilweise an zwielichte Gesellen. Soviel zur Erklärung und Manöverkritik vorweg. Gehen wir zu den eigentlichen Argumenten.

Schulze Rohnhofs erstes Argument sind die Rüstungszahlen. Er vergleicht dabei die Heeresgrößen der europäischen Armeen in den 1930er Jahren. Mein erster methodischer Kritikpunkt ist, dass bei seinen Zahlen völlig unklar ist, auf welche Zeiträume er sich eigentlich bezieht. Manche scheinen sich auf 1933 zu beziehen, andere auf 1934 oder 1935. Das ist nicht super wichtig, aber irritierend. Sein Kernargument ist, dass ein Land, das dreimal so viele Soldaten unterhält wie sein jeweiliger Nachbar, offensichtlich eine Angriffsabsicht hege. Ein Land, das nur ein Drittel oder weniger der Heeresgröße seiner Nachbarn habe, kommuniziere damit dagegen offen seine Friedensabsicht.

Von dieser Idee ausgehend stellt Schulze Rohnhof fest, dass die französische Armee der deutschen im Maßstab 12:1 überlegen war und die polnische Armee im Maßstab grob 2,5:1. Aus dem Ruhrkampf 1923 und diversen Spannungen mit Polen sowie Gesprächen zwischen Frankreich und Polen zur militärischen Kooperation geht dann für ihn klar hervor, dass diese Länder aggressive Absichten gegenüber Deutschland hegten, während Deutschland - offensichtlich, angesichts seiner Heeresstärke - friedliebend war.

Diese Argumentation ist ein Paradebeispiel fehlenen Kontexts. Deutschland hatte keine so kleine Armee, weil es friedliebend war, sondern weil die Bestimmungen des Versailler Vertrags es dazu zwangen. Diese Bestimmungen existierten, weil die Nachbarn einen Angriff eines revisionistisch gestimmten Deutschland befürchteten - nicht zu Unrecht im Übrigen. Dazu braucht es auch keine 20/20 Hindsight; dass zumindest die rechten Parteien in Weimar (die den Großteil der Weimarer Zeit an der Regierung waren) die polnische Grenze nicht akzeptierten und auch mit militärischen Mitteln zu ändern trachteten war offener Konsens in Weimar; selbst ein so gefeierter zentristischer Friedenspolitiker wie Gustav Stresemann ließ nie einen Zweifel daran, zwar den Status Quo mit Frankreich, niemals aber den mit Polen zu akzeptieren.

Es gab also gerade seitens Polens sehr gute Argumente dafür, eine größere Armee als Deutschland zu unterhalten, da muss man keine polnischen Annexionspläne unterstellen. Die gab es durchaus, aber Polen hatte zu dieser Zeit keine Chance, sie umzusetzen - unter anderem, weil die angeblich so gegen Deutschland gestellten europäischen Nachbarn dies niemals zulassen würden. Hier mangelt es einmal mehr an Kontext, was nicht zuletzt im nächsten Argument deutlich wird: Deutschland habe aufrüsten müssen, weil der Ruhrkampf 1923 seine Schwäche angesichts eines aggressiven Frankreichs gezeigt habe. Das ist völliger Blödsinn. Die französische Invasion des Ruhrgebiets 1923 war 1933 bereits zehn Jahre her.

Seither hatten sich beide Länder aneinander angenähert und, das ist entscheidend, hatten einerseits den Grund für den damaligen Konflikt ausgeräumt (die Reparationszahlungen, die 1924 auf eine vertragliche Grundlage gestellt wurden). Andererseits war 1923 für die Franzosen ein außenpolitisches Desaster gewesen. Seit dem Ende des Ruhrkampfs garantierten Großbritannien und die USA die territoriale Integrität Deutschlands; eine Wiederholung der Ruhr-Invasion stand also ohnehin nicht in den Karten. Die zugrundeliegenden Konflikte waren 1933 ohnehin nicht mehr relevant. Der Versailler Vertrag lag in Trümmern. Deutschland hatte 1932 seine Reparationszahlungen unilateral eingestellt, und es hatte keinen französischen Einmarsch gegeben.

Schule Rohnhof ignoriert zudem völlig die Abrüstungskonferenz von Genf, auf der alle Staaten die Sicherheitsarchitektur neu verhandelten. Deutschlands Forderung war militärische Gleichberechtigung gewesen. Diese wurde ihm zwar bis 1932 (noch) nicht zugestanden; es war aber offensichtlich, dass die Beschränkungen von Versailles auch hier fallen oder zumindest aufgeweicht würden. Hitler kündigte diese Konferenz 1933 und begann unilateral mit der Aufrüstung, den Versailler Vertrag mehrfach brechend: 1935 mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und Gründung der "Wehrmacht" mit rund 1,5 Millionen Mann Friedensstärke, ebenfalls 1935 (sanktioniert durch Großbritannien im Flottenvertrag) durch den Aufbau einer neuen Hochseemarine und 1936 durch den Aufbau einer Luftwaffe und den Einmarsch ins entmilitarisierte Rheinland. In all diesen Fällen tat das weit überlegende und angeblich so aggressive Ausland - nichts. Aber dieser Kontext fehlt bei Schulze Rohnhof vollständig.

Der nächste große Punkt Schulze Rohnhofs sind die Spannungspunkte zwischen Deutschland und Polen. Er verweist zurecht auf die Ambitionen, die Polen um 1920 hegte und die paramilitärischen Methoden, mit denen es teilweise versuchte, größere Gebiete im Westen zu erlangen (im Osten eroberten die Polen in einem erfolgreichen Krieg gegen die Sowjetunion Teile der heutigen Ukraine und Weißrusslands). Diese Versuche scheiterten allerdings schnell. Schulze Rohnhof hat natürlich Recht damit, dass in deutschen Schulbüchern keine lange Geschichte der polnischen Vertreibungen aus den ihm im Versailler Vertrag zugesicherten Gebieten oder der Minderheitenpolitik in der Ukraine zu finden ist, aber das liegt daran, dass Zeit und Platz im Geschichtsunterricht knapp bemessen sind. Die Bedingungen des Versailler Vertrags werden besprochen, und da steht dann halt recht unemotional dass sieben Millionen Deutsche nun nicht mehr "Deutsche" waren sondern in Polen und der neuen Tschechoslowakei lebten. Dass das zu Spannungen führte steht in den Schulbüchern.

Diese Spannungen nun sind für Schulze Rohnhof Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation. Ein permanenter Streitpunkt zwischen Deutschland und Polen war der "polnische Korridor", jenes Stück Land zwischen dem eigentlichen Reichsgebiet und Ostpreußen, das Deutschland in zwei Teile spaltete und ein permanenter Wahlkampfschlager der Rechten war. Es war Polen in Versailles in der sicheren Erkenntnis zugesprochen worden, dass das Land ohne einen Zugang zu einem Ostseehafen niemals werde souverän sein können. Wir werden auf diese Problematik zurückkommen.

Neben diesem strategischen Dauerbrenner (Deutschland konnte Ostpreußen mit dem Korridor nicht als souveränen und ordentlich integrierten Teil seines Staatsgebiets halten, Polen ohne den Korridor keine souveräne Nation sein) gab es beständig Spannungen über die Behandlung der Deutschen in Polen. Schukze Rohnhof spricht hier von einer "humanitären Tragödie", die abzuwenden das größte (und legitime) Interesse der Nationalsozialisten gewesen sei. Einmal mehr mangelt es an Kontext.

Der polnische Staat besaß große Minderheiten: Auf der einen Seite die Deutschen im ehemaligen Westpreußen und in Polnisch-Schlesien, auf der anderen Seite die Ukrainer im Bereich östlich der Vistula. Da Polen ein neuer Nationalstaat und von Feinden umgeben war (sowohl Deutschland als auch die Sowjetunion machten keinen Hehl daraus, diese jeweiligen Minderheiten "befreien" zu wollen) und keine gefestigte nationale Identität besaß, tat es das, was alle Nationalstaaten zu dieser Zeit getan hatten: es führte eine Kampagne der "Polisierung" (wenn man das so nennen kann), erklärte Polnisch zur einzigen zugelassenen Sprache und unterdrückte die Minderheiten, die nicht ethnisch in die Mehrheitsgesellschaft passten: Deutsche und Ukrainer. Das war natürlich verwerflich; ungewöhnlich war es nicht. Bis 1918 hatten die Deutschen in diesen Gebieten dasselbe mit den Polen (und den Franzosen, Dänen und Belgiern in den mittlerweile verlorenen Elsass-Lothringen, Eupen-Malmedy und Nordschleswig) getan. Für die Rechten war das Schicksal der Volksdeutschen im Osten stets ein schöner Wahlkampfschlager gewesen. Eine Einordnung in den entsprechenden Kontext fehlt bei Schulze Rohnhof; er erweckt den Eindruck, als seien die Polen die einzigen, die das jemals so getan haben und die Deutschen tragische Opfer polnischer Aggressivität.

Völlig wirr wird Schulze Rohnhofs Argumentation dann, wenn er die Grenzklärung nach dem Ersten Weltkrieg effektiv in die 1930er Jahre schiebt. Sein Argument ist, dass Polens Ansprüche auf Posen und Westpreußen, die es teilweise mit Milizen abzusichern versuchte, in Deutschland "Ängste auslösten", die dann 1939 zum Krieg führten. Nur passierte das 20 Jahre zuvor! Bei Schulze Rohnhof fließt das alles ineinander über. Diese Ängste wurden in Deutschland durchaus ausgelöst, was dann auch zu Scharmützeln mit den extra zu diesem Zweck aufgestellten Freikorps führte. Nur legten die Verhandlungen in Versailles dieses Problem bei und zwangen Polen zum Rückzug, legten die Grenzen vertraglich fest. Einige dieser Grenzen wurden nach Volksabstimmungen gezogen, die Polen - da hat Schulze Reinhof durchaus Recht - zu verhindern suchte, aber (und das ist nicht unwichtig) damit nicht durchkam. Der Völkerbund unter französischer und britischer Aufsicht zwang die Polen damals zum Einlenken. Die Freikorps zogen dann ab und verlegten sich auf das Ermorden von Linken und Demokraten in Deutschland. Auch dieser Kontext fehlt bei Schulze Rohnhof komplett. Er verlegt die Mentalität von 1919 einfach direkt nach 1939 und ignoriert die 20 Jahre dazwischen komplett.

Diese zahlreichen Spannungspunkte nutzt Schulze Rohnhof, um Hitlers Angriff auf Polen 1939 zu rechtfertigen. Er nutzt dazu in wahrlich widerlicher Weise einen Vergleich zum Sechstagekrieg: Ähnlich wie Israel sei für die Betrachtung nicht entscheidend, wer den ersten Schuss abgegeben habe, sondern was davor geschah. Nazi-Deutschland mit Israel gleichzusetzen ist mehr als ein starkes Stück. Warum die schlechte Behandlung der deutschen Minderheit durch Polen (die unzweifelhaft ist) einen Vernichtungskrieg rechtfertigt, bleibt dabei unklar.

Das dritte große Argument Schulze Rohnhofs ist, dass Hitler 1939 eigentlich eine Verhandlungslösung anstrebte, diese aber durch das sinistre Ausland hintertrieben wurde, vor allem Großbritannien, die USA und Polen selbst, so dass ihm praktisch keine Wahl als Krieg blieb. Es ist dieser Teil, in dem Schulze Rohnhof endgültig den Pfad seriöser Geschichtsschreibung verlässt und, teils aus schlichter Unkenntnis, teils aus bewusster Selektivität, eine alternative Realität konstruiert. Seine Argumentation besteht aus mehreren Teilen. Erstens habe es unter Hitler durch nie dagewesene Zugeständnisse eine Annäherung Polens an Deutschland gegeben, die Polen und das westliche Ausland ihm dann quasi ins Gesicht geworfen hätten. Zweitens habe Hitler alle Konflikte friedlich beilegen wollen. Drittens hätten Großbritannien und die USA diese Verhandlungsversuche bewusst hintertrieben.

Der wie so oft fehlende Kontext ist dieses Mal der Hintergrund der Außenpolitik der 1930er Jahre. Ich will diese kurz in Grundzügen darstellen. Nach dem Ersten Weltkrieg war das alte Allianzensystem zerfallen. Die USA hatten sich aus Deutschland und dem Völkerbund zurückgezogen und zeigten keinen Willen, sich in Europa zu engagieren. Russland befand sich in einem Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Zaristen mit unsicherem Ausgang. In Osteuropa gab es einige neue Staaten, die den Kriegsverlieren (inklusive der SU) gegenüber feindlich eingestellt waren und deren Stabilität mit einem Fragezeichen versehen werden musste. Diese neuen Staaten fühlten sich offenkundig von Deutschland und Russland bedroht. Frankreich suchte aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs heraus ebenfalls Sicherheitsgarantien. Großbritannien bot diese dezidiert nicht und lehnte eine Allianz ab, so dass Frankreich eine Arme-Leute-Version seines Allianzsystems von vor 1914 wiederbelebte und Verteidigungsbündnisse mit Polen und der Tschechoslowakei schloss, was zur Abwehr deutscher Aggressionen unter den Beschränkungen von Versailles ausreichend war (und in Deutschland als beständige Erniedrigung empfunden wurde, worauf ja Schulze Rohnhof auch abzielt).

Deutschland seinerseits besaß als Pariah dieser neuen Staatenordnung kaum außenpolitischen Bewegungsraum. Ein Versuch, diesen durch eine Annäherung an die Sowjetunion zu gewinnen (Rapallo 1922) führte zu einer aggressiven Konfrontation mit Frankreich und Großbritannien, brachte die entzweiten Verbündeten wieder zueinander und endete im Ruhrkampf. Der neue Außenminister Stresemann zog daraus die Lehre, dass Deutschland sich im neuen System etablieren und vom Militär als Stärkefaktor abschwören und stattdessen auf seine wirtschaftliche (Export-)Stärke bauen müsse. (Klingt vertraut?) Folgerichtig schloss man Verträge mit Frankreich zur Lösung der Reparationsfrage, unterwarf sich den Regeln der liberalen Weltordnung und trat dem Völkerbund bei. Die Erniedrigung der Rüstungsbeschränkungen versuchte man bei der oben erwähnten Abrüstungskonferenz in Genf loszuwerden. Die Weltwirtschaftskrise führte zum Zusammenbruch der Demokratie in Deutschland und, entscheidender für diesen Zusammengang, der liberalen Weltordnung.

In das so entstehende Vakuum stieß nun durch einen historischen Zufall Hitler. Seine außenpolitische Zielsetzung war simpel: er akzeptierte (mehr oder weniger) den Status Quo im Westen und wollte ein riesiges Kolonialimperium im Osten erobern, auf dem Gebiet der Sowjetunion. Dieses Kontinentalreich hoffte er in Allianz mit dem Ozeanreich Großbritannien und seiner "arischen" Bevölkerung zu erreichen. Der Plan war völlig illusorisch und bar jeglichen Realismus; Großbritannien hatte nicht die geringste Intention, Hitler den Aufbau eines Kontinentalreichs zu gestatten. Die Mirage eines Bündnisses oder wenigstens der Neutralität Großbritanniens behielt für die Nazis trotz aller gegenteiliger Signale aus London bis zum 2. September 1939 eine ungeheure Wirkmacht, um danach in einen ebenso fiebrigen Hass auf das "perfide Albion" umzuschlagen.

