Freitag, 27. Dezember 2019

Getting Brexit done - Eine Analyse der britischen Wahlen 2019

Ein konservativer britischer Premierminister sieht sich einer gespaltenen Partei und einer zwiespältigen Öffentlichkeit gegenüber. Das dominierende Thema der Politik ist die Umsetzung eines Referendums über den Austritt aus der Europäischen Union. Die Opposition ist ebenso gespalten, die Verhältnisse unklar, die Lage volatil. Die praktische Umsetzung eines so eindeutigen Plebiszits ist völlig ungeklärt. In dieser Lage wird eine Neuwahl ausgerufen, die den gordischen Knoten durchschlagen soll.

Diese Beschreibung trifft sowohl auf Theresa Mays Entscheidung für Neuwahlen 2017 als auch auf die Boris Johnsons 2019 zu. Aber die Resultate und Konsequenzen könnten unterschiedlicher kaum sein. Wo May ihre Parlamentsmehrheit einbüßte und sich zwei lange Jahre lang mit Unauflösbarkeit des irischen Backstop-Dilemmas konfrontiert sah, gewann Boris Johnson eine eindeutige Mehrheit, während die Opposition geradezu kollabierte. Wir wollen, nun mit etwas Abstand, den vermutlich letzten Akt des Dramas betrachten; quasi ein letzter Blick auf ein noch formal zur EU gehöriges Großbritannien.

Mehrere Phänomene erfordern unsere Aufmerksamkeit und unsere Analyse. Da wäre einerseits die Frage, welche Faktoren zu Johnsons durchschlagendem Wahlsieg führten. Da wäre andererseits die Frage, worauf der unglaubliche Kollaps Labours unter Jeremy Corbyn (und ebenso, wenngleich weniger diskutiert, der der Liberal Democrats) zurückzuführen ist. Und zuletzt muss untersucht werden, welche Folgen diese tektonischen Verschiebungen für die politische Landschaft Großbritanniens haben.

Betrachten wir zuerst die Ursachen von Johnsons Sieg, soweit sie ihre Gründe nicht in der Schwäche der Opposition haben. Was unterscheidet die Tories 2019 von den Tories 2017? Warum gelang Johnson, was May versagt blieb?

Ich denke, es ist unumstritten, dass die Wahl 2019 - deutlich mehr als die Wahl 2017 - von der Entscheidung über den Brexit bestimmt war. Wo Theresa May versuchte, sich mit so brillanten Zirkelschlüssen wie "Brexit means Brexit" aus der Affäre zu winden und mit jedem Tag mehr Glaubwürdigkeit auf der rechten Flanke einzubüßen, ohne dies durch Zugewinne bei moderaten Kräften kompensieren zu können, ließ Johnson von Anfang an keinen Zweifel daran, dass er den gordischen Knoten zu durchschlagen gedenkt: "Get Brexit done!" war das Motto, "and the damn the consequences!" der unausgesprochene zweite Teil.

Das Kalkül hinter dieser Inszenierung als Brexit-Volkstribun war wohl, die permanente Wadenbeißerei vom rechten Rand, die May so plagte, zu neutralisieren. Dieses Kalkül ging auf. Nigel Farage schloss einen Pakt mit Johnson und vernichtete seine neue Brexit-Partei, noch bevor sie richtig aus den Startlöchern kam. Was er bei diesem faustischen Pakt bekam, ist bisher eine Unbekannte, aber man darf sich sicher sein, dass er die Rechnung noch präsentieren wird. Gleichzeitig hatte Johnson, anders als May nach ihrer desaströsen Wahl, die Möglichkeit, die Spaltung der eigenen Partei über die Frage nach hard Brexit oder soft Brexit zu überwinden, wenngleich zugegebenermaßen auf die brutalstmögliche Art.

Durch zahllose Parteiaustritte wurden die Tories zur neuen Brexit-Partei, und Johnsons Wahlsieg füllte sie mit radikalisierten Parteigängern auf. Anders als May verfügt er damit über den Handlungsspielraum, den sie sich 2017 zu verschaffen hoffte und stattdessen endgültig zerstörte. (Wir sollten vorsichtig sein, das als zwangsläufige Folge zu sehen: Johnson ging wie May eine Wette mit ungewissem Ausgang ein, nur gewann er sie, aus Gründen, die noch zu zeigen sein werden.)

Dass es überhaupt soweit kam - sowohl zum Brexit-Votum selbst als auch zu den Wahlen 2017 und 2019 - ist ebenso wenig eine klar vorhersehbare Trendlinie. Zu Beginn des Jahrzehnts etwa konnte es noch als gesichert gelten, dass ein erfolgreicher Premierminister David Cameron die Brexit-Tories für die vorhersehbare Zukunft neutralisieren würde. Was ist geschehen?