Die Rolle Polens und der Tschechoslowakei in diesen Plänen schwankte, weil diese Pläne, in den Worten Kapitän Barbossas, eher grobe Richtlinien waren. Schulze Rohnhof spricht denn auch von einer Annäherung Deutschlands und Polens 1934/35. Er bleibt unklar, woher diese Annäherung stammte; er erweckt ein wenig den Eindruck es sei weil in Polen mit Pilsudski ein Diktator an die Macht kam und Diktatoren nun mal friedliebender sind als Demokratien - oder etwas in der Art, im Vortrag bleibt es wie gesagt unklar. Schulze Rohnhof macht jedenfalls eine Menge aus dem Nichtangriffspakt, den Hitler 1934 mit Polen abschloss. Dieser Vertrag erfüllte für Hitler vor allem eine Funktion: sich im Ausland als Friedensbringer präsentieren und den Boden für den endgültigen Bruch des Versailler Vertrags von 1935 zu bereiten. Einige Überlegungen dieser Zeit gingen auch dahin, Polen als Aufmarschgebiet und Helotenstaat gegen die Sowjetunuion zu verwenden, aber diese kamen nie über den Zustand halbgarer Überlegungen hinaus, und entsprechende Sondierungen liefen schnell gegen eine Wand. Spätestens 1938 war deutlich, dass dieser Nichtangriffspakt wertloses Papier war und Hitler ihn bei der erstbesten Gelegenheit brechen würde, wie er ja auch bereits in "Mein Kampf" angedeutet hatte.

Die zentralsten Ereignisse aber, die Schulze Rohndorf völlig ignoriert, sind die des Jahres 1938, denn die würden auch nicht in sein Narrativ vom friedliebenden Deutschland passen. Zur Erinnerung: Im März 1938 brach Deutschland den Versailler Vertrag erneut und zwang die österreichische Regierung zur Akzeptierung des "Anschlusses", der den souveränen Staat auslöschte. Möglich wurde dies durch den Seitenwechsel Mussolinis, der bis 1936 als Gegner Deutschlands agiert hatte und nach seinem Überfall auf Abessinien, der vom Völkerbund (sprich: Großbritannien und Frankreich) sanktioniert wurde neue Bündnispartner brauchte und seinen bisherigen Schutz Österreichs aufgab. Im September 1938 versuchte Hitler einen Kriegsgrund gegen die Tschechoslowakei zu schaffen, während seine Generale in blinder Panik herumliefen und einige der späteren Widerständler des 20. Juli Attentatspläne für den Fall eines Angriffsbefehls vorbereiteten.

Das geschah dann nicht, weil der britische Premier Chamberlain den Frieden zu wahren versuchte. Er zwang die tschechoslowakische Regierung zur Annahme eines Diktats (das berüchtigte "München"), das die Aufgabe des Sudetenlands und der dortigen strategisch wichtigen Ressourcen und Verteidigungsanlagen vorsah. Die Tschechoslowakei hörte damit auf, ein souveräner Staat zu sein. Hitler gab im Gegenzug eine Garantie für eben diese Souveränität ab, nur um sie im März 1939 zu ignorieren, in dem er in Prag einmarschierte, die Tschechei annektierte und in der Slowakei einen Satellitenstaat schuf. Diese Ereignisse laufen bei Schulze Rohndorf unter "der Zerfall der Tschechoslowakei", der ihm nur insofern wichtig ist als dass Polen sich damals ebenfalls einiger Territorien seines Nachbarn bediente. Schulze Rohndorf nennt Polen deswegen einen "Schurkenstaat", der damit den Angriff Deutschlands quasi verdient habe. Auf diese Logik muss man erstmal kommen.

All diese von ihm unterschlagenen Ereignisse sind extrem wichtiger Kontext, um Schulze Rohndorfs zentrale Erkenntnisse überhaupt einordnen zu können. Denn im März 1939, direkt nach dieser "Zerschlagung der Rest-Tschechei", wie es im Nazi-Jargon hieß (und der Annexion des Memellands), schloss Polen ein Bündnis mit Großbritannien. London hoffte damals, dass dies in Berlin als eindeutiges Zeichen verstanden werde, dass das Appeasement vorbei war. Die entsprechenden Statements konnten auch kaum missverstanden werden (auch wenn die Nazis, gefangen in ihrer Traumwelt, eben dieses Kunststück vollbrachten), und die Briten lehnten jede Verhandlung über den territorialen Status Polens wie in München kategorisch ab.

Diese Zusammenhänge sind Schulze Rohnhof entweder nicht klar oder er verschweigt sie bewusst, denn anders funktioniert seine Argumentation nicht. Er ergeht sich nun in seinem Vortrag (erneut, an mehreren Stellen, das Ding ist ein strukturelles Desaster) über die "Verhandlungsversuche" Hitlers. Niemand auf dem ganzen weiten Erdball - mit Ausnahme Josef Stalins - verhandelte im Sommer 1939 noch mit Hitler. Es war offensichtlich, dass man seinem Wort nicht trauen konnte (warum ausgerechnet der weltgrößte Paranoiker Stalin dies tat, wird wohl immer ein Mysterium bleiben). Seit März 1939 rüsteten Großbritannien, Polen und Frankreich fieberhaft auf. Großbritannien verpflichtete sich gegenüber Frankreich, im Kriegsfall sofort Truppen zu entsenden. Beistandspakte mit den BeNeLux-Staaten wurden geschlossen. All diese Vorbereitungen waren nicht geheim, sondern wurden den Deutschen deutlich kommuniziert - in der Hoffnung, Hitler damit abzuschrecken. Der ging aber weiter felsenfest davon aus, dass "die Alliierten" (wie er Großbritannien und Frankreich beharrlich nannte) blufften und ihm Polen lassen würden.

Schulze Rohndorfs Fixierung auf Hitlers Angebote ist daher reine Phantasterei und zeigt einen grundlegenden Mangel an Verständnis über die Funktionsweise von Diplomatie. Jeder Verhandlungsversuch setzt voraus, dass dem Gegenüber entweder vertraut werden kann (etwa innerhalb der NATO Prä-Trump) oder dass die Vertragsbestimmungen erzwingbar sind (was etwa auf Handelsverträge über die WTO zutrifft). Das ist bei Hitler entschieden nicht so. 1938 und 1939 hatten ausdrücklich bewiesen, dass das Wort des Diktators keinen müden Pfifferling wert war. Erzwungen werden konnte auch nichts: Die deutsche Aufrüstung (kontra aller Versailler Prinzipien) hatte alle früheren Erzwingungsmechanismen wie die Entmilitarisierung des Rheinlands hinfällig gemacht. Es gab nur noch die Option des Ultimatums, die durch die direkte Kriegsdrohung hinterlegt war. Niemand zweifelte daran, dass Hitler Krieg wollte. Hitler hoffte, dass die Alliierten ihn nicht wollten. Das war korrekt, aber weder Paris noch London noch Warschau hegten im August 1939 die Illusion, ein Zugeständnis gegenüber Deutschland könnte mehr als ein weiterer Aufschub sein. Die Alliierten zogen im September resigniert, aber entschlossen in einen Krieg, den Deutschland nicht gewinnen konnte - und der die Sieger verwüstet und für immer transformiert zurücklassen würde. Aber gerade Großbritannien sah die Zukunft damals mehr als deutlich, wie man aus den Debatten im Kabinett und im Unterhaus klar erkennen kann.

Die Verschwörungstheorie von einer englischen Kriegshetze, die Polen unverantwortlich zur Ablehnung der deutschen "Verhandlungsvorschläge" gebracht hätte, ist daher eine Erfindung. Großbritannien, Polen zur Ablehnung der deutschen Ultimaten (nichts anderes waren diese "Verhandlungs"vorschläge) ratend, affirmierte nur noch einmal seine Bereitschaft, das Bündnis vom März zu ehren. Es war ein letzter Versuch, Hitler abzuschrecken. Bei dem fiel er freilich auf taube Ohren, zu sehr war er zum Krieg entschlossen. Wir wissen das aus zahlreichen Gesprächsprotokollen, Anweisungen, Planungen und so weiter aus der Nazizeit. Es besteht unter Historikern exakt kein Zweifel daran. Schulze Rohnhof referiert zum Beleg eine Verschwörungstheorie von der Fälschung eines Hitlerzitats für die Prozesse in Nürnberg. Aber selbst wenn das stimmte - was es nicht tut - gäbe es eine Flut anderer Beweise.

Der Lieblingsbeleg von Revisionisten zum "Beweis" britischer Kriegstreiberei ist dann immer der Vermittlungsversuch des schwedischen Industriellen Birger Dahlerus. Dahlerus war ein Freund von Hermann Göring, der versuchte, über den Kontakt zu einigen britischen Industriellen einen letzten Vermittlungsvorschlag zu machen. Zwar nutzen Staaten manchmal solche Kanäle, wenn offene Kommunikation nicht möglich ist (legendär ist die Nutzung solcher Umwege etwa für die USA, die auf die Art mit Kuba und Iran redeten, ehe Obama endlich die Stille durchbrach). Aber in diesem Fall gab es das nicht. Weder Hitler noch Chamberlain wollten verhandeln. Dahlerus wird in der Erzählung der Revisionisten zu einem Botschafter hochstilisiert, dessen Mission in London völlig blockiert wird. Tatsächlich hatte er weder eine Verhandlungsvollmacht für Deutschland (die deutsche Regierung sah ihn als nützlichen Idioten, weil er Propagandamunition lieferte, aber nicht mehr) noch irgendwelche Verhandlungspartner in Großbritannien, wo er mit einem Gremium von Industriellen redete, die verzweifelt versuchten ihm klar zu machen, dass England es ernst meinte. Davon überzeugten sie Dahlerus am Ende auch, der diese Schlussfolgerung an Göring weitergab - wo sie zwar zu keiner Kursänderung, wohl aber einer Last-Minute-Panikattacke beim Befehlshaber der Luftwaffe führte. Nach dem Krieg gewann Dahlerus selbst die Überzeugung, von den Nazis benutzt worden zu sein.

Soviel zu den Verhandlungskanälen. Um was sollte es aber in den Verhandlungen gehen? Der Knackpunkt im Sommer 1939 war der Korridor. Wenn Hitler auch nur die geringste Aussicht darauf haben wollte, ohne polnische Hilfe oder vorherigen Eroberung gegen die Sowjetunion vorzugehen, brauchte er den Korridor (damit die Truppen über Ostpreußen marschieren konnten), aber dieses strategische Argument spielte da schon keine Rolle mehr; die Unterwerfung der Polen war bereits beschlossene Sache. Hitler hätte die Vernichtung des polnischen Staates noch aufgeschoben, sah vielleicht sogar eine Rolle ähnlich der Slowakei für ein territorial zusammengestümmeltes Polen. Aber das war nichts, was der polnische Staat akzeptieren konnte, und ohne den Druck (und die Zustimmung) Londons würde das auch nicht passieren. Schulze Rohnhofs Argumentation dreht sich nun um das Ultimatum, das Hitler - als Verhandlungsangebot getarnt - den Polen in diesen Sommertagen zukommen ließ.

Tatsächlich handelt es sich um eine lose Abfolge von Forderungen, die Schulze Rohndorf alle munter durcheinander wirft, wie er sie gerade für seinen Vortrag brauchen kann (erneut, strukturell furchtbar). Zum einen geht es um den Status Danzigs. Die Stadt, die zu über 90% von Deutschen bewohnt war, war seit 1919 unter Völkerbundmandat, was effektiv polnische Verwaltung bedeutete. Danzig war Polens einziger ernstzunehmender Ostseehafen und, wie erwähnt, für seine Souveränität unerlässlich. Ich werde gleich ausführen warum. Deutschland forderte seit 1919 eine Volksabstimmung zur Regelung des Status' der Stadt (Deutschland oder Polen), aber dessen Ausgang wäre unzweifelhaft. Zum anderen ging es um den Status des polnischen Korridors. Dieser war wesentlich problematischer als Danzig; zwar war das Territorium insgesamt mehrheitlich deutsch (wenngleich knapp), aber regional höchst unterschiedlich. Deutschland verlangte eine allgemeine Volksabstimmung, die regeln sollte, wem das Land zufiel. Auch hier wäre das Ergebnis klar gewesen. Eine Abstimmung nach ethnischen "Siedlungsgebieten" hätte den Korridor zerstückelt, was eine offensichtlich blödsinnige Lösung gewesen wäre. Zum dritten verlangte Deutschland das Recht, eine extraterritoriale Autobahn durch den Korridor bauen zu können, um so die polnischen Zölle zu umgehen. Dies war die nachvollziehbarste Forderung und die, wo ernstgemeinte Verhandlungen hätten einen Kompromiss ergeben können. Und zum vierten ging es um ein technisches Problem: Deutschland bezahlte für die Bahnfahrten mit Rohstoffen nach Ostpreußen (das wirtschaftlich völlig vom Kernland abhängig war) eine Kompensation an Polen - in Zloty. Deutschland forderte nun, diese in Reichsmark bezahlen zu können.

Wo also war das Problem mit diesen Forderungen, die Schulze Rohndorf als Beweis der reinen Friedenslust Deutschlands und der völlig irrationalen Kriegshetze Polens und Großbritanniens dienen?

Einmal wäre da Danzig. Ohne einen eigenen Ostseehafen wäre Polen für seinen Handel komplett auf das Wohlwollen Deutschlands (oder der Sowjetunion) angewiesen. Dieses hatte es offensichtlich nicht. Gäbe Polen Danzig auf, würde es sich unter die Hegemonialherrschaft Deutschlands begeben.

Zum anderen wäre da der Korridor. Für den gilt dasselbe, nur verstärkt, lebten doch hunderttausende von Menschen - zu einem Gutteil Polen - dort. Kein Land der Welt kann einfach ein paar hunderttausend seiner Staatsbürger aufgeben. Diese Forderung ist dazu da, abgelehnt zu werden.

Zum dritten ist da die Forderung nach der Autobahn. Theoretisch gesehen wäre hier schon eine Einigung möglich, aber natürlich waren die Verkehrswege nach Ostpreußen für Polen eine Devisen- und Einnahmequelle. Warum sollten sie die aufgeben, noch dazu ohne Gegenleistung? Denn eine solche boten die Deutschen ja nicht an.

Zum vierten ist da die Forderung nach der Zahlung in Reichsmark. Hieran hängt sich Schulze Rohndorf besonders auf und versteht einfach nicht, dass Polen dieser deutschen Forderung - so friedliebend! - nicht nachgibt. Warum sollte es? Jedem halbwegs informierten Ökonomen war 1939 klar, dass die Reichsmark ein wertloses Stück Papier war. Dagegen war der Zloty der Schweizer Franken auf Speed. Zudem konnte sich Polen von den Reichsmark nicht einmal in Deutschland selbst etwas kaufen, weil die deutsche Wirtschaft spätestens seit 1936 komplett auf schuldenfinanzierte Rüstung umgestellt war. Dieses "Angebot" läuft daher auf die Bezahlung mit wertlosen Papierbons hinaus und ist nichts, was Polen hätte annehmen können.