Für Andrew Marr liegt die Ursache für den harschen Wandel des britischen politischen Systems in der toxischen Kombination aus Austerität und plebiszitärer Demokratie:
The shape of this revolution should not be a surprise. It began in the years after the 2008 financial crash, when the British state responded by radically restricting spending and, in doing so, greatly exaggerated the gap in life expectations, hope and happiness between the poorest social classes and least invested-in communities, and the rest. A fracture opened up between comfortable and uncomfortable Britain. That crack was then widened when David Cameron imported a plebiscite into British parliamentary democracy. It allowed the first big modern provincial rebellion against metropolitan power – an uprising that was about culture and dignity as well as economic position.
Die Folgen der Finanzkrise von 2007-2009 sind immer noch in allen politischen Analysen deutlich unterrepräsentiert, vor allem wenn man es mit der erschöpfenden Analyse der Flüchtlingskrise 2015 vergleicht (die für das ganze Brexit-Dilemma entscheidend ist, make no mistake). Die Briten sind, was Ungleichheit angeht, den Amerikanern näher als Kontinentaleuropa - und gleichzeitig in ihren Anforderungen zur Problemlösung an den Staat wiederum näher an Kontinentaleuropa als an den USA. Diese Mischung brodelte unter der Oberfläche, und ein Teil von Corbyns Erfolg 2017 liegt sicher auch darin, dass er diese Mischung aufgreifen konnte - während Theresa May sich als Margret Thatcher 2.0 präsentierte und eine "strong and stable"-Fortsetzung der Austeritätspolitik versprach.

Man sollte weder bei Johnson noch bei Trump unterschätzen, wie wichtig ihre ostentative Aufgabe der Austeritätspolitik und das Abwerfen des Dogmas des freien Wettbewerbs und Handels für ihren jeweiligen Wahlerfolg war. "Taking back control" hat eine ganze Menge, auch xenophobe, Untertöne, aber einer dieser Untertöne ist eben auch die Entmachtung der Londoner City beziehungsweise der Wall Street. DAS ist der Grund für die schichtenübergreifende Attraktivität des neuen Rechtspopulismus.

Dementsprechend könnte man mit David Skelton der Ansicht sein, dass die Tories, wollen sie ihre "Leihstimmen" aus den Labour-Hochburgen halten, eine entsprechende Anti-Austeritäts-Politik auch in der Praxis fahren müssen:
If the Tories want to retain their coalfield and steeltown seats, rather than merely holding them on “loan”, they have to use the next five years to deliver real and transformative change. Transport infrastructure, including road, rail and light rail, should be directed towards these towns. There should be a mission to reindustrialise parts of the north with a strong manufacturing heritage, with an emphasis on encouraging industrial investment in long-forgotten towns. A vocational education revolution should include basing vocational centres of excellence, in partnership with major employers, in these towns. A fundamental priority for the government should be to turn round decades of decline. 
Es wird sich weisen, ob Boris Johnson besser als Donald Trump in der Lage sein wird, seiner Partei einen solchen Politikwechsel aufzuzwingen. Zwar geben auch die Republicans das Geld mit vollen Händen aus, machen Schulden und kümmern sich keinen Deut um die Finanzierbarkeit - eine jahrzehntelange Tradition aller konservativen Parteien, die Haushaltsdisziplin immer genau dann als Tugend entdecken, wenn sie in Opposition geraten - aber Trump, ganz der Mentalität eines Mafia-Bosses verpflichtet, war und ist nicht in der Lage, die Früchte dieser Ausgabenpolitik auf breite Bevölkerungsschichten anzuwenden und bedenkt nur seine eigene, schmale Basis. Johnson ist jedoch, nach allem was man sieht, ein wesentlich gerissenerer politischer Führer als Trump, weswegen er den benefit of the doubt verdient.

In der Zwischenzeit betont John Elledge die Rolle der Demographie für das Wahlergebnis:
But another, I’d guess, is economics. For reasons we’ve often discussed on CityMetric, around the shift to services and the growing importance of agglomeration, a falling share of jobs are in towns, and a growing share are in cities. The result of this is an internal brain drain: a chunk of the population of each town leaves to go to university at 18 and finds they have no particular reason to move back. For those on the outskirts of London, or other boomtowns, some move back in their 30s to start families. But for places like Workington, they don’t. The net result is that many of those towns have populations with fewer young people, more old ones – and who are increasingly likely to vote Tory.
Wir sehen diese Dynamik überall in der westlichen Welt. Je geringer der Bildungsabschluss, je weißer, je älter, je männlicher und je ländlicher, desto eher wählt man Rechtspopulisten. Diese Trendlinien sind viel zu ubiquitär, viel zu offenkundig, als dass man sie ignorieren könnte. Die Demographie erweist sich für Labour daher in einem Mehrheitswahlrechtssystem ähnlich zum Fluch wie für die Democrats in den USA: Obwohl die eigentlichen Stimmenanteile gar nicht soooooo weit auseinanderliegen, trennen die tatsächlich damit errungenen Sitze Welten. Labour profitiert nur wenig davon, diverse Sitze in London mit 70% oder mehr zu gewinnen, während die Tories auf dem flachen Land die Stimmen der Absteiger einkassieren können.