Keiner dieser "Vorschläge" ist etwas anderes als eine Forderung oder ein Ultimatum. Es sind "Verhandlungen", keine Verhandlungen, wie ich an anderer Stelle einmal erklärt habe. Das einzige Gegenangebot, das Hitler machte, war einrseits die Anerkennung der polnischen Grenzen nach den erwünschten Gebietsgewinnen. Genau diese Garantie aber war vollkommen wertlos, denn die Tschechoslowakei hatte dieselbe Garantie im September 1938 ja auch erhalten und war im März 1939 trotzdem zerstört worden (was bei Schulze Rohndorf zum passiven "Zerfall" wird). Andererseits bot Hitler die Anerkennung der polnischen Gewinne aus der Zerstörung der Tschechoslowakei, aber die waren nicht Hitlers zu geben und besaßen in etwa die gleiche Bindekraft. Hitler bot in der Realität also gar nichts. "Soviel zur angeblichen Verhandlungsunwilligkeit Hitlers, die unsere Schulkinder lernen müssen". Ja, soviel dazu, Herr Schulze Rohnhof.

Das war allen Beteiligten klar. Die Polen machten deswegen "obwohl die Gespräche noch laufen" (O-Ton Schulze Rohnhof) mobil (die deutsche Wehrmacht stand ja bereits seit Wochen Gewehr bei Fuß). Dass Hitler erst jetzt, in den letzten Augusttagen, der Wehrmacht den formellen Angriffsbefehl gibt, ist dem Autor Beweis der Verhandlungsabsicht. Der gelernte Soldat ignoriert dabei wohlfeil, dass Armeen für gewöhnlich nicht über Nacht offensivbereit sind. Die Vorbereitungen für den Fall Weiß liefen schon länger (wenngleich unverantwortlich kurz, was die Wehrmachtsgeneralität schier in die Hysterie trieb). Bei Schulze Rohndorf wird das zu seiner "Reaktion" Hitlers.

Daher kam es ja auch zu dem Schachern um die Unterstützung der Sowjetunion. Briten und Franzosen hofften, in dem unvermeidbaren Krieg gegen Hitler die Sowjetunion als menschlichen Schutzschild zu gewinnen und so das Leben ihrer eigenen Bürger zu schützen. Stalin sah das ziemlich klar. Briten und Franzosen boten ihm ungeheur viel - wesentlich mehr, als sie noch ein halbes Jahr zuvor zu geben bereit gewesen waren - aber Deutschland bot etwas, das die Alliierten nicht bieten konnten: den Ostteil Polens. Die Verhandlungen der Alliierten mit Stalin behandelt Schulze Rohnhof dabei als ein ungeheures Geheimnis, das er aufgedeckt hat; dabei stehen sie in jedem seriösen Geschichtsbuch. Ähnlich steht es um die Informationen Roosevelts: dieser, so Schulze Rohndorf, habe von dem unterzeichneten Geheimprotokoll erfahren, dieses den Polen aber nicht weitergegeben, sondern ihnen gesagt, sie sollten in der Korridorfrage hart bleiben, sonst hätten sie "sicherlich anders gehandelt". Auch hier handelt es sich um eine Verschwörungstheorie: die Amerikaner fanden das Zusatzprotokoll in den deutschen Akten, als sie 1945 einmarschierten und hielten es Stalin in den Verhandlungen von Potsdam unter die Nase.

Die Verhandlungen vom Hitler-Stalin-Pakt sind für Schulze Rohndorf Anlass für eine weitere Räuberpistole: Joachim Ribbentropp, der damalige NS-Außenminister, sei von dieser Forderung Stalins völlig überrascht worden. Er habe nur damit gerechnet, eine Bestandsgarantie der baltischen Staaten zu verhandeln, sei "perplex" gewesen. Natürlich. So was schreiben Staaten immer in Geheimprotokolle. Die fiebrigen Verhandlungen im Sommer 1939 waren ein Verkauf der sowjetischen Unterstützung an den Meistbietenden, und Hitler war sich sehr darüber im Klaren, was er hier kaufte: eine gigantische Militärgrenze mit dem ultimativen Objekt seiner Begierde, und eine freie Hand Polen zu besiegen und, nun aber endlich, Frieden mit Großbritannien zu schließen. Es kam anders, aber das war mehr Zufall. Schulze Rohnhof hat schon Recht, dass er "mit dem Rücken zur Wand" stand und Stalin im Endeffekt alles zugestehen musste, was der wollte. Aber daran war Hitler selbst Schuld. Er hatte sich auf Krieg festgelegt, ohne seine eigenen Flanken zu decken (was er dem Militär vorher hoch und heilig versprochen hatte, ein weiteres gebrochenes Versprechen in einer endlosen Reihe). Dass Stalin ihn aus diesem selbstgeschaffenen Dilemma befreite ist ein Treppenwitz der Weltgeschichte.

Das letzte große Argument, das Schulze Rohndorf in seinem Vortrag auffährt, ist, dass die Akten und Quellen systematisch gefälscht und verzerrt würden. Er redet von Unterdrückung ("fadenscheiniges Argument Verhandlungen nicht stören zu wollen") und tut so als ob das alles unbekannt sei und er es aus den Akten ausgegraben hat. Das ist Blödsinn. Nichts von den Fakten, die er nennt, ist umstritten. Schulze Rohndorf redet etwa viel über die Weißbuch-Akten des Auswärtigen Amts und dass sie redigiert sind. Natürlich sind sie das; Weißbücher sind Selbstdarstellungen. Historiker nehmen die deswegen auch nicht als Primärquelle, das machen nur Amateure wie Schulze Rohnhof.

Aber wenn man nur Schulbücher und abseitige Autoren liest, dann ist man natürlich von allgemein bekannten Fakten überrascht und kann sich über das "einfache Geschichtsbild über Hitlers Alleinschuld aus dem Geschichtsunterricht" echauffieren. Die Quellen sind frei zugänglich, wei Schulz Rohndorfs unerträgliche Machwerke deutlich zeigen. Allein, die Fähigkeit, sie in der Bibliothek herauszuziehen und zu lesen ist wenig hilfreich, wenn man nicht in der Lage ist, sie zu analysieren und einzuordnen. Das ist, nebenbei bemerkt, auch der Grund, warum wir im Geschichtsunterricht nicht mehr Daten und Fakten auswendig lernen, was dann Leute wie Schulze Rohndorf zu der Feststellung treibt, man lerne im Geschichtsunterricht nichts mehr - wo sie selbst am deutlichsten zeigen, warum es diese neue Art des Unterrichts dringend braucht.

So kommt Schulze Rohndorfs Fazit im Vortrag aus dem Nichts: "Das waren die Verhandlungsbemühungen Hitlers, die den Krieg nicht verhindern konnten. Wir haben gefälschte Geschichte lernen müssen."

Nein, Herr Schulze-Rohndorf. Sie verstehen sie nur schlicht nicht.     Der Stoff, aus dem Mythen sind

Montag, 27. August 2018

Warum ein Handyverbot in Klassenzimmer und Hörsaal falsch ist

In der FAZ plädiert der Wiener Juraprofessor Milos Vec für ein Handyverbot im Hörsaal. Er beschreibt seine redlichen Bemühungen um eine Einbindung von Smartphones und Tablets in seine Vorlesungen durch interaktive Tools und Wissensabfragen, hat aber mittlerweile aufgegeben und vertritt nun ein Komplettverbot der Geräte. Dafür fährt er mehrere Argumente auf, die dankenswerterweise alle deutlich durchdachter als der übliche kulturpessimistische Mist à la Manfred Spitzer sind. Zum einen beklagt er die "Asymmetrie" in der Wissensvermittlung; der Stoff habe keine Chance gegen die Ablenkungskraft des Handys. Zudem zerstörten sie die Lernatmosphäre, weil sie sowohl den Dozenten als auch die Umsitzenden mit ablenkten. Zentrale Erkenntnisse der Forschung liefen darauf hinaus, dass die schiere Anwesenheit selbst eines abgeschalteten Bildschirms bereits ablenkende Wirkung entfalte. Alle diese Argumente sind gut und richtig. Sie führen für mich aber trotzdem in die Irre.

Das hat mehrere Gründe.

Der erste Punkt ist die Frage nach der Ablenkung. Es ist absolut korrekt, dass dröge Faktenvermittlung nicht wirklich gegen die Konkurrenz durch die Ablenkung durchs Handy anstinken kann. Aber das liegt eben häufig auch daran, dass der Stoff nicht eben interessant ist (bei Fächern wie Jura ist das natürlich deutlich problematischer als etwa in Geschichte). Aber ich kann mich aus meiner eigenen Studienzeit noch gut daran erinnern. Ich habe in den Vorlesungen immer auf einem Laptop mitgeschrieben. In spannenden Vorlesungen war ich praktisch dauerhaft dabei und habe getippt wie verrückt. Waren die Vorlesungen weniger gut, habe ich angefangen Kram nebenher zu machen. In den Seminaren, wo ich meinen Laptop meist nicht dabei hatte, passierte genau dasselbe - nur habe ich mich da halt nicht am Rechner, sondern mit anderem Kram abgelenkt, und wenn es nur zum Fenster hinausschauen war. Das liegt nur in der Natur der Sache. Die Verfügbarkeit digitaler Geräte macht das zwar leichter - also das sich Ablenken - aber es ist nicht so, als wäre es ursächlich.

Der zweite Punkt ist damit verbunden. Nur in absoluten Ausnahmefällen können sich Leute 90 Minuten am Stück auf irgendetwas konzentrieren, besonders wenn es geistig anspruchsvoll ist. Menschen brauchen Pausen, und bekommen sie diese nicht durch die Struktur, nehmen sie sie sich schlicht selbst. Das gilt in der Schulstunde, das gilt im Hörsaal, das gilt auf der Konferenz, das gilt im Meeting. Dieser Bedarf nach Pausen ist völlig normal und dem Lerneffekt im Normalfall auch nicht abträglich. Die Smartphones schaffen hier nur eine weitere kurze Ablenkungsmöglichkeit - sofern sie kurz bleibt.

Hier entstehen natürlich zwei Probleme: einerseits sind die meisten der elektronisch bereitgestellten Ablenkungsmöglichkeiten eher längerfristiger Natur, andererseits zwingt die Aufmersamkeitsökonomie der Smartphones einen eigenen Rhythmus auf. Die Pause zum Whattsapp-Checken nehme ich mir ja nicht wenn ich sie gerade brauche, sondern weil das Handy vibriert hat. Und wenn ich "mal kurz" eine Runde Clash of Clans spiele oder was auch immer an Handyspielen gerade angesagt ist (ich nutze das Ding nicht zum Spielen) oder einen Artikel lese, bin ich natürlich länger abgelenkt als durch einen Blick durchs Fenster. Der Ablenkungsimpuls als solcher allerdings ist natürlich. Warum die obige Argumentation trotzdem nicht für ein Verbot spricht kommt gleich.

Der dritte Punkt ist, dass der aktive Einbau der Geräte in den Unterricht eine größere Operation ist. Wer irgendeine coole App hat, auf der man eine Umfrage machen kann, und die Dinger deswegen auf dem Tisch erlaubt, wird dieselben Erfahrungen machen wie Milos Vec. Wenn digitale Geräte in den Unterricht eingebaut werden, verlangt das nach einem kompletten Umbau der Didaktik. Das ist ein Teilaspekt eines wesentlich größeren Problems. Der lehrerzentrierte Unterricht hat die obigen Probleme immer, und gerade Universitätsvorlesungen sind tatsächlich eher inkomptabel mit der Verwendung von Smartphones. Aber das ist ein Problem mehr der Didaktik. Wenn ich Laufbänder statt Tische und Stühle in den Regelunterricht integriere, in der Hoffnung dass die Bewegung die Geisteskraft antreibt, ist das etwa die gleiche Idee. Ja, da besteht ein grundsätzlicher Zusammenhang, weil Bewegung die geistige Aktivität fördert. Aber auf einem Laufband Unterricht machen wird trotzem nicht funktionieren. Genauso ist es mit Smartphones und Tablets. Die Dinger haben viel Potenzial zum Einsatz im Unterricht, aber nicht wenn der lehrerzentriert ist. Da sind sie nur alternative Methoden des Mitschreibens (gegen die wirklich nichts und für die einiges spricht).

Und damit kommen wir zum vierten Punkt. Vec spricht in seinem Artikel davon, dass das ständige ostentative Bildschirmblicken einem Mangel an Manieren entspricht und die Lernatmosphäre stört. Zudem habe ich bereits auf die Aufmerksamkeitsabziehende Wirkung von Vibrationsalarmen und Ähnlichem hingewiesen. Das ist absolut korrekt. Was es tatsächlich braucht ist ein neues Set an gesellschaftlichen Konventionen, wie mit dem Handy umzugehen ist. Da hilft es nur eingeschränkt, wenn in atemlosen Ton kulturpessimistische Horrorstories von "heutigen" Dates erzählt werden, auf denen beide Partner nur auf das Smartphone schauen. Das ist ein Problem der beteiligten Personen, nicht der Smartphones.

Wir brauchen einen vernünftigen sozialen Kodex zum Umgang mit den Dingern. Aktuell scheint es nur einen binären Zustand zwischen "gar nicht" und "omnipräsent" zu geben, zumindest wenn man die Diskussion so anschaut. Das ist aber problematisch, denn gerade für die Jüngeren ist das Smartphone ein alltägliches, wichtiges Gerät. Ich besitze zum Beispiel keine Armbanduhr. Will ich wissen, wie viel Uhr es ist, checke ich das auf dem Smartphone. Das kann ein Beobachter nicht von einem Checken von Whattsapp oder anderen "Ablenkungen" unterscheiden. Gleichzeitig ist es offensichtlich unhöflich, während dem Gespräch längerfristig auf das Gerät zu blicken. Es muss sich quasi ein Zwischenbereich etablieren, in dem sich alle einig sind was ok ist und was nicht. Dann sind auch diese Störungen der Lernatmosphäre nicht mehr so kritisch.

Dass das geschehen kann (und wird) steht außer Zweifel. Wir Menschen haben bislang noch jede andere Form der Technologie in unseren Verhaltenskodex etabliert. Nur ein Beispiel: im Gespräch ist es ein Prinzip der Höflichkeit, dass man den Gesprächspartner ansieht oder wenigstens nicht ostentativ andere Dinge beobachtet. Beim Autofahren dagegen ist diese Regel aus offensichtlichen Gründen außer Kraft gesetzt (außer im Film, da schauen Fahrer ständig verantwortungslos zum Beifahrer) und der Fahrer starrt beständig geradeaus und in die Spiegel, während er oder sie mit dem Beifahrenden spricht. Ähnliche Regeln braucht es auch für Smartphones und Co: Wann ist was ok? Das gilt für beide Seiten. Wann ignoriere ich das Gerät beim Gegenüber, und wann darf ich es selbst wie benutzen? Solche Regeln können sich aber nur etablieren, wenn die Geräte nicht tabuisiert werden.

Das gleiche gilt für den schulischen Kontext. Ich zitiere mich selbst:
Schule ist Lebensraum. Schüler verbringen rund die Hälfte ihrer unterwöchigen Lebenszeit, teils sogar mehr, in dieser Institution. Die Schule sollte sich nicht als einen vom restlichen Leben komplett abgeschotteten Raum begreifen. Ein Instrument wie das Smartphone einfach zu ignorieren, indem man es verbietet, ist aus mehreren Gründen Quatsch. Einerseits schließt man ein Stück schülerischer Lebensrealität aus und zementiert einmal mehr, dass „Leben“ und „Schule“ getrennte Sphären sind (sind sie nicht), andererseits lässt man sich zahllose Möglichkeiten entgehen, die Dinger sinnvoll in den Unterricht einzubauen, und drittens hat die Schule einen dezidierten Bildungsauftrag, der sich auch auf die digitale Bildung verstehen muss.
Wo sollen solche Formen eingeübt werden, wenn nicht in Familie und Schule? Regeln wie "kein Handy zu Tisch" und "Handyverbot in der Schule" erscheinen daher eingängig, führen aber in die Irre. Stellen wir uns der Herausforderung, statt von ihr wegzulaufen.