Soweit, so normal.

Die Linke ist mittlerweile vereint in ihrem Lieblingssport: dem Erklären der Niederlage mit all den Faktoren, die nichts mit ihr selbst zu tun haben. Wie albern diese Unternehmung werden kann, ist in einem viralen Twitterthread beschrieben worden, dessen Lektüre als eine Art kalte Dusche nur anempfohlen werden kann:
Der erste Fehler, den man in diesem Zusammenhang machen kann, ist, Labours Niederlage in nur einem Grund zu suchen: Brexit. Lügenpresse. Corbyn. Antisemitismus. Sozialistisches Wahlprogramm. Pick whatever you prefer. Stattdessen gibt es eine ganze Reihe von Gründen, die teilweise in, teilweise auch außerhalb der Kontrolle der Partei liegen.

Sehr in der Kontrolle der Partei ist Jeremy Corbyns astronomische Unbeliebtheit. Diese hat viele Ursachen. Corbyn präsidiert über eine tief gespaltene Partei, ein Amt, an das er auf eine Weise kam die das Establishment dieser Partei als illegitim empfindet, und versuchte danach (ähnlich wie Johnson) seine eigenen Leute in Machtpositionen zu bringen. Das ist absolut sinnvoll; Corbyn muss nur mal Martin Schulz fragen, was passiert, wenn man das nicht tut, aber es sorgt eben gleichzeitig auch für Missstimmung innerhalb der Partei. Und wenn Linke etwas lieben, dann ist es Selbstzerfleischung, das wusste schon die Monthy-Python'sche Volksfront von Judäa.

Dazu kommt, dass Corbyn nicht eben ein Sympathieträger ist, das hat er mit Theresa May, Hillary Clinton oder Angela Merkel gemein (auch wenn diese den Vergleich sicher scheuen würden). Zudem vertritt er diverse Positionen, die in Großbritannien selbst unter Labour-Anhängern nicht mehrheitsfähig sind, etwa seine offensive Abneigung der Monarchie. Ich kenne britische Sozialdemokraten, die allein hierin schon ein Problem sehen, denn der Premierminister ist immer noch Vorsitzender von Her Majesty's Cabinet. Auch eine ablehnende Haltung gegenüber dem Militär und dem britischen nuklearen Abschreckungspotenzial trägt nicht unbedingt dazu die, die Wortgruppe "Ministerpräsident Jeremy Corbyn" auf Begeisterungsstürme in der traditionell interventionsfreudigeren britischen Öffentlichkeit stoßen zu lassen.

Man kommt im Zusammenhang mit Corbyns Beliebtheit leider auch nicht darum herum, die Antisemitismusdebatte in der Partei zu behandeln. Ob Corbyn überzeugter Antisemit ist oder nicht spielt in der Debatte in etwa eine so große Rolle wie die Frage, ob Konrad Adam oder Alice Weidel Nazis sind: Wer solche Elemente in seiner Partei akzeptiert und sich nicht klar distanziert, macht sich gemein, und den Vorwurf muss sich Corbyn mindestens gefallen lassen. Seine skandalträchtigen Verbindungen zur iranischen Staatspresse oder der Hezbollah machen die Sache da nicht unbedingt besser.

Fairnesshalber muss natürlich auch gesagt sein, dass Corbyn und Labour generell sich einer extrem feindlichen Presselandschaft gegenübersahen und -sehen. Die britische Presse, vor allem die mächtige Yellow Press, ist seit ihrer Entstehung in der Frühzeit des 20. Jahrhunderts mit einem starken Rechtsdrall ausgestattet, und die Kampagnenberichterstattung dieser von wenigen Milliardären gesteuerten Blätter lässt die Springerpresse wie Chorknaben aussehen. Aber alleine hat dieser Fakt wenig Überzeugungskraft, denn das deutlich bessere Abschneiden Labours 2017 verdankt sich ja nicht eben der Corbyn-Begeisterung der Daily Mail.

Ein weiteres Problem für Labour war, dass sie aus der Ablehnung der Austerität kein politisches Heu zu dreschen in der Lage waren. Wie so oft bei sozialdemokratischen Parteien dieser Tage ist fast jede einzelne der Forderungen aus dem jeweiligen Wahlprogramm ungeheuer populär und findet deutlich jenseits der Zwei-Drittel-Mehrheit Zustimmung in der Bevölkerung. Wie jedoch auch so oft fehlt das Grundvertrauen, dass die Partei tatsächlich in der Lage wäre, diese Forderungen auch umzusetzen, oder aber die Früchte dieser Forderungen in die "richtigen" Bahnen zu lenken. Konkret gesagt: Sozialstaat für Weiße, dieses so erfolgreiche Versprechen der Rechtspopulisten von Budapest und Warschau über London und Washington.