Sonntag, 26. August 2018

Arbeiter und Mafiosi spielen Videospiele während Kinder im Hochhaus PISA-Tests schreiben - Vermischtes 26.08.2016

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) What Democrats still don't get about winning back the white working class
Democrats are aware of this perception, of course, and routinely complain about the conservative “information bubble” that is created by Fox News and other media. But many continue to base their campaigns on the hope that if they can only somehow figure out how to craft exactly the right package of proposals and programs—either progressive or moderate—they will somehow break through and convince these voters to support Democrats once again. But it is now necessary to seriously consider the opposite possibility: that class resentment is so powerful and deeply entrenched that Democratic plans and proposals never get seriously considered by white working-class and small-town/red-state voters in the first place. They are, instead, dismissed at the outset because they come from a party that is perceived to represent groups and interests that are deeply alien and antagonistic. The Affordable Care Act, for example, was never seriously examined by white working-class Republican voters. Its provisions were wildly caricatured (“Death Panels”) and the measure described as quite literally a sinister socialist conspiracy simply because Obama and the Democrats had proposed it. It is, therefore, now necessary to accept that Democrats have to develop a completely different mental model of how these voters actually do make their political choices—a model that will suggest alternate strategies for how Democrats can break through the wall that now separates them from many white working-class and small-town/red-state Americans. [...] Given the reality that simply proposing programs and policies that are objectively in white workers’ interests is insufficient to win their support, Democratic candidates must instead visualize the method of appealing to these voters as a two-stage process. First, they must develop a specific communication and persuasion strategy designed to break through the conservative “bubble” and become accepted as a legitimate part of the political discussion that goes on between the different sectors of the white working-class community. Second, once this is accomplished, they can begin to debate and challenge their Republican opponents regarding specific social and economic policies and programs. (Washington Monthly)
Das ist ein extrem langer Artikel, von dem hier nur ein Ausschnitt zitiert ist. Jeder ordentliche Linke fragt sich stets, warum die eigenen Positionen, die ja objektiv im Interesse der breiten Mehrheit sein müssten, eben diese Mehrheit nicht finden. Die Antwort der NachDenkSeiten und vieler anderer "klassischer" Linker ist da dann meistens "Meinungsmache", eine gewaltige konzertierte Aktion aller Medien, Prominenter etc. zur bewussten Manipulation der Bürger. Das hilft zwar dem eigenen Selbstbewusstsein als diejenigen, die das grandiose Spiel durchschauen, ist aber nicht eben eine Gewinnerbotschaft. Und ja, das Leben der Abgehängten in West Virginia wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit besser, wenn Medicare ausgeweitet und der Zugang zu Obamacare erleichtert wäre; die Ablehnung, das sagt der Washington Monthly schon richtig, liegt sicherlich nicht in den Policy-Details. Es geht um kulturelle Faktoren, und es geht um die Kontrolle von Narrativen. Und bei letzteren haben die Democrats, in einer bemerkenswerten Parallele zu anderen sozialdemokratischen Parteien weltweit, ein Problem. Und dieser Punkt scheint mir ein spannender zu sein: Dass das Problem weniger die FOX-News-Medienblase oder das Missverständnis der Funktionsweise und Art der von Sozialdemokraten vertretenen Policies ist - obwohl diese natürlich eine große Rolle spielen - sondern das mangelnde Grundvertrauen. Diese Wähler hören die Botschaft wohl, allein ihnen fehlt der Glaube. Geht mir ja auch so: Wenn die FDP verkündet, dass ihre radikalen Sparprogramme ganz sicher gewaltiges Wachstum auslösen und meinen Wohlstand mehren wollen, so ist das ostentativ natürlich auch Politik "für mich", aber ich glaub denen kein Wort. Und mit den meisten ihrer Policies kenne ich mich auch nicht genug aus um das Bild der FDP als raffgieriger Partei der 1% in meinem Kopf zu ersetzen. Was die Sozialdemokraten daher schaffen müssen ist, eine neue Stammwählerschaft zu erschließen, die ihnen vertraut. Und ich bin skeptisch, dass diese Leute in nennenswerten Zahlen zurückzugewinnen sind. Jeder FDP-Stratege wäre wohl auch skeptisch, ob er meine Stimme gewinnen könnte. Es wäre sicher möglich, dass die Partei solche Positionen übernimmt und sich so gibt, dass sie für mich attraktiv wird - nur gewinnt sie dabei zwar möglicherweise meine Stimme, verliert aber auf der anderen Seite, bei ihrer bisherigen Wählerschaft. Und das ist das Dilemma, das die meisten Linken irgendwie nicht sehen wollen.

2) Trump wants to ban flipping because he's almost literally a mob boss

In an interview with Fox News, President Trump offers his view that flipping is dishonorable, and is so unfair it “almost ought to be outlawed.” However, Trump has also made clear, in tweets over the weekend, that he is not only opposed to false testimony. He opposes flipping on the boss as a matter of principle. Here he is over the weekend denouncing President Nixon’s lawyer John Dean as a “rat.” Dean famously testified about Nixon’s obstruction of justice. Nobody claims Dean lied about Nixon. The sin in Trump’s eyes is that he flipped, violating the omerta. Trump even uses Mafia lingo, “rat,” to describe Dean’s cooperation with law enforcement. To gangsters, a rat is considered the worst kind of person because they pose the greatest danger to their ability to escape prosecution. It is obviously quite rare to hear a high-ranking elected official openly embrace the terminology and moral logic of La Cosa Nostra. But Trump is not just a guy who has seen a lot of mob movies. He has worked closely with Mafia figures throughout his business career. [...] Like a mobster, Trump takes an extremely cynical view of almost every moral principle in public life, assuming that everybody in politics is corrupt and hypocritical. [...] He also follows mafia practice of surrounding himself with associates chosen on the basis of loyalty rather than traditional qualifications. [...] Trump has internalized the mob ethos so deeply that he sees this as an indictment of Sessions. He gave the guy a job only because he assumed he was loyal, and here Sessions betrays the loyalty by recusing himself from the Russia investigation (because of a blatant conflict of interest). Trump cannot imagine that admitting he picked an attorney general solely out of the expectation of personal loyalty is a confession of an intent to corrupt law enforcement. (New York Magazine)
Man ist an die Verehrung von Putin, Erdogan und Co ja schon so gewöhnt, dass positive Vergleiche mit Al Capone aus dem Kreis der Republicans eigentlich nicht mehr allzu verwunderlich sein sollten. Und Trump ist wahrlich kein Fremder in der Welt der Cosa Nostra; seine extensiven Mafia-Kontakte aus der Casino-Zeit (die dann später durch die Russland-Connections abgelöst wurden, die ihm aktuell solche Probleme bereiten) sind hinreichend bekannt. Selbstverständlich verhält sich Trump wie ein Mafia-Boss; er wäre doch so gerne einer.
Das ist auch die Quelle der Bewunderung von Al Capone und Konsorten: Die Stimmung in der republikanischen Partei ist gerade so, dass sie "Der Pate" oder "Goodfellas" anschauen und in den Mafiosi ohne jede Ironie oder Distanz ihre Rollenvorbilder erkennen. Das hängt mit der unreflektierten Verehrung von "Stärke" zusammen, wie sie auf der Rechten gang und gäbe ist. Jeder, der (Machismo-)Stärke demonstriert, ist in deren Augen bewundernswert, daher ja auch die freundschaftliche Wärme gegenüber Putin und Erdogan.
Das ist übrigens auch in der Reaktion auf die Einflüsse der Wall Street sichtbar: Sowohl Obama als auch Trump haben im Wahlkampf exzessiv die Wall Street kritisiert, nur um danach Wall-Street-Banker in Machtpositionen zu hieven. Aber die Anhänger Obamas empfanden das immer als schmutzig, als eine Art Verrat an den eigenen Idealen. Für die Anhänger Trumps ist es ein Beweis der Stärke ihres Idols: er kann die Banker kritisieren UND sie danach zu seinen Untergebenen machen. Dass sie nicht öffentlich seinen Ring küssen müssen ist alles, was in der Inszenierung noch fehlt.

Es ist einigermaßen schwierig, nicht zynisch zu werden, wenn man sich den Unterschied vor Augen führt: Deutschland diskutiert offenbar ernsthaft darüber, ob Seenotrettung sinnvoll sei - bei schwarzen Flüchtlingen. Die aufwendige Rettung einer Britin dagegen wird medial geradezu gefeiert. Es ist nicht so, dass über Flüchtlingsrettung wenig geschrieben wird - aber es wird in verstörend anderem Ton darüber berichtet. Aus meiner Sicht gibt es für diese Unwucht mehrere Gründe, zwei davon möchte ich herauspicken: Einer ist die Übermedialisierung der Welt. [...] Diese Übermedialisierung verändert nicht nur die Nachrichten, weil oft in schnellerem Takt Neues berichtet werden muss, als sinnvolle Neuigkeiten zu einer großen Nachrichtenlage überhaupt entstehen. Die Übermedialisierung verändert auch die Wahrnehmung des Weltgeschehens durch die Menschen. [...] Aber durch den Katastrophendauerhagel wird eine gewisse Abstumpfung vorangetrieben. Und zwar eine sehr spezifische: Ich unterstelle freundlich, dass sich eigentlich fast jede Person ihre Menschlichkeit bewahren möchte - aber durch die Nachrichtenflut ist es nicht möglich, auf jedes Katastrophenopfer gleich zu reagieren. Man ist gezwungen zu filtern, also: Opfer nach Relevanz zu sortieren. [...] Was direkt zu einem zweiten Grund für die nachrichtliche Unwucht zwischen der Rettung einer blonden Britin und der Rettung schwarzer Migranten führt (in Redaktionen wie beim Publikum): Rassismus. Rassismus ist nicht denen vorbehalten, die hauptberuflich Vollzeit für die Versklavung oder Ermordung von nicht weißen Menschen eintreten. Rassismus hat keinen An-Aus-Schalter, es gibt ihn in vielen, auch subtilen Formen. Eine sehr wesentliche ist der unterschwellige, sogar unbewusste Rassismus. Selbstverständlich wirkende Denkmuster, die man nur schwer entlarven kann, die aber im Kern Rassismen enthalten. Die Bewertung von Menschen nach Herkunft und Hautfarbe. (SpiegelOnline)
Sascha Lobo schreibt hier seine eigene Version meines Brokkoli-Artikels (ich behaupte mit gewissem Stolz hier die bessere Metapher als er mit seiner britischen Kreuzfahrtpassagierin zu haben). Selbstverständlich handelt es sich bei der Selbstselektion um eine Art von Rassismus; wir fühlen uns immer näher mit denen, zu denen wir eine Verbindung spüren. Das Schicksal einer britischen Kreuzfahrtpassagierin geht uns deswegen automatisch näher als das syrischer Flüchtlinge. Eine von beiden könnten auch wir sein, das andere nicht. Empathie kommt da natürlich einfacher. Das muss man als Mechanismus für sich selbst erkennen und reflektieren. Derselbe Mechanismus gilt ja auch auf anderen Feldern: Warum etwa fühlen wir eine automatische Verbundenheit mit den Opfern einer Naturkatastrophe in den USA, nicht aber in Thailand? Warum ist das Terroropfer in Tel Aviv leichter zu bedauern als das in Bagdad? Gleicher Mechanismus. Auch die Fragestellung nach der Nachrichtenflut ist nicht ohne. Ich weiß aber nicht, ob das früher anders war. Noch immer schließlich sind die Menschen in der entwickelten Welt zu gewaltigen kollektiven Akten der Nächstenliebe fähig, wenn ein Katastrophenarrativ durchdringt. Man muss nicht weiter als bis zur Willkommenskultur 2015 zu schauen um das zu sehen; wer es gerne etwas historischer hat denke an die Benefizkonzerte für das hungernde Afrika. Ich denke daher, Lobo liegt hier falsch: Die Abstumpfung ist ein völlig normaler Prozess, und es braucht mit zunehmender (emotionaler und kultureller) Distanz zum Unglücksort eine besondere Kombination von Faktoren, um einen Empathieprozess auszulösen, den wir Menschen, die uns (emotional und kulturell) näher sind diese Empathie quasi kostenlos geben. Diese Mechanismen sind übrigens auch ein gutes Argument für den Vorrang staatlicher Entwicklungspolitik vor privaten Spenden, aber das ist eine andere Geschichte.

4) Cohen and Manafort down by the courtyard
Ezekiel: Yesterday was very dramatic — but what actually changed?
Jon: 1) Manafort is guilty, and so he can’t hold out for a chance to walk. Has to either be hoping for a pardon, or make a deal. 2) Cohen directly implicated Trump in a federal crime.
Ed: Yeah, on Cohen’s plea, Trump’s enablers kept yelling “what did it have to do with Russia?” It’s a felony we are talking about.
Eric: Yeah. If Trump were not president of the United States, he would be indicted for a campaign finance violation by now. Which means that – by refusing to investigate a crime for which there is clearly probable cause (and consider impeachment if an investigation confirms the available evidence) – congressional Republicans are now, officially, helping the president put himself above the law. [...]
Ezekiel: I saw a chart a few months ago that showed that the investigation hasn’t been going on that long compared to other investigations by special counsel, so we could be in for the long haul.
Eric: Generally speaking, I’m pretty impressed with the way this scandal has unfolded. Didn’t think it could live up to the expectations it set in the early going. But (while there have been some lulls and dispensable tangents) they’ve found ways to keep things fresh and surprising, and I’m excited to see where it goes next.
Ich habe bereits früher einmal erwähnt, dass der ganze Dauerskandal rund um Mueller, die "Russia-Collusion" und anderen Geschichten um Trump für mich eine Art soziales Experiment darstellt: ich folge den ganzen Nachrichten zu dem Thema ja bewusst nicht. Ich habe daher keine Ahnung, was der aktuelle Stand der Ermittlungen ist oder welche neuen Erkenntnisse es gerade wieder einmal gab, die - nun aber endgültig - Trumps Ende bedeuten. Das ermöglicht einen frischen Blick auf meine bevorzugten Nachrichtenquellen.
Der obige Chat ist ein gutes Beispiel für das, was besonders im Wahlkampf 2016 als "Blase" der Medien diskutiert wurde. Ezekiels Frage "What actually changed" kann ich sehr schnell beantworten: Nichts. Möglicherweise sind die Entwicklungen für einen späteren Prozess relevant. Aber politisch ist der Kram bedeutungslos. Ich nehme ihn als eine endlose Enthüllung von Skandalen und Verbrechen von Trump wahr, die ich nicht verstehe und durchschaue, die aber alle irgendwie ominös klingen. Das ist ein Spiegel meiner eigenen parteilichen Haltung. Jeder Trump-Fan wird es als weiteren Baustein einer riesigen Deep-State-Verschwörung gegen ihr Idol wahrnehmen.
Die unangenehme Wahrheit ist schlicht die, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen nicht besonders intensiv die Nachrichtenlage verfolgt. Geschichten wie die Mueller-Ermittlungen sind Geschichten für Nachrichtenjunkies, so wie es die ständig wechselnden Wahlkampfstrategien und Umfragen 2016 auch waren (denen ich ja auch mit Begeisterung gefolgt bin). Daran ist nichts Schlimmes, aber man neigt dazu, die Bedeutung von Ereignissen zu überschätzen. Ich stolpere immer wieder über solche Artikel wie den oben, in denen atemlos die neuesten Ereignisse diskutiert werden - die zwei Wochen später immer noch keine Relevanz haben. Ganz spannend das mal von außen zu beobachten, aber es fördert leider einen gewissen Zynismus. Hilfreich ist das also auch nicht.

In theory, everyone is in favor of building more housing in big cities. Conservatives are in favor because they oppose regulatory regimes that prevent the free market from building whatever it wants. Liberals are in favor because they believe a bigger supply of housing will bring down prices and help establish more low-income housing. [...] In fact, practically no one who lives in a big city wants more housing. They may or may not be willing to admit why, but they don’t. Liberals will accuse conservatives of racism and conservatives will accuse liberals of hypocrisy, but before long they’ll all sing Kumbaya and loudly agree that the problem is too much traffic. Maybe you don’t believe them, but an atomic crowbar will fail to pry the real story out of them. [...] So who is in favor of urbanization? As near as I can tell, the answer is young, college-educated people who would like to live in a big city but can’t afford it. They have reams of white papers about why urbanization is a great thing, but really, they’re motivated by their own selfish desires, just like the folks who already live in the cities. This is why I think it would be insane for the Democratic Party to adopt urbanization as any kind of party platform. Centrist conservatives would hate it. Most liberals would hate it. People who live in cities and suburbs would mostly hate it. Rush Limbaugh would say that it proves Democrats are just a bunch of socialists who want to force everyone to live in high-rise beehives. And even with a massive effort, it would never produce enough affordable housing to make New York City 20-somethings just out of college satisfied. It would almost literally be pareto-catastrophic. No one would be happy. (Mother Jones)
Ich denke Kevin Drum hat grundsätzlich Recht. Zwar stimme ich ihm nicht darin zu, dass nur einige arme Millenials in die Städte ziehen wollen - dafür ist die Urbanisierung ein wesentlich zu pervasiver Trend, der die Leute zur Konzentration zwingt - aber die Leute, die in den Städten wohnen, haben definitiv nicht das geringste Interesse an einer dichteren Bebauung. Ich denke aber auch, dass die Debatte ohnehin in bescheuerten Grundlinien verläuft. Viele Menschen wollen nämlich auch gar nicht in den Städten wohnen, sondern vielmehr im Speckgürtel drumherum. Und da sind Wohnraumknappheit und Preise ja auch Dauerprobleme. Ich habe zu dem Thema bereits meine eigene Lösung geschrieben: Dereguliert die Äcker! Das ist zwar auch keine super-beliebte Politik, aber es gibt bei weitem mehr Leute die sie gut fänden als bei der Abschaffung von Regulierungen für Neubauten und bei einer Erhöhung der Wohnraumdichte, so viel ist mal sicher.

6) Which country suffers most from sernioritis?
Tyler Cowen points today to a new study that examines the PISA test of problem-solving and cognitive skills. PISA is conducted every three years in 60+ countries around the world, and as near as I can tell, its only real purpose is to provide an excuse for op-ed columnists to wail about how stupid US students are. But not at this blog! No country whose “adults” elect Donald Trump president has any business complaining about its teenagers any longer. Anyway, it turns out that this new study tries to assess how seriously students take the test. After all, PISA doesn’t count toward their GPA or toward graduation and it doesn’t help get them into college. Given the vast number of standardized tests high school students take these days, it’s fair to wonder how much energy they put into one that doesn’t matter to them personally. (Mother Jones)
Ich will gar nicht weiter groß auf Kevin Drums Unfug mit Statistiken eingehen (der Mann hat zuviel Zeit zum Bloggen) sondern kurz über meine eigene Erfahrung mit PISA berichten. Ich habe seinerzeit im Jahr 2000 bei der ersten PISA-Studie als Schüler teilgenommen, ich war damals gerade in der richtigen Demographie (neunte Klasse). Seinerzeit wurde der Test als eine zweitägige Veranstaltung angekündigt, die den Regelunterricht ersetzt (und bedeutend kürzer war), versetzt mit dem Zusatz dass wer fertig ist heimgehen darf. Man kann raten was bei Neuntklässlern dann passiert. Die Testfragen selbst erschlossen sich auch nicht; viele Inhalte waren im Unterricht nie behandelt worden (vor allem in Naturwissenschaften), was am ersten Tag abgefragt wurde und dann später zu viel Händeringen über die miesen Ergebnisse führte. Am zweiten Tag kam die Sozialstudie, die in endlosen Bögen voll gleichförmiger tödlich langweiliger Aufgaben verlief, bei denen die meisten Leute damals nach eigenem Bekunden völlig zufällig Dinge ankreuzten ohne überhaupt die Aufgaben zu lesen, um schnell fertig zu sein. Meine Begeisterung für PISA-Ergebnisse hält sich seit diesen Erlebnissen in Grenzen.

7) Putin und Merkel in Meseberg
Doch neben der Energiepolitik gibt es noch andere Gründe, warum Merkels Russlandpolitik in der Krise steckt. Da sie es während ihrer gesamten Regierungszeit versäumt hat, in Deutschlands Streitkräfte zu investieren und sie sich ab 2016 deutlich als Gegenspielerin zu Donald Trump positionierte, befindet sich Berlin sicherheitspolitisch in einer zunehmend prekären Lage. Moskaus Geostrategen verstehen genau: die Schwächung der NATO durch Trump trifft Deutschland ins Mark und doch fehlt Merkel der politische Wille (und nicht das Geld), das zu ändern. Konkreter formuliert: Deutschland ist ein Land, das seine eigene Sicherheit nicht garantieren kann. Dieses sicherheitspolitische Vakuum ist ein Erbe der Ära Merkel. Selbst in Jahren des wirtschaftlichen Booms hat sich die Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit des Landes beständig verschlechtert. Diese Versäumnisse begrenzen unser Gewicht und unsere Handlungsmöglichkeiten. Ist nicht längst eine Situation denkbar, in der Berlin sich für den Ausgleich mit Moskau entscheiden muss, da uns die amerikanische Sicherheitsgarantie fehlt? Dass diese strukturelle Aufweichung der Westbindung sich unter einer christdemokratischen Kanzlerin vollzieht, ist ebenfalls erstaunlich. Denn eins ist sicher: Putin und die russische Elite respektieren Stärke, erkennen Schwäche und nutzen sie. [...] Sie ist auch daran gescheitert, Deutschlands Rolle im Zeitalter von Trump und Putin zu definieren und das obwohl sie mit Emmanuel Macron in Paris über einen Partner verfügt. (Salonkolumnisten)
Die deutsche Außenpolitik ist ein echt merkwürdiges Ding. Die alten Instinkte (und, wer es klassisch macht, die geopolitischen Gegebenheiten) führen zu einer unschönen Renaissance von Rapallo. 1922 hatte Deutschland auf einer Konferenz seinerzeit ein Überraschungsbündnis mit der Sowjetunion geschlossen, um seine eigene Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Mit denen war es nicht weit her; der Pakt mit der UdSSR brachte abgesehen von Trainingsgelände für die Schwarze Reichswehr wenig und vereinte Frankreich und Großbritannien in Opposition, wo vorher eine geschickte Spaltung der ehemaligen Alliierten möglich gewesen wäre; die Folge war dann die Ruhrbesetzung und das ganze Galama, das sich daraus ergab. Der Instinkt, sich mit Russland Verhandlungsspielräume schaffen zu wollen und völlig überzogene Hoffnungen in irgendwelche Manöver mit dem östlichen Nachbarn statt mit den weit verlässlicheren Partnern im Westen zu legen steckt tief. Die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition war auch teilweise von diesen Ideen geleitet. Dabei baut praktisch immer auf Sand, wer zu viel Hoffnung auf Verträge mit Russland türmt. Denn zwar decken sich die deutschen und westeuropäischen und/oder amerikanischen Interessen wahrlich nicht immer; mit Russland allerdings gilt das in noch größerem Maße. Und wie man glaubt, "verhandeln" zu können, ohne auch nur das geringste Gewicht dagegen in die Waagschale werfen zu können, bleibt weiterhin ungeklärt.

8) Am Dienstag die Männer, am Donnerstag die Frauen
Galton betrachtete die Eugenik als Naturwissenschaft, aber auch als spirituelle Bewegung: Sie sei eine Form der Nächstenliebe der heutigen Welt gegenüber den künftigen Generationen. Die Idee der Menschenzüchtung setzte schnell zum Sprung über den Ozean an und wurde in Amerika zu einer Massenbewegung. Die Vereinigten Staaten wurden damals gerade von verschiedenen Einwandererwellen überflutet: Italiener, osteuropäische Juden, Iren suchten Zuflucht in der Neuen Welt. Zugleich organisierten sich die weißen, protestantischen Amerikaner der Mittelklasse, die im Lande geboren worden waren, in verschiedenen Reformbewegungen: Sie kämpften gegen Kinderarbeit, gegen korrupte Politiker, für ein öffentliches Bildungswesen und für Frauenrechte. Die Eugenik passte hervorragend in dieses Reformprogramm. Beinahe alle fortschrittlichen Amerikaner vertraten um die Jahrhundertwende eugenisches Gedankengut: Die Feministin Margaret Sanger, die für Geburtenkontrolle kämpfte, war ebenso Eugenikerin wie der progressive Präsident Theodore Roosevelt. [...] Für uns Amerikaner ist diese Geschichte ein milder Schock. Wir sind es gewohnt, im Supreme Court – zumindest seit dem 20. Jahrhundert – eine Bastion der Bürgerrechte zu sehen. [...] Die Nazis, das zeigt dieses Buch, haben nichts erfunden. Sie haben mit dem Programm der Eugenik nur tödlichen Ernst gemacht. Die Anregung von Oliver Wendell Holmes, Kleinkinder umzubringen, die „den Test nicht bestehen“, wurde in Hadamar in die Tat umgesetzt. Und diese schmutzige, kalte Geschichte ging mit dem Zweiten Weltkrieg keineswegs zu Ende: So wurde im linksliberalen Schweden noch in den Siebzigerjahren munter zwangssterilisisiert. [...] Aber wer weiß, was die Zukunft bringt. Ich hätte nie gedacht, dass offener Rassismus im politischen Leben meines Landes jemals wieder eine Rolle spielen würde. Vielleicht kommt am Ende auch die Eugenik zurück. Und vielleicht nicht nur in Amerika. (Salonkolumnisten)
Die Eugenik ist tatsächlich eines der schmutzigsten Kapitel der progressiven Bewegung. Die Warnung, die bei den Salonkolumnisten hier anklingt, sollte man daher nicht auf die leichte Schulter nehmen. In einem Land, in dem wir gerade offen die Pros und Contras der Rettung ertrinkender Menschen diskutieren sind wir vom nächsten Tabubruch nicht mehr weit entfernt. Die Sarrazins dieses Landes würden sofort Geburtenkontrollen für Einwanderer aus bestimmten Ländern einführen wollen, und sind diese erst einmal geschaffen ist die Idee, sie mit invasiven Eingriffen nachhaltig zu kontrollieren auch nicht mehr fern. Wehret den Anfängen.

9) Lasst eure Kinder frei!
Im Rückblick betrachtet, waren meine Eltern verantwortungslose Leute, jedenfalls, wenn man den heutigen Zeitgeist als Maßstab anlegt. Warum? Weil sie meine Geschwister und mich allein zur Schule und nach Hause gehen ließen. [...] Das alles durften wir, obwohl die Welt für Kinder damals viel gefährlicher war als heute. In den Siebzigern gab es noch 16 bis 18 Sexualmorde an Kindern pro Jahr, heute sind es zwei bis vier. 1980, als ich zu Fuß zur Schule und nach Hause ging, starben 1159 Kinder unter 15 im Straßenverkehr. 2016 waren es 66. [...] Nicht allein journalistische Berichterstattung ist der Grund für die gefühlten Risiken. Meine Vermutung ist, dass es zwischen fiktionalen und realen Kindsmorden und -entführungen kaum Unterschiede gibt, was die Wirkung der Verfügbarkeitsheuristik angeht. [...] Zum einen finde ich die darin vertretene Ökonomisierung von Kindheit und Jugend sehr unerfreulich. Zum anderen behaupte ich: Wenn Jugendliche nichts mit sich anzufangen wissen, dann hat das nicht zuletzt damit zu tun, dass man ihnen ihre gesamte Kindheit über verwehrt hat, sich frei zu bewegen. Sich selbst eine Beschäftigung zu suchen, allein Freunde zu besuchen und so weiter. [...] Diese Angstmachmaschine trägt offenbar dazu bei, dass Eltern heute bereit sind, ihren Kindern Freiheit und Unabhängigkeit zu nehmen, um vermeintliche Sicherheit herzustellen. Im "Economist" waren gerade ein Artikel und ein Meinungsstück mit der These zu lesen, man solle die Sommerferien kürzen, weil die Kinder in all der freien Zeit sich doch ohnehin nur langweilen und zudem noch ein Drittel dessen vergessen würden, was sie im vorangegangenen Schuljahr gelernt haben. (SpiegelOnline)
Ich neige wahrlich nicht zum Kulturpessimismus, aber in dem Punkt muss ich Christian Stöcker überwiegend zustimmen. Die Überbewachung der Kinder und die ständigen Eingriffe der Eltern für die lieben Kleinen sind ein ernsthaftes Problem. Ich bekomme es für die weiterführenden Schulen im Berufsalltag selbst mit, und als Elternteil im Kindergarten: Bei jedem Elterngespräch bin ich bass erstaunt, wie übervorsichtig die Erzieher*innen um die jeweiligen Themen, die sie eigentlich mit einem besprechen wollen, herumtrippeln, mit wie vielen Relativierungen und Respektsbezeugungen sie ihre Sprache vollladen, als könnte man ihnen jederzeit, leicht provoziert, an die Gurgel wollen. Das steht dem Erziehungsauftrag dieser Institutionen mehr als im Weg. Ich muss mich auch ständig an die eigene Nase fassen, was das angeht, denn ich bin selbst zu übervorsichtig und muss meinen Kids mehr zutrauen, sie zu mehr Aktivismus bringen. Gleichzeitig ist es absolut notwendig, dass man den entsprechenden Institutionen ein gewisses Grundvertrauen entgegenbringt, das heutzutage wegen der zahllosen Schreckensnachrichten kaum mehr gegeben ist. Hier kommen die Punkte mit den ständigen Katastrophennachrichten, von denen Sascha Lobo in Fundstück 3 und der Vertrauensverlust, den der Washington Monthly in Fundstück 1 für die Sozialdemokratie konstatierte, voll zum Tragen. Denn der Vertrauensverlust ist ja ein Problem für ALLE Institutionen, ob in Staat oder Wirtschaft. Und ohne Grundvertrauen funktionieren sie nicht, was dann wieder - da schließt sich der Kreis - Wasser auf den Mühlen der Radikalen von rechts und links ist.