Der größte Unterschied zwischen den Wahlen 2017 und 2019 jedoch lag außerhalb der Kontrolle der Partei. Niemand wird bestreiten wollen, dass das zentrale, alles überschattende Thema 2019 der Brexit war. Die Trennlinien zu diesem Thema - Leave oder Remain, hard oder soft - schnitten quer durch die Anhängerschaften der Parteien. Johnson konnte sich mit einer gewissen Glaubwürdigkeit als Mr. Brexit inszenieren, während Corbyns Engagement für den Verbleib in der Union sowohl 2016 als auch 2017 bestenfalls ambivalent war.

Aber die Tories sind auch einiger (man beachte den Komparativ) in dieser Frage, als es Labour ist. Und 2017 gab es keine Mehrheit für einen hard Brexit; stattdessen forderten Elektorat und Partei von Theresa May die Quadratur des Kreises, an der sie scheitern musste. Johnson hob dann die Trümmer einer erschöpften Partei auf und peitschte diese in ein Ende mit Schrecken, um dem Schrecken ohne Ende zu entkommen.

Labour stand dieser Weg nicht offen. Stattdessen war eines der größten Probleme, in den Worten Stephen Bushs, dass "[t]he party's pro-Brexit MPs spent three years looking for ways to back Brexit in theory, but not in practice". Ich halte diese Suche für einen Kerngrund des überraschend guten Abschneidens von Labour bei den Wahlen 2017. Ich hatte damals einen Freund von mir gefragt, der in der Politikberatung tätig ist, ob Labours Erfolg davon abhängig sei, dass sie keine Position bezüglich des Brexit einnähmen. Er schüttelte den Kopf und meinte, es sei, weil Labour ALLE Positionen bezüglich des Brexit zugleich einnehme. Dieses Jonglierspiel musste irgendwann scheitern, und 2019 brach es krachend zusammen.

Auch Yascha Mounk sieht die Spaltung der Labour-Wählerschaft als ein letztlich unauflösbares Problem, wenngleich er Brexit nur als eine Facette eines größeren Kulturkampfs ansieht:
So Labour is now being pulled in two opposite directions. Many of its middle-class voters feel that the party is not sufficiently liberal on cultural issues; as a result, they are tempted to opt for more consistently progressive alternatives such as the Green Party. Meanwhile, many of its erstwhile working-class voters feel that the party’s leaders have come to look down on their cultural views; as a result, they are tempted to vote for the Tories, or even for more extreme alternatives such as the Brexit Party.
Ich teile die manische Obsession mit identity politics, die Mounk und so viele andere Beobachter dieser Dynamiken treibt, nicht. Fakt ist allerdings, dass Labour unter denselben Fliehkräften leidet wie auch die SPD und droht, von ihnen zerrissen zu werden. Johnson hat eine taktische Verkleinerung seiner Partei vorgenommen, um sie danach umso sprunghafter expandieren zu lassen. Das rosige Zukunftsszenario für Labour wäre, dass der Partei Ähnliches gelingt, aber ich bin da sehr skeptisch.


Gleichzeitig halte ich es aber für eine arg selbstverliebte Feststellung von Mitte-Rechts, einfach nur das ambitionierte Programm von Labour zur Maßgabe zu machen. Auch Andrew Marr zweifelt hier:
Nor am I completely convinced that the Labour manifesto was simply too ambitious and too generous to persuade voters. By the end of the campaign billions were being thrown around by insouciant politicians on all sides as if they were autumn leaves. People had stopped counting.
Das konservative Programm war schließlich mindestens ebenso radikal, wenn nicht radikaler, als das Programm von Labour, wenngleich in eine andere Richtung.

So viel erst einmal zu den Gründen für das Wahlergebnis. Wir wollen uns jetzt den Folgen zuwenden.

Eine der offensichtlichsten Konsequenzen von Johnsons Spaltungskurs (nicht, dass es einen Konsens hätte geben können, das hat May nachdrücklich bewiesen) ist das Wiederbeleben von Nicola Sturgeons Unabhängigkeitskurs in Schottland. Die Forderung nach einem zweiten Referendum ist durch den nun praktisch unvermeidbar gewordenen Hard Brexit zwar immer noch nicht sonderlich überzeugend, aber mit einer völlig neuen politischen Dynamik ausgestattet. Zudem hat der Siegeszug der SNP, der nach dem gescheiterten Referendum 2014 seinen Zenit überschritten haben zu schien, mit Verve zurückgekehrt; noch nie zuvor sandten die Separatisten so viele Vertreter nach Westminster. Der Streit um die schottische Unabhängigkeit dürfte zusammen mit dem Brexit das beherrschende Thema von Johnsons Amtszeit werden, ohne dass klar wäre, wie es für Schottland und das Vereinigte Königreich ausgehen wird.

In etwas abgeschwächter Form findet sich das Problem auch in Nordirland wieder. Wie sich der Brexit mit der EU-Mitgliedschaft Irlands und einer prinzipiell offenen Grenze zwischen den beiden Insel-Teilstaaten vertragen soll, ist weiterhin völlig offen. Obwohl kaum ein Thema Mays Regierungszeit so überschattet hat wie der Backstop, der jeden Brexit-Vertrag unmöglich machte, spielte das Thema im Wahlkampf selbst kaum eine Rolle mehr - vermutlich ebenfalls ein Ermüdungseffekt, der Johnson hier zugute kam. Gelöst allerdings ist es damit freilich nicht.

Gleichzeitig sehen wir in Johnsons Sieg eine Wasserscheide im britischen politischen System. Ich habe vorher die Aussage getroffen, dass Johnsons Programm mindestens genauso radikal wie das Corbyns war, wenngleich diese Einsicht im Wahlkampf selbst nicht wirklich durchgedrungen ist.

Der für das politische Gesamtgefüge sicherlich wichtigste Punkt ist der Verfassungswandel, den Johnson anstrebt. Angesichts des Mangels einer festgeschriebenen Verfassung kann seine deutliche Parlamentsmehrheit hier große Änderungen vornehmen, sofern ihn die Gerichte lassen. Und das Aufstocken der Gerichte mit Tory-Parteigängern gehört gerade zu den expliziten Absichten des Mannes, auch hier ein Muster, das sich bei allen dieser Rechtspopulisten findet.

Dabei sollte man nicht den Fehler machen und Johnson unterstellen, dass er es auf eine Art Ermächtigungsgesetz abgesehen hätte; weder ist er so krude, noch würde das seinen Absichten gerecht werden. Der Verfassungswandel wird, wie auch bei Orban oder Kaczinsky, schleichend vonstatten gehen. Neuzuschnitte der Wahlkreise zum Zementieren der Tory-Mehrheit, das Ausschalten von Veto-Positionen innerhalb des Systems und eine weitere Zentralisierung von Macht in einem ohnehin bereits verhältnismäßig zentralisierten System sind entscheidende Stellschrauben des Systems.

Jeremy Cliffe beschreibt die Gefahren eines schleichenden Verfassungswandels sehr eindringlich:
The country, it is true, has an almost uniquely robust and combative political culture. It is said that Boris Johnson is a “liberal conservative” and that he is not to be taken literally, yet similar things were claimed of the US and Donald Trump. And the British system is especially amenable to strongman leadership: its government is highly centralised, its second chamber and local government are feeble and its prime minister can wield vast executive power with a majority. [...] Already Johnson and those around him have started probing the limits of Britain’s liberal-democratic culture. The unlawful prorogation of parliament, the threat of political vetting of judges, and the subsequent electoral narrative of “people versus politicians” requiring rescue by a muscular father-of-the-nation type is straight out of the Visegrad playbook. Then came the calculated provocations during the campaign: the smirking evasion of rigorous broadcaster coverage and dog-whistle attacks on EU nationals who treat Britain as “their own”.
Auch Andrew Marr schlägt in diese Kerbe:
We should be prepared for a novel combination of harsh centralism in politics, combined with relatively expansionist and moderate policies elsewhere. Perhaps this is what “the people’s government” means.
So oder so, es wird ungemütlicher in Großbritannien. Anders als Cameron und May sieht sich Johnson nicht als Reinkarnation Thatchers. Das ist ihm vermutlich eine Nummer zu klein. Sein großes Vorbild ist Winston Churchill, als dessen Nachfolger er sich zu inszenieren sucht. Nun war Churchill nicht eben bekannt dafür, ein allzu progressiver Geselle zu sein; er war ein Kriegspremier, und so wurde er auch gesehen. Churchill war aber auch einer der wenigen Tories, die erkannten, dass es eine konservative Sozialpolitik braucht, um die Herrschaft der Tories zu untermauern - eine Erkenntnis, die auch an Boris Johnson nicht vorbeigegangen ist.

Vielleicht ist der Hüne mit dem wirren blonden Haarschopf der alten Bulldogge doch ähnlicher, als die hybrisgeladene Arroganz auf den ersten Blick vermuten lässt. Immerhin ein Lichtblick bleibt: Auf Churchill folgte das goldene Zeitalter der Sozialdemokratie in Großbritannien, mit großer Gleichheit und rapide steigendem Lebensstandard. Hoffen wir, dass Labour einen neuen Clement Attlee findet.