10) Die Aufmerksamkeitsvampire
Es gibt gute Hinweise darauf, dass allein die Anwesenheit von Smartphones die Fähigkeit zur Konzentration und zur Rezeption längerer Texte reduziert, weil sie eben als Aufmerksamkeitsvampire konzipiert und optimiert sind. Untersuchungen zeigen, dass das Phänomen sogar zu einer sozialen Spaltung führt. [...] Es kommt nicht primär darauf an, ob Geräte im Unterricht zugelassen sind oder verwendet werden, sondern was auf den Tablets und Telefonen passiert. Solange man die Effekte der Konkurrenz um Aufmerksamkeit ignoriert, wird man gegen Facebook & Co. verlieren. Ein zentraler Teil des schulischen Bildungsauftrags im Digitalzeitalter muss also das Erlernen von persönlicher Aufmerksamkeitsökonomie sein. Es bringt nichts, Technologie an sich zu verteufeln. Vielmehr müssen wir herausfinden, wie wir sie kontrolliert und zielgerichtet nutzen können. Leider ist das bisherige Bild der Digitalisierung an deutschen Schulen ein Trauerspiel, bei dessen Betrachtung man durchaus Verständnis für Notbrems-Reaktionen wie das generelle Smartphone-Verbot entwickeln kann. [...] Die wichtigste Lehre ist jedoch: Digitalisierungsstrategie bedeutet auch immer Aufmerksamkeits-Management-Strategie. (FAZ)
Frank Riegers Artikel zum Thema ist ungeheur unstrukturiert. Man könnte fast meinen, er habe während dem Schreiben am Smartphone herumgespielt. Aber genug der Albernheiten, denn die oben zitierten Probleme, die er anspricht, sind durchaus real. Selbstverständlich verändern Smartphones den Alltag. Die Reaktion, die leider vielerorts (in Frankreich in gewohnt etatistischer Manier gleich als Gesetz verankert) Einzug gehalten hat, die Dinger einfach komplett zu verbannen, ist völliger Quatsch. Schule ist Lebensraum. Schüler verbringen rund die Hälfte ihrer unterwöchigen Lebenszeit, teils sogar mehr, in dieser Institution. Die Schule sollte sich nicht als einen vom restlichen Leben komplett abgeschotteten Raum begreifen. Ein Instrument wie das Smartphone einfach zu ignorieren, indem man es verbietet, ist aus mehreren Gründen Quatsch. Einerseits schließt man ein Stück schülerischer Lebensrealität aus und zementiert einmal mehr, dass "Leben" und "Schule" getrennte Sphären sind (sind sie nicht), andererseits lässt man sich zahllose Möglichkeiten entgehen, die Dinger sinnvoll in den Unterricht einzubauen, und drittens hat die Schule einen dezidierten Bildungsauftrag, der sich auch auf die digitale Bildung verstehen muss. Da haben wir solche reaktionären Hansel wie Manfred Spitzer, die ein Vermögen damit machen händeringend und in düstersten Tönen zu erklären, wie wenig die Kinder doch mit den Versuchungen der jeweiligen Hard- und Software umgehen können und deren Lösungsansatz darin besteht, sie bis zum 18. Lebensjahr zu verbieten. Wie in diversen anderen Lebensbereichen auch gut zu erkennen ist fördert ja nichts mehr den verantwortungsvollen Umgang, als etwas "bis 18" wegsperren zu wollen. Das war übrigens Ironie.

11) Die Games-Branche hat immer noch ein Problem mit Sexismus
Ninja mag nicht mit Mädchen spielen. Ninja heißt eigentlich Tyler Blevins. Er ist der erfolgreichste Streamer der Internetplattform Twitch, die zu Amazon gehört. Zehntausende schauen zu, wenn er dort live Fortnite spielt und kommentiert. Ninja hat nun öffentlich erklärt, er spiele nicht mehr mit Frauen zusammen. Kein Filmemacher, kein Theaterintendant, kein Verleger käme mit einer solchen Ansage durch. In der Computerspielszene, die sich gerade auf der weltgrößten Messe Gamescom in Köln trifft, geht das immer noch - obwohl inzwischen, wenn man Handyspiele dazuzählt, mehr als die Hälfte der Computerspieler Frauen sind. [...] Bis heute gelten diese Gamergate genannten Pöbler als der radikale, reaktionäre und sexistische Arm der Gamerszene. [...] Felix Falk, Geschäftsführer von Game, dem Verband der deutschen Games-Branche, verkündete dagegen bei der Messeeröffnung in Köln, in Computerspielen "spielen alle friedlich gemeinsam und bilden eine großartige Gemeinschaft". Das Mobbing- und Sexismusproblem an den Bildschirmen wird oft kleingeredet oder ignoriert. Es gibt keine grundsätzliche Ablehnung von Frauen, aber einen zähen strukturellen Sexismus. [...] Eines der beliebtesten Spiele auf der Gamescom ist beispielsweise Battlefield 5, ein Ballerspiel im Zweiten Weltkrieg, das anmutet wie eine spielbare Version von Ernst Jüngers "Stahlgewittern". Auf der Messe dürfen sich Dutzende Besucher in einem wunderschönen, virtuell nachgebauten Rotterdam gegenseitig erschießen. Der Zweite Weltkrieg ist in den meisten Computerspielen ein harmloser Abenteuerspielplatz, besonders beliebt bei jungen Männern. In der langen Schlange vor dem Stand kommt auf 20 Männer eine Frau.Gegen das Spiel rührte sich sofort Widerstand aus der Szene, denn im ersten Trailer stand eine Soldatin im Vordergrund. "Es gibt inzwischen mehr weibliche Figuren, auch in den großen Franchises", berichtet Nina Kiel. "Es gibt aber auch eine lautstarke Minderheit, die sich gegen solche Darstellungen grundsätzlich wehrt." (SZ)
Wie wenig sich in der Branche seit dem #Gamergate-Skandal von 2014 geändert hat, ist absolut beschämend. Das ist nicht nur für das Hobby selbst problematisch, das es konstant verpasst, seinen Stand als Schmuddelkind der Unterhaltungsindustrie loszuwerden und in künsterlisch bedeutsamere Dimensionen vorzurücken (und stattdessen die x-te Auflage "historisch korrekter" Zweiter-Weltkriegs-Ballereien auflegt), sondern auch soziologisch. Die #Gamergate-Crowd ist eine der unteranalysiertesten Anhängergruppen der Rechtspopulisten. Zornige weiße Jungs und Mann-Babys sind eine der am schnellsten wachsenden Unterstützergruppen von Trump, AfD, PiS, Fidesz, FN und Co. Trotzdem wird ständig nur über die eigentlich untypischen abgehängten ehemaligen Stahlarbeiter berichtet statt über diese wesentlich virulentere und repräsentativere Gruppe, die mit ihrem aggressiven Hass und in den extremsten Ausprägungen terroristischen Attacken eine echte Gefahr darstellt. Man sollte das nicht leichtfertig als "sind ja nur Videospiele" abtun oder in den Kontext der bescheuerten Debatten um "Killerspiele" aus den späten 1990er und frühen 2000er Jahren einordnen. Es handelt sich um einen harten Kern psychisch labiler Leute, für die die Ideologien der "Alt-Right" und die Soziotope ihrer Online-Communities den perfekten Rahmen für ihre Persönlichkeitsstörungen bieten, nicht umgekehrt. Oder weniger geschwollen: Nicht die Spiele machen diese Leute zu dem was sie sind, sondern solche Leute finden in Spielen ihre bevorzugte soziale Ausdrucksform. Es ist der gleiche Mechanismus, aus dem heraus etwa Brandstifter häufig zur Feuerwehr gehen. Aber anders als die Games-Industrie fördert die Feuerwehr die Brandstifter nicht auch noch als ihre Kernkundschaft.

Samstag, 18. August 2018

Alex Jones wandert in den Verfassungsschutz ein und macht einen Lehrercrashkurs um um in einer Sammlungsbewegung die Bundeswehr zu überwachen - Vermischtes 18.08.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) "Lehrer denken sozialistisch" - AfD will Schulen auf Parteilinie bringen und erhöht Druck
„Volksschullehrer und Lehrer denken sozialistisch“, meinte ein Delegierter auf dem AfD-Parteitag laut einem Bericht der „Welt“. „Diese Indoktrination müssen wir brechen.“ Mit der bereits 2015 gegründeten, künftig als parteinah anerkannten „Desiderius-Erasmus-Stiftung“ unter Leitung der ehemaligen CDU-Politikerin Erika Steinbach habe man die Möglichkeit, „auszugreifen in die Gesellschaft“. [...] Was schließlich erreicht werden soll, machte Co-Vorsitzender Jörg Meuthen anschaulich. Vor den Delegierten erzählte er eine Geschichte einiger „sehr junger Demonstranten“, die vor einer AfD-Veranstaltung ein Plakat hochgehalten hätten. „Wer in Grenzen denkt, ist begrenzt im Denken“, sei darauf zu lesen gewesen. Das, so Meuthen, sei Folge einer „ideologischen Umerziehung“ in der Schule. Es sei Aufgabe der AfD, hier ein neues Bewusstsein zu schaffen. Das gilt auch für den Geschichtsunterricht. Bereits vor einem Jahr hatte der Thüringer AfD-Landesvorsitzende Björn Höcke angesichts der Erinnerungskultur in den Schulen erklärt: „Anstatt die nachwachsende Generation mit den großen Wohltätern, den bekannten, weltbewegenden Philosophen, den Musikern, den genialen Entdeckern und Erfindern in Berührung zu bringen, von denen wir ja so viele haben, …vielleicht mehr als jedes andere Volk auf dieser Welt…, und anstatt unsere Schüler in den Schulen mit dieser Geschichte in Berührung zu bringen, wird die Geschichte, die deutsche Geschichte, mies und lächerlich gemacht“, sagte Höcke. Gauland hatte mit seinem umstrittenen Bild vom Nationalsozialismus und seiner Opfer als „Vogelschiss“ unlängst fast wortgleich wie Höcke ein neues Geschichtsbild gefordert. Lehrer, die sich dagegen öffentlich wehren, bekommen zunehmend den Druck der Partei zu spüren (News4teachers berichtete). (News4Teachers)
Das ist übrigens die Partei der Leute, die sich bei jeder Gelegenheit in ihrer Meinungsfreiheit bedroht sein. Man sollte sich keine Illusionen machen: wenn die AfD an die Macht kommt, plant sie bestenfalls eine "illiberale Demokratie" nach ungarischem Vorbild, aber mit Sicherheit nichts, was mit unserer aktuellen freiheitlichen Grundordnung vergleichbar ist. Das wird über dem ganzen Holocaust-Relativieren und ähnlichen Unappettitlichkeiten gerne vergessen. Das ist auch keine Forderung nach einer Revision der Bildungspläne. Für die AfD geht es nicht um die vorgeschriebenen Inhalte, sondern um das, was im Unterricht vorgeht. Deswegen richten sie ja auch Meldestellen ein. Würde man nämlich einfach nur den Holocaust aus den Bildungsplänen streichen (und das müsste man tun um seine Bedeutung in denselben weiter zu reduzieren, er kommt darin mit kaum mehr als drei, vier Worten vor) könnten Lehrer ihn ja trotzdem weiter unterrichten - pädagogische Freiheit und so. Der aber will die AfD ans Leder.

2) Die Generale proben den Putsch
Natürlich, so lässt sich mit historischem Abstand gelassen feststellen, war Bonn nicht Weimar. Die Bundesrepublik hat sich ihr Militär selbst geschaffen und musste nicht wie die Weimarer Demokratie eine kaiserlich-vordemokratische Armee übernehmen. Aber schaut man näher hin, ist auch die beinahe 70-jährige Geschichte der Bundeswehr zerklüftet und umkämpft, bis hin zu dem Anspruch, das Primat der Politik auszuhebeln. [...] Bis heute ist manches Schein in der Bundeswehr. Das Reformkonzept der Inneren Führung genießt amtlich höchsten Stellenwert, aber in der Ausbildung und im Alltag der Truppe leidet es immer wieder und wird von manchen als wirklichkeitsfremd belächelt. Habitus und Symbole vermeintlicher militärischer Vorbilder werden hochgehalten und nicht nur klammheimlich gefeiert: In den Berichten des Wehrbeauftragten bilden traditionalistische Tabubrüche und rechte Ausfälle seit Jahrzehnten eine beängstigende Kontinuitätslinie. Der Fall des rechtsextremen Oberleutnants Franco A., der das Land 2017 bewegte, ist beklemmend, aber er erscheint für sich genommen relativ harmlos, gäbe es nicht die bemerkenswerte Hierarchiekette von Offizieren, die seinen völkischen Rassismus verharmlosten. Ein Generalmajor äußerte dazu öffentlich, die Untersuchung und die Kritik an der "Haltung" von Offizieren durch Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen seien unangemessene "Eingriffe der politischen Führung" gegenüber der militärischen Hierarchie. Da scheint er wieder auf, der alte Geist. Baudissin, der Reformer der ersten Jahre, bezeichnete den militärischen Traditionalismus als "wirklichkeitsfremde, gefährliche Ideologie". Seine Reform, das bürgerlich-freiheitliche Gegenkonzept des "Staatsbürgers in Uniform", ist eine Lehre aus der Geschichte: Sie soll die seit dem 19. Jahrhundert gepflegte Dominanz des Militärischen bändigen. Bis heute ist dieser Versuch nicht vollständig geglückt. (Die Zeit)
Mir war nicht bekannt, wie krass die Zustände noch in den 1970er Jahren waren. Aber dass das Verhältnis der Bundeswehr zur Demokratie nicht immer ganz spannungsfrei war und bleibt ist glaube ich bekannt. Dem lässt sich auch nur durch ständige, intensive Kontrolle nachkommen. Ich bezweifle die gerne geäußerte Theorie, dass die Wehrpflicht sonderlich viel tut, um die Bundeswehr zu einem aufgeschlosseneren Ort zu machen; die schlimmsten Zustände gab es schließlich, als die Wehrpflicht noch galt. Natürlich wird sich eine gewisse Spannung hier nie ausräumen lassen. Die Bundeswehr ist eine Armee, und alle Armeen funktionieren hierarchisch und auf dem Prinzip, dass Befehle befolgt werden. Die demokratische Pflicht zum Widerstand gegen illegale Befehle liest sich auf dem Papier immer nett, ist aber in der Praxis eine gigantische Herausforderung für Soldaten, wie Widerstand mit ungewissen Aussichten zu leisten immer eine gewaltige Herausforderung ist. Whistleblower haben es immer schwer. Die Bundeswehr akzeptiert dies ja auch selbst, was das Leitbild der "Inneren Führung" angeht. Wer das Weißbuch liest stößt da über die entsprechenden Sätze, die von "Spannungsfeldern" reden und Ähnlichem. Leider wird das in der Breite nicht wirklich ernst genommen, und oft genug versperrt sich die Bundeswehr diesen Anforderungen noch heute. Genau hier muss eine entschlossenere Wehraufsicht ansetzen. Ich war deswegen auch so positiv aufgeschlossen gegenüber von der Leyens entschlossenes Vorgehen gegen Wehrmacht-Traditionsbestände. Da muss noch viel mehr passieren.