Montag, 23. Dezember 2019

Arbeiter gehen in den öffentlichen Dienst um Villen per Post an den Klimawandel zu schicken - Vermischtes 23.12.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Abschied von einem verpeilten Jahrzehnt
Beispiel Staat überhaupt: Im öffentlichen Dienst sind zwar ebenfalls allmählich wieder mehr Stellen geschaffen worden. Nur arbeiten beim Staat nach wie vor weniger Menschen als 2000, während die Wirtschaft seitdem kaum gewachsen ist und alles in allem in Deutschland heute gut zehn Prozent mehr Leute arbeiten als noch 2010. Und eben auch deutlich mehr Menschen überhaupt im Land leben. Da kümmern sich heute also weniger Beamte um deutlich mehr Bürger. Und weniger Bauarbeiter oder Handwerker um mehr Leute, die gern etwas gebaut oder repariert haben wollen. Ganz nebenbei: Im Handwerk werden heute fast fünf Prozent weniger junge Leute ausgebildet als 2013. [...] Gemessen an dem, was vor Beginn der jetzt endenden Dekade erwartet wurde, dürften in zehn Jahren, also anno 2030, fast sechs Millionen mehr Menschen in Deutschland leben: Immer noch rund 83 statt der damals veranschlagten 77,4 Millionen. Da ist es jetzt höchste Zeit, sich vom Sparbrötchendogma zu verabschieden und in Deutschland so viel zu investieren, wie es der realen Entwicklung der vergangenen zehn Jahre angemessen ist. Da kann man schon mal die eine oder andere Bahnstrecke, Schule, Uni oder Gesundheitsanstalt noch zusätzlich bauen. (Thomas Fricke, SpiegelOnline)
Es ist auffällig, dass dies nicht nur ein Beispiel staatlicher Fehlplanung ist. Auch die Wirtschaft hat sich hier offensichtlich verkalkuliert. Das ist wenig verwunderlich; niemand konnte schließlich 2010 damit rechnen, dass die Bevölkerung derart zunehmen würde. Gleichzeitig stellt das natürlich etwas in Frage, wie planbar solche Entwicklungen überhaupt sind. Ich würde da gerne das große Fass aufmachen. Denn was ist denn, für Unternehmen oder Behörde, die Alternative? Nicht planen geht ja schließlich auch nicht. Man kann sich nur auf die bestmöglichen Prognosen verlassen, die es zu dem Zeitpunkt gibt, und ansonsten die Produktzyklen aushalten. Das kann ziemlich unangenehm sein. Die deutschen Autobauer etwa leiden immer noch unter ihrer irregeleiteten Prognose, dass krasse Benzinschlucker das Nonplusultra bleiben und Investitionen in alternative Betriebsarten oder kleinere, weniger leistungsstarke Autos keine gute Idee sind. Ebenso leiden die Bundesländer unter der irregeleiteten Prognose, man werde nachhaltig weniger Kapazitäten brauchen. Im Falle des öffentlichen Dienstes ist das doppelt übel, weil der Raubbau bei den Kapazitäten sich nicht so einfach auffangen lässt wie in der Privatwirtschaft. Die kann im Zweifel leichter und schneller auf Leute zugreifen, die die entsprechenden Fähigkeiten haben oder nachqualifizieren können, während der Staat die langwierig selbst ausbilden muss. Daimler kann Autobauer von Tesla abwerben, wenn es sein muss, aber wo wirbt die Stadt Wuppertal im Zweifel einen Experten für Wasserwirtschaft an? Niemand außer dem Staat hat diese Fähigkeiten je nachgefragt, weswegen der Öffentliche Dienst ja im Guten wie im Schlechten sein eigenes Ding ist.

 2) Wie aus Anne Frank ein Kinderschreck gemacht wird
Das zeigt auch das jüngste Beispiel: Es geht dabei um die vom Gemeinderat beschlossene Umbenennung eines städtischen Kindergartens in "Anne-Frank-Kindergarten". Die AfD stimmte als einzige dagegen. In der Kolumne in der "Stadtzeitung" vom 4. Dezember brüstete sich Benner mit dem Fernbleiben bei der Feier zur Umbenennung. Seine Begründung: "Erstens hat der Name keinerlei Bezug zu Heilbronn. Zweitens werden ’unsere Sonnenscheine’ (Anm.: Damit sind wohl die Kindergartenkinder gemeint) schon im Vorschulalter mit den Tagebüchern einer vom Krieg betroffenen Frau konfrontiert." Anne Frank, das jüdische Mädchen, war keine "vom Krieg betroffene Frau", sondern ein mit ihrer Familie von den Nazis verfolgtes, ermordetes Kind, ein "Sonnenschein", ein Mädchen, das kurz vor Kriegsende im Alter von 14 Jahren im Lager Bergen-Belsen starb. [...] Zu was AfD-Kreise auch in Bezug auf Anne Frank fähig sind, hat sich unter anderem vor zwei Jahren gezeigt. Damals postete ein Bäckerei-Angestellter in Wetzlar in der geschlossenen Facebook-Gruppe "Die Patrioten" – in dieser fanden sich auch AfD-Mandatsträger – eine Fotomontage von Anne Frank auf einer Pizzaschachtel mit dem Text: "Die Ofenfrische, locker und knusprig zugleich". Er verlor den Job, die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener. Der Beitrag erinnert auch daran, dass Michael Seher, ein anderer AfD-Stadtrat in Heilbronn, ungestraft auf gleicher geistiger und medialer Ebene den Widerstandskämpfer Graf Stauffenberg benutzen durfte, um ein Attentat auf die Bundeskanzlerin nahezulegen. Bis heute hat sich die Fraktion der AfD im Heilbronner Gemeinderat davon nicht distanziert. (Brigitte Fritz-Kador, Rhein-Neckar-Zeitung)
Und mit dieser Partei wollen manche CDU-Landesverbände eine Koalition eingehen. Nicht auszudenken, wenn die je Zugriff auf ein Kultusministerium kriegen. Die AfD ist wesentlich zu revisionistisch, wenn es um die Nazi-Vergangenheit geht, und eine echte Gefahr auf diesem Feld. Furchtbarer Laden. Die Argumente sind auch so schrecklich vorgeschoben. Ich bin selbst auf eine Anne-Frank-Grundschule gegangen; das Trauma blieb mir erspart. Aber eigentlich tut man der AfD schon mit dieser kurzen Widerlegung Unrecht; ihr geht es darum, das Andenken an den Holocaust zu minimieren oder ganz abzuschaffen. Es sind halt widerliche Rechtsextremisten, die den Kurs der Partei bestimmen.

 3) Americans say they’re changing behaviors to help the environment – but is it making a difference?
One area where Americans have unquestionably reduced their environmental footprint is water use. About two-thirds (68%) say in our survey that they’ve reduced the amount of water they use for environmental reasons – and according to the U.S. Geological Survey, by and large they have. [...] However (by this point you probably were anticipating a “however”), most water isn’t used by individuals. In 2015, the thermoelectric-power industry used 132.9 billion gallons per day, or 41% of the nation’s entire water use, in the cooling systems of power plants. Irrigation consumed 118 billion gallons per day, or 37% of total use. By contrast, residential water use (from public supplies and private wells) was about 26.6 billion gallons per day in 2015, or roughly 8% of total use. (Drew Desilver, Pew Research Center)
Hier kommen wir zum Kern der Idee, dass individuelle Verhaltensänderungen viel für den Klimawandel tun. Dass das allein nicht funktioniert ist ja eine (durchaus berechtigte) Kritik, die etwa Stefan Pietsch hier nicht zu betonen müde wird. Aber die andere Seite der Medaille ist halt, dass die größten Klimasünder die Unternehmen sind, ob es um Verschmutzung, Verbrauch wertvoller Ressourcen oder eben Emissionen geht. Jede Klimapolitik, die daher nicht mit harscher Regulierung an der Privatwirtschaft ansetzt, springt wohl immer zu kurz, wenn man dieser Logik folgt. Zumindest wäre mir nicht einleuchtend klar, warum die Tragik der Allmende sich urplötzlich ändern sollte.