3) How Medicare was won
Organized labor went all-in for Medicare, which took substantial pressure off unions for their retirees’ mounting health-care costs. Their enthusiasm contrasted with their relationship with universal initiatives before and since, despite their largely supporting most on paper. The reasons for labor’s tepid support for single payer have been debated by historians: For one thing, the unions’ success at collectively bargaining for employer-provided health benefits during the Truman-era reform battles perhaps reduced their motivation to prioritize national health-care solutions, the ongoing absence of which almost certainly highlighted the advantage of union membership. Since the 1970s, ever-rising health-care costs strengthened the case that labor’s interests would be served by removing health-care benefits from tense contract negotiations, but declining labor power during America’s rightward political shift tied them to a Democratic Party establishment unwilling to back single payer during the health-care debates of the 1970s and ’90s. [...] Today, with a slim majority of congressional Democrats vocally warming up to Medicare for All, and the ACA’s so-called “Cadillac Tax” poised to hit hard-won union-bargained health plans, the pro-labor case for single payer has never been more obvious. Indeed, each of the high-profile wildcat teachers’ strikes widely cited health-care benefits as a central demand. While the AFL-CIO has endorsed single payer, the question of whether workers will rally around Medicare for All they way they did for its namesake could well depend on how the movement’s stakeholders deal with those who stand to be displaced by the streamlining effect of large-scale reform. (The Nation)
Das ist ein extrem langer und ausführlicher Artikel, aber für Policy-Interessierte lohnt er sich. Wie die New-Deal-Gesetzgebung generell war auch die Einführung von Medicare bei weitem kein Selbstläufer. Auf der anderen Seite zeigt der zitierte Ausschnitt, wie manchmal der Widerstand aus unerwarteten Ecken kommt. So wie die Gewerkschaften während Schröders Agenda-Politik eine ordentliche Mindestlohngesetzgebung blockierten, um ihre eigene Bedeutung als Tarifpartner zu unterstreichen (in einer völligen Überschätzung der Macht, die ver.di würde erreichen können), so blockierten die amerikanischen Gewerkschaften eine allgemeine Krankenversicherung, weil die USA ein auf Beschäftigungsverhältnissen aufbauendes Krankenversicherungssystem besaßen, das heute alle entsprechenden Reformversuche zum Scheitern verurteilt. In beiden Fällen würden die Gewerkschaften die in einer Überschätzung der Wirkungsdauer der eigenen Stärke getroffenen Blockaden vermutlich gerne zurücknehmen, aber so ist das halt mit Entscheidungen: die haben Konsequenzen.

4) Brauchen wir eine neue Sammlungsbewegung?
Zunächst gilt es für alle Parteien, die sich im weiteren Sinne als sozialdemokratisch verstehen, sich an den historischen Auftrag der Sozialdemokratie zu erinnern: die Regulierung des globalen Kapitalismus. Dabei geht es nicht darum, sich gegen die Marktwirtschaft zu stellen, sondern Bürger vor der Macht der Märkte zu schützen und den Kapitalismus intelligent einzuhegen. Dafür bedarf es mehr Sozialpolitik, nicht weniger. Mehr Unterstützung für Schwächere und stärkere Gewerkschaften. Doch eines müssen Linke, die auf der Höhe der Zeit handeln wollen, dafür akzeptieren: Moderne Volkswirtschaften sind so stark miteinander verwoben, dass die regulierenden Möglichkeiten einzelner Nationalstaaten stark eingeschränkt sind. Nur durch Zusammenarbeit kann etwa das Problem der Steuerflucht internetbasierter Unternehmen angegangen werden. Eine linke Agenda, die mit nostalgischen Gefühlen für die autonomen Volkswirtschaften der Nachkriegszeit getränkt ist, wird es mit dem modernen Kapitalismus nicht aufnehmen können. Hier liegt eines der maßgeblichen Probleme von Wagenknechts Bewegung. Ein zweites findet sich mit Blick auf die Wählermilieus. Während der Jahre des Dritten Wegs und der Neuen Mitte, die Politiker wie Gerhard Schröder oder Tony Blair propagierten, versuchten sozialdemokratische Parteien in ganz Europa, moderne, marktaffine Gesellschaftsschichten für sich zu gewinnen. Und bis zu einem gewissen Maß war dieser Weg erfolgreich. Vor allem Frauen fühlten sich zunehmend von sozialdemokratischer Politik angesprochen. Heute sind sie es und nicht mehr die Industriearbeiter, die die Hauptwählerschaft der Mitte-links-Parteien stellen. Die Sozialdemokraten sprechen auch gebildetere Wähler an und solche, die in Städten und Gebieten mit dynamischer Wirtschaft leben. Dies sind zumeist auch die Menschen, die sich mit einem international ausgerichteten Leben wohlfühlen – zu dem die Anwesenheit von Einwanderern zählt. (Zeit)
Auch Colin Crouch gibt seinen Senf zur Sammlungsbewegung dazu. Was er und viele andere Beobachter in ihrer (korrekten) Analyse der Nachkriegsnostalgie bei den Linken übersehen ist, dass - wie immer, wenn auf irgendeine goldene Vergangenheit rekurriert wird - die Nationalstaaten nie ein inselartiges Verhältnis ihrer Volkswirtschaften zueinander besaßen. Vor der dunklen Zeit der 1930er und 1940er Jahre war die Weltwirtschaft stark integriert und der Kontrolle der internationalen Finanzmärkte unterworfen (ich habe das die "erste liberale Weltordnung" genannt, und es ist tatsächlich ein spannender Vorläufer der heutigen). Und in den scheinbar so klar geordneten Verhältnissen der frühen EWG wird gerne übersehen, dass die viele EWG-Mitglieder (Frankreich, Belgien und später GB) ausgedehnte Kolonialreiche besaßen, mit denen sie enge wirtschaftliche Verflechtungen hatten. Es ist also nicht so, als wären die Beziehungen der Staaten früher total von der restlichen Welt abgeschnitten gewesen. Und mit der Entkolonialisierung kamen wir in die zweite, bis heute geltende liberale Weltordnung, die in einem vandalistischen Akt der Geschichtsvergessenheit von rechts wie links eingerissen wird. Ich habe daher nur wenig Sympathie für Wagenknechts "Sammlungsbewegung", die eh nur eine weitere Spaltung der Linken ist. Selbst wenn sie erfolgreich wäre, sehe ich dafür nur dieses best-case-Szenario. Und was genau soll das ändern?

5) I've been visiting Israel since 1998. The path to peace is shrinking
Israel was already wealthy in 1998 and has gotten more so: Per capita income has soared from less than $20,000 to more than $37,000. [...] The Palestinians have not been so lucky. Their per capita income has risen from $1,400 to $3,000 — roughly the same percentage increase as Israel but one that puts them on par only with the Philippines and Sudan. [...] Hamas has also targeted Israel with rockets and even incendiary kites, resulting in burned-out fields that we saw on a drive along the border. Little wonder that there is less enthusiasm in Israel today than in 1998 for making territorial concessions: Israel has given up land but not gotten peace in return. The Palestinians, for their part, complain that peace is not possible as long as Israeli settlers occupy their land. In the past, I had played down this complaint because Israel had shown, not only in Gaza but also in the Sinai Peninsula, that it was willing to evacuate settlers for the sake of peace. But the demographic changes over the past two decades have been stark: In 1996, there were 134,000 Jewish settlers in the West Bank and Gaza. Today, there are 430,000 settlers in the West Bank, not counting East Jerusalem, which is home to 200,000 Israelis. [...] Among both Israelis and Palestinians, support for a “two-state” solution has waned since 1998. Extremists on both sides imagine they can somehow have the whole shebang to themselves. But it’s hard to imagine how, absent genocide, the Palestinians could gain control of roughly 7 million Jews or how, absent indefinite occupation, the Israelis can continue to control 7 million Palestinians. (The figures are projections for 2020 — and like everything else in the Holy Land, they are disputed.) Just as in 1998, there is still no practical alternative to a Palestinian state, even if that goal appears more distant than ever. (Washington Post)
Max Boot ist einer der profilierteste Neocons. Zur Bush-Zeit hat er flammende Plädoyers für ein amerikanisches Empire geschrieben, inklusive Forderungen nach der zivilisierenden Wirkung von "Europäern in Tropenhelmen" in der Dritten Welt. Wenn ein solcher Autor sich nun gegen Israels Außenpolitik wendet, ist das schon bemerkenswert, denn die bedingungslose und aggressive Unterstützung der israelischen Rechten war den Neocons immer schon ein Glaubenssatz. Unter George W. Bush wurde damals ja auch alles getan, um in der Region Öl in die Flammen zu gießen.
Auf der anderen Seite bleibt auch bemerkenswert, welche Erfolge Israel zu verzeichnen weiß, wenn es um die Lebensqualität der eigenen Bürger geht. So besorgniserregend die aktuellen Radikalisierungstendenzen in dem Land auch sind, es ist und bleibt die einzige funktionierende Demokratie im Nahen Osten. Umso bedauerlicher ist die beständige illegale Siedlungspolitik und das Apartheitsregime, das gegenüber den Palästinensern gefahrten wird. Ich hatte vor einigen Wochen ja schon einmal geschrieben, dass Israel sich im Endeffekt im Status Quo einrichtet und diesen festschreibt. Der einzige Friede, der da je möglich sein wird, ist resignierte Akzeptanz. Wahrlich keine guten Aussichten.

Was Ricarda Brandts zu sagen hat, geht uns alle etwas an. Die Präsidentin des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts erhebt schwere Vorwürfe gegen die Landesregierung und die Ausländerbehörde. Auf persönliche Veranlassung des Integrationsministers Joachim Stamp wurde der Islamist Sami A. in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Tunesien ausgeflogen. Dabei hatte ein Gericht ausdrücklich ein geltendes Abschiebeverbot bekräftigt: Es sei noch nicht geklärt, ob dem Mann in Tunesien wirklich keine Folter drohe. Stamp erfuhr von dem Beschluss, noch bevor Sami A. den tunesischen Behörden übergeben wurde. Trotzdem blies er die Abschiebung nicht ab. Dass man einen Islamisten schnell loswerden möchte, ist das eine. Dass es dabei immer nach den Regeln unseres Rechtsstaats zugehen muss, ist das andere – und Letzteres ist wichtiger. Wenn Behörden und Politiker sich unter dem Druck von Boulevardmedien über die verfassungsmäßige Gewaltenteilung hinwegsetzen, müssen alle Alarmglocken klingeln. "Die Unabhängigkeit von Gerichten ist ein hohes Gut. Aber Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen." So kommentierte NRW-Innenminister Herbert Reul den Fall. Wer so etwas sagt, hat das Einmaleins unseres Rechtsstaats nicht verstanden. Und sollte sich fragen, ob er den richtigen Job hat. Zumindest aber sollte er zehnmal laut diese drei Sätze von Ricarda Brandts lesen: "Die Unabhängigkeit der Gerichte ist nicht nur formal einzufordern, in einem stabilen Rechtsstaat wie dem unseren muss sie auch in der Praxis gelebt werden. Die Gerichte müssen unabhängig von der Mehrheitsmeinung urteilen. Und jeder sollte sich bewusst machen, dass ein Rechtsstaat sich gerade dadurch bewährt, dass er auch die Rechte von Minderheiten schützt, sogar die Rechte derjenigen, die den Rechtsstaat selbst nicht achten." (T-Online)
Es bleibt bei dem, was ich vor einiger Zeit im Vermischten bereits gesagt hatte: Rechtsstaat und Law and Order sind nicht dasselbe. Tatsächlich sind diejenigen Leute, die ständig Law-and-Order-Politics proklamieren, meistens keine Freunde des Rechtsstaats. Zwar wird dann gerne sich darüber aufgeregt, wie Merkel angeblich das Recht gebrochen hat, als sie nicht (mittels Magie, das ist immer etwas unklar) 2015 die Flüchtlinge aus dem Land gehalten hat, aber wenn die Behörden tausendfach unrechtmäßige Abschiebungen vornehmen, kräht kein Hahn danach. Law-and-Order der Art, wie es etwa die CSU schon immer zu ihrem Kern gemacht hat, ist immer die Nutzung der exekutiven Macht als Brechtstange und hat mit Rechtsstaat nichts zu tun. Polizei und Behörden werden benutzt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sei es das Unterdrücken von Protesten (man denke an 1967) oder das energische Abschieben von Leuten, die man für schuldig erachtet. Rechtsstaat aber heißt Unabhängigkeit der Gerichte, und das mögen Law-and-order-Leute eben gerade nicht. Die sehen "die ganze Härte des Rechtsstaats", wie eines ihrer dummen Schlagworte heißt, als Werkzeug in ihrem Sinne. Rechtsstaatliche Garantien sind da immer nur im Weg.

7) Zwei Wochen Crashkurs - dann Lehrer
"Jede besetzte Stelle ist besser als eine unbesetzte Stelle", heißt es aus der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie in Berlin. So wird gerechtfertigt, dass der Anteil an Lehrern ohne Lehramtsausbildung in Berlin besonders hoch ist. Weniger als 40 Prozent der neu eingestellten Lehrer haben in diesem Schuljahr eine reguläre Lehrerausbildung. Der Rest sind Quereinsteiger oder "Lehrkräfte ohne volle Lehrbefähigung", sogenannte LovLs. Bei Letzteren handelt es sich meist um Lehrer aus Willkommensklassen, die jetzt in den regulären Unterricht wechseln. Der Anteil bei den Grundschullehrern ist noch viel höher. In Berlin sind lediglich 30 Prozent der Neueinstellungen regulär für den Grundschulunterricht ausgebildet. Markus Hanisch von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) findet das besorgniserregend. "Gerade dort, wo pädagogische Fähigkeiten besonders gefragt sind, ist der Anteil der Quereinsteiger am höchsten." Gleiches gilt beispielsweise für Brennpunktschulen. Obwohl Quereinsteiger oft mit großer Motivation in den Lehrerberuf starten, sind sie oft nicht gut vorbereitet auf ihren Einsatz in der Schule. "Ich wurde komplett ins kalte Wasser geworfen", erzählt Friedolin Kramer im Gespräch mit tagesschau.de. Anfangs wusste er noch nichtmal, welchen Stoff er seinen Schülern eigentlich vermitteln soll. Die Schulbücher halfen da nicht viel. Denn an einem sogenannten Förderzentrum für Schüler mit Lernbehinderung unterrichtet er in ein und derselben Klasse nicht-deutschsprachige Analphabeten zusammen mit Schülern, die das Niveau einer 5. oder 6. Sonderschulklasse haben. [...] "Die Arbeitsbelastung der Quereinsteiger ist riesig", sagt auch Hanisch von der GEW Berlin zu tagesschau.de. "Sie machen in aller Regel eine gute Arbeit, aber sie bräuchten dringend mehr Unterstützung." Die GEW fordert deshalb schon lange mehr Qualifizierung für Quereinsteiger, eine größere Entlastung bei der Unterrichtsverpflichtung und vor allem auch mehr Entlastung der Kollegen an Schulen, die viele Quereinsteiger haben. (Tagesschau)
Besonders die östlichen Bundesländer haben die oben beschriebenen Probleme, weil sie fast zwei Jahrzehnte lang die Lehrerausbildung sträflich vernachlässigt haben (einige Bundesländer haben sogar überhaupt keine Lehrer ausgebildet). Das ging eine ganze Weile gut, weil in den letzten Jahren der DDR eine Schwemme von Junglehrern ausgebildet worden war und die neuen Bundesländer von diesem Bestand gut leben konnten; den Rest warb man in den anderen Bundesländern an. Jetzt aber rächt sich diese Politik zunehmend. Dazu kommt, dass die neuen Bundesländer als Arbeitgeber für Lehrer äußerst unattraktiv sind; freiwillig zieht da kaum jemand mehr hin, seit es Jobs auch wieder in den anderen Ländern gibt. Die Folge ist der rapide Niveauverfall. Es sollte offenkundig sein, dass die massenhafte Verpflichtung von Quereinsteigern besonders an Grund-, Sonder- und Brennpunktschulen nicht zu den besten Ideen gehört, die man so haben kann. Genau dort, wo Fachkräfte besonders gefragt sind, weil die individuelle Förderung eine äußerst diffizile ist, lässt man kaum ausgebildete Amateure die Lückenbüßer machen. Auf die Art baden die Kinder die Konsequenzen der schwarzen Nullen aus den Finanzministerien aus. Die Langzeitschäden, die hier angerichtet werden, gerade in den ohnehin strukturschwachen Regionen, sind enorm.

8) Die Demokratien werden von ihren Eliten zerstört
Wir alle kennen das zentrale Argument für die riesigen Gehälter der Topmanager: Sie bewegen sich auf einem weltweiten Markt, wer sie halten will, muss zahlen. Hartmann zeigt, dass auch das eine Lüge ist. „Von den CEOs der tausend größten Konzerne und von den tausend reichsten Menschen der Welt leben und arbeiten 90 Prozent in ihrem Heimatland. Unter den Chairmen liegt der Anteil sogar noch höher... Auch die Auslandserfahrungen der Wirtschaftseliten halten sich in viel engeren Grenzen, als man es angesichts der Medienberichte erwarten müsste. Gerade einmal gut jeder fünfte CEO war zumindest einmal in seinem Leben für wenigstens ein halbes Jahr ununterbrochen in einem fremden Land. Sieben von zehn CEOs haben ihr gesamtes Leben in ihrem Heimatland verbracht. Vor allem die Vorstellung, die berühmten Business Schools oder Eliteuniversitäten wären die Brutstätten einer globalen Elite, erweisen sich als falsch. Nicht einmal 10 Prozent der Topmanager und der Milliardäre haben überhaupt eine Hochschule im Ausland besucht, gerade einmal fünf Prozent eine Elitehochschule.“ Es gibt keine globale Wirtschaftselite. Es gibt auch keinen globalen Stellenmarkt für sie. Unsere Elite ist unsere und niemandes sonst. Sie hält sich an uns schadlos. Das ist zu lesen im neuesten Buch von Michael Hartmann: „Die Abgehobenen – Wie die Eliten die Demokratie gefährden“. Bevor demnächst uns Thilo Sarrazin, Ex-Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank, wieder weiszumachen versuchen wird, dass es der Islam und die Muslime sind, die unsere Welt zerstören, kommt Hartmanns Buch gerade rechtzeitig, um uns darüber aufzuklären, dass unsere Probleme zwar nicht verstanden werden können ohne die globalen Zusammenhänge, in denen sie stehen, dass sie aber eben doch hausgemacht sind. Die wahre Parallelgesellschaft in Deutschland bilden nicht die Hinterhof-Scharia-Gerichtshöfe, die es tatsächlich gibt, die aber für die weite Mehrheit auch der eingewanderten Bevölkerung irrelevant sind, sondern die von Hartmann beschriebenen Eliten. Das wird aus jeder seiner Untersuchungen deutlich. In seinem neuesten Buch, das die Erkenntnisse der früheren zusammenfasst, zitiert er Peer Steinbrück: „Das ist der Hauptvorwurf, den ich den so genannten Eliten mache: Diesen Leuten fehlt jegliches Verständnis dafür, was ihr Tun in der Gesellschaft auslöst. Die Ignoranz ist enorm.“ (Frankfurter Rundschau)
Es ist erstaunlich, wie die Flüchtlingskrise und das schreiend nationalistische Narrativ der Eurokrise es geschafft haben, die Finanzkrise praktisch völlig vergessen zu machen. Es ist von daher gut, dass Michael Hartmann weiter daran arbeitet, vor den sich selbst reproduzierenden und völlig abgehobenen Elitenzirkeln zu warnen, die nach wie vor (sogar noch mehr als früher) die Macht in der Gesellschaft innehaben. Auch die oben widerlegten Argumente hört man ja gerne.

9) "Eine Zuwanderung in die Sozialsysteme wollen wir verhindern"
Von einem Gesetzesentwurf sind die Eckpunkte von Bundesinnenminister Horst Seehofer zwar noch ein gutes Stück entfernt. Doch aus Sicht von Wissenschaftlern und Wirtschaftsvertretern weist die Idee eines Migrationsgesetzes in die richtige Richtung. [...] Der Stand von 1,2 Millionen offenen Stellen ist nicht nur ein historischer Höchstwert, es deutet auch nichts darauf hin, dass sich die Situation entspannen könnte. Im Gegenteil. Gerade im Bereich der Ausbildungsberufe tun sich mehr und mehr Lücken auf: Schon letztes Jahr bleiben fast 49.000 Lehrstellen unbesetzt. Bisher trägt vor allem die europäische Binnenmigration dazu bei, dass die Fachkräftelücke nicht noch größer wird. Vor allem Osteuropäer suchen im Rahmen der Personenfreizügigkeit ihr Glück auf dem deutschen Arbeitsmarkt. [...] Vor allem im wirtschaftsstarken Süden und in der Mitte der Republik würde ohne ausländische Arbeitnehmer schon jetzt nicht viel laufen. In Baden-Württemberg und Hessen haben bereits 15 Prozent aller Beschäftigten keine deutsche Staatsangehörigkeit, in Bayern sind es 14 Prozent. [...] Außerdem sollen ausländische Fachkräfte sich eine befristete Zeit lang in Deutschland aufhalten dürfen, um eine Stelle zu suchen. In dieser Phase sollen sie auch unterhalb ihrer eigentlichen Qualifikation arbeiten dürfen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. [...] Während der befristeten Zeit der Arbeitssuche sei ein Bezug von Sozialleistungen ausgeschlossen. [...] Ungeklärt bleibt darüber hinaus, ob auch Flüchtlinge aus ihrem Status als anerkannte Asylbewerber in das neue System wechseln können. Das ist ein Balanceakt, denn einerseits soll die Integration von Asylbewerbern in den Arbeitsmarkt erleichtert werden, andererseits könnte es falsche Anreize setzen, wenn das Recht auf Schutz vor politischer Verfolgung mit wirtschaftlicher motivierter Migration vermischt wird. [...] Manchen Berechnungen zufolge braucht die Bundesrepublik jährlich 400.000 bis 500.000 Zuwanderer, damit das deutsche Sozialsystem langfristig nicht zusammenbricht. Auch die Koalitionäre betonen diesen Zusammenhang: Die Stabilität der deutschen sozialen Sicherungssysteme sei eng an die Migration von qualifizierten Arbeitskräften gekoppelt. (Welt)
Es wurde auch Zeit, dass da endlich was passiert. Nachdem CDU und CSU ein modernes Einwanderungsrecht über Jahrzehnte verschleppt haben, kommen jetzt ein paar Eckpunkte, die ein absolutes Minimalprogramm darstellen. Es ist hauptsächlich ein Herumdoktorn am bestehenden System, wo einige der offensichtlichsten Fehlanreize korrigiert werden sollen. Aber am eigentlichen Problem ändert sich auch mit diesem Entwurf leider wenig. Weder gibt es ein nachvollziehbares und halbwegs zuverlässiges Punktesystem, noch geht es auf die außereurpäische Migration ein, die nicht über die Blue Card läuft. Dabei ist, wie der Artikel ja durchaus deutlich aufzeigt, Handlung dringend geboten. Deutschland braucht Migration, das ist ja das eigentlich Enervierende an dieser sinnlosen "Debatte", die da gerade ständig geführt wird. Statt dass man über einen vernünftigen Pfad zur Staatsbürgerschaft für die hunderttausende potenzielle Arbeiter nachdenkt, die bereits hier sind, und vernünftige Investionen in die benachteiligten Schichten der anwesenden Migranten steckt, rennt man der Mirage nach, hochqualifizierte Arbeitnehmer aus dem Ausland anzuwerben. Das geht natürlich, aber erstens gibt es dafür starke Grenzen und zweitens ist es eine wenig nachhaltige Policy: Das Ausland, gerade Länder der Zweiten und Dritten Welt, bildet nur vergleichsweise wenig qualifiziertes Fachpersonal aus. Das ist einsichtig, sonst wären das ja keine Entwicklungs- und entwickelnden Länder. Dazu kommt, dass wir ja eigentlich wollen, dass diese Länder sich entwickeln - was schwierig ist, wenn wir ihnen zwar die gigantischen Qualifizierungskosten aufbürden, ihnen dann aber das Personal wegnehmen. Wie wenig langfristig wirksam und sinnvoll diese Strategie ist, haben wir im Föderalismus hier in Deutschland selbst ja wie in Fundstück 7 beschrieben ja auch schon gesehen. Es ist ein typisches Einwanderungskonzept all derer, die im Märchenland leben: qualifizierte, am besten vor-integrierte Einwanderer ohne jegliche Kosten hätte man gerne, aber das geht halt selten. Lustigerweise fordern so was genau die Leute, die dann den Linken Realitätsverweigerung und rosarote Brillen vorwerfen, wenn die etwas ambitionierte Sozialbudgets fordern...

10) Maaßen muss zurücktreten
Für Brandner besteht eine syrische Familie aus „Vater, Mutter und zwei Ziegen“. Angela Merkel sei eine „Fuchtel“, die 33 Jahre in den Knast gehöre: „Anklagen. Einknasten. So.“ Grüne sind „Kinderschänder und Koksnasen“ und Minister Heiko Maas das „Ergebnis von politischer Inzucht im Saarland“. Inzwischen ist er leider und ausgerechnet Vorsitzender des Rechtsausschusses des Bundestages. Wenn sich der Verfassungsschutz mit einem solchen Mann beschäftigt, so möchte man annehmen, dann nur deshalb, um ihn zu überwachen. Weit gefehlt: BfV-Präsident Hans-Georg Maaßen traf sich mit ihm zu einem einstündigen Gespräch über politische Fragen und den aktuellen Verfassungsschutzbericht, für den der Rechtsausschuss gar nicht zuständig ist. So, als wäre das ganz normal für den obersten Hüter der Verfassung, die mit dem Satz beginnt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Maaßens AfD-Kontakte von Frauke Petry über Alexander Gauland bis zu Brandner sind nicht normal. Und bis heute wurde der Verdacht nicht ausgeräumt, dass es Beratungsgespräche waren. Diese Treffen werden zunehmend zum Skandal. Es stellt sich die Frage, ober er noch der richtige Mann für dieses Amt ist. Ein Rücktritt wäre die klarste Konsequenz. Herr Seehofer, übernehmen sie! (Sprengsatz)
Der Verfassungsschutz ist ein einziger brauner Sumpf, schon immer gewesen. Ich befürchte, der Laden ist unreformierbar. Aber er kommt seiner Aufgabe ohnehin kaum richtig nach. Gäbe es nur den politischen Willen, da mal mit dem Kehrbesen durchzugehen! Soviel Inkompetenz, braune Kungelei und Geldverschwendung wie dort findet sich an kaum einer anderen Stelle, und das wird nicht dadurch besser, dass wir uns durch föderalen Irrsinn auch noch sechzehn Landesverfassungsschutze leisten. Das wäre mal ein ordentliches Projekt für einen Mitte-Links-Innenpolitiker, bevor irgendwann doch mal die LINKE an der Regierung ist und ihre feuchten Verfassungsschutzträume erfüllt.

11) Geschäftsmodell - Das Leben zerstören
Auch hierzulande gibt es einen nationalistisch-verschwörungstheoretischen Sumpf, angefeuert von kommerziellen Organisationen wie dem Kopp-Verlag und dem unter Rechtsradikalen beliebten Magazin "Compact". Mit beiden hat der Journalist Richard Gutjahr in den vergangenen Jahren sehr unangenehme Erfahrungen machen müssen. [...] Sie wühlten in Gutjahrs Privatleben und erfanden eine aberwitzige Erzählung, derzufolge die Taten in Wahrheit von Geheimdiensten geplant und durchgeführt worden waren. Gutjahr sei, durch angebliche familiäre Verbindungen, vorher darüber informiert und deshalb jeweils vor Ort gewesen, um daraus publizistisches Kapital zu schlagen. Die Theorien wurden immer extremer. Gutjahr und seine Familie wurden beschimpft, bedroht und belästigt, in Aberhunderten Videos, unzähligen Tweets, Facebook-Posts, mit Paketen an ihre Heimadresse und so weiter. [...] Von den Betreibern der Plattformen, die die Verschwörungstheorien und Attacken verbreiteten, gab es dagegen keine Unterstützung, und auch die Staatsanwaltschaft konnte nicht helfen. Dafür verdiente jemand daran: Gerhard Wisnewski, der schon seit vielen Jahren von Verschwörungstheorien lebt, verfasst für den Kopp-Verlag jährlich ein offenbar recht erfolgreiches "Jahrbuch" über Dinge, die "die Medien" angeblich verschwiegen haben. In der Ausgabe für 2016 gab es auch ein Kapitel, das die Gutjahr-Verschwörungstheorie zum Thema hat. Eben hat Wisnewski einen Prozess gewonnen, den Gutjahr gegen das Buch angestrengt hatte. Der Ausgang geht vermutlich an Wisnewskis spezielle Methode zurück: Er formuliert Entscheidendes immer als Frage, insinuiert und deutet an, statt zu behaupten. Die persönlichen Attacken übernehmen dann andere. Im Urteil, so das Gericht, ginge es eben nur um das Buch und nicht um die erbarmungslosen Online-Kampagnen. Gutjahr hat über die Tortur, die er und seine Familie durchleben, mittlerweile zwei online verfügbare Vorträge gehalten. Er geht in die Offensive, beschäftigt einen Anwalt, der gegen die Wortführer unter den Diffamierern vorgeht, auch im Ausland, offenbar mit Erfolg. Er rät allen Betroffenen in ähnlichen Fällen, sich zu wehren, und zwar möglichst frühzeitig. (SpiegelOnline)
In meiner damaligen oh-so-kritischen linken Phase habe ich auch Gerhard Wisnewski gelesen und mich atemlos darüber aufklären lassen, wie "die Mächtigen" "uns alle" manipulieren. Dass der Spaten immer noch aktiv ist ist traurig. Aber welche Konsequenzen dieser Unfug mittlerweile für Menschen hat ist mehr als abscheulich. Viel schlimmer noch als Gutjahr trifft es (wie im verlinkten Artikel ausführlich beschrieben wird) die Opfer amerikanischer Spinner wie Alex Jones und seinem Siffloch von "InfoWars". Man entschuldige die harsche Sprache, aber diese Leute sind Gesindel. Sie machen Öffentlichkeit zur Waffe und zerstören Leben nur um Geld zu machen. Das wäre nur ein Fall für den Staatsanwalt, wenn sie sich nicht auch noch gesamtgesellschaftlichen Schaden anrichten und die Meinungsfreiheit dazu missbrauchen würden, mit bewussten Falschaussagen Kasse zu machen und aufzuhetzen, um einen sich gewogenen Mob zu schaffen.