4) Die Null steht
Wir sollten daher vielleicht keine weiteren Hoffnungen auf zukünftige Gipfel verschwenden. Von der Weltpolitik brauchen wir keine Veränderung zu erwarten, solange Staatsmänner wie Trump, Bolsonaro oder Morrison jeden legislatorischen Fortschritt zum Klimaschutz sabotieren oder sogar das Gegenteil fördern. Selbst in Deutschland, wo hunderttausende Menschen regelmäßig für mehr Klimaschutz demonstrieren und dieses Thema zu den wichtigsten in Wählerumfragen gehört, rafft sich die Regierung kaum zu wirklich weit reichenden Maßnahmen auf (siehe »Der Berg, der eine Maus gebar«). Aufgeben ist jedoch ebenfalls keine Option. Die Lösung könnten bilaterale Abkommen sein: Mit dem »Green Deal« hat die Europäische Union immerhin eine Idee vorgelegt, mit der sie bis 2050 klimaneutral werden will. Füllt sie diesen Plan bald mit Leben, kann er als Vorbild für andere große Wirtschaftsräume dienen. Unterstützung bekommt Europa sicher von kleinen Nationen wie Neuseeland oder Costa Rica, die schon heute ihre Energieversorgung auf null Emissionen umbauen. [...] Immer noch ist Europa eine Wirtschaftsmacht und kann dies ausspielen. Als im Sommer Brasiliens Wälder brannten, reagierte Bolsonaro erst, als ihm Einschränkungen im internationalen Handel angedroht wurden. Und im September 2020 – und damit vor der Klimakonferenz von Glasgow – verhandeln die EU und China auch über den Klimaschutz. Klimaschützer erwarten sich hier ein positives Signal. Selbst die viel gescholtenen Märkte könnten den Klimaschutz voranbringen. In Europa ging die Energieerzeugung aus Kohle 2019 teilweise massiv zurück, auch dank des EU-Emissionshandels, der CO2-Emissionen bepreist. Schon moderat steigende Kosten sorgten dafür, dass Kohlekraftwerke stillgelegt werden. (Daniel Lingenhöhl, Spektrum)
Der aktuell zu beobachtende schleichende Tod des Freihandels - mit den Trump'schen USA und dem Johnson'schen Großbritannien brechen gerade ja zwei seiner bisher einflussreichsten Proponenten weg - könnte für den Klimawandel zu einer Chance werden, weil er Handelsmächten wie der EU erlauben könnte, zu verhängen was effektiv auf Klimasanktionen hinauslaufen würde: Strafzölle auf Produkte, die unter klimaschädlichen Bedingungen hergestellt werden, oder gar auf Länder, die sich dem Ganzen verweigern. Hier könnte theoretisch den Konferenzen auch mehr Druck gegeben werden: Länder, die sich nicht an den Abkommen wie Madrid, Kopenhagen und Co beteiligen beziehungsweise die ihre Verpflichtungen nicht erfüllen, werden an den europäischen Außengrenzen sanktioniert. Das Problem mit dieser charmanten Idee ist natürlich, dass wir uns damit einseitig Handelserschwernisse auferlegen würden, für die es (außer der Rettung der Menschheit...) keine direkte Gegenleistung gibt. Politisch ist das daher praktisch nicht durchsetzbar.

 5) Wo die Villen weichen müssen
Wahrscheinlich wird es mehrere Hundert Millionen Euro kosten, die Häuser, Kindergärten, Hotels und Fußballplätze wieder instand zu setzen. Sorgen machen den Bewohnerinnen und Bewohnern inzwischen aber viel mehr die versiegelten Flächen: Nirgendwo sonst in Frankreich wurde so viel betoniert wie an der Côte-d'Azur. Eine Million Menschen leben in Zonen, die auf Karten als Überschwemmungsgebiete eingezeichnet sind. Diese Fehlplanung ist doppelt problematisch: Betroffene Häuser riskieren bei jedem Starkregen vollzulaufen. Und die Fläche fehlt, um das Wasser aufzusaugen. Denn abseits der trockenen und warmen Sommer sind die Niederschläge am Mittelmeer überraschend heftig: Im Herbst und Frühjahr regnet es zwar selten, aber häufig sintflutartig. "Die betonierten Flächen sind unser größtes Problem", sagt Serge Castel, Planungsdirektor bei der Präfektur in Nizza. Sie gibt den Ton an für neue Bauvorhaben in Südfrankreich. Castel trat seinen Job 2015 an, kurz nachdem ein Starkregen einige Campingplätze und Stadtviertel überschwemmte und 20 Menschen ertranken. Castels Job ist es, solche Tragödien künftig zu verhindern. Die Campingplätze hat er geschlossen und inzwischen müssen auch Villen dran glauben: Einige Dutzend Eigentümer, so Castel, sollen langfristig enteignet werden. "Wir müssen der Natur wieder Fläche zurückgeben: In meiner Amtszeit werde ich alle Einkaufszentren an der Küste und Siedlungen im Hinterland verhindern: Wir werden mit dem Klimawandel und den häufigeren Starkregen nur fertig, wenn das Wasser wieder abfließen kann." Eigentümer enteignen? Häuser abreißen? Noch vor wenigen Jahren war dies undenkbar in Südfrankreich. Hier erzielen Immobilien so hohe Preise wie sonst nur in Paris. Deswegen wurde jeder Quadratmeter Grün bebaut, auch die Hügel über Nizza, Cannes und Antibes sind inzwischen vollständig besiedelt. Früher wurden hier Orangen und Jasmin gezüchtet und die Flächen an den Dutzenden Flüssen aus den Alpen für die Landwirtschaft genutzt. Das Wasser versickerte bis in die Achtzigerjahre problemlos. Bis der Tourismus das Grün in der Region verschlang. Im sonnigen Süden bauen sich viele Multimillionäre ihr Traumhaus für ein paar Wochen Urlaub im Jahr – und betonieren dann oft weiter ohne Genehmigung, aber dafür mit viel Geld. (Annika Joeres, ZEIT)
Die Moral von dieser Geschicht' ist so offensichtlich, dass sie einem fast ins Gesicht springt. Es ist ein Staatsversagen, das durch tonnenweise Geld vorangetrieben wurde. Weil man der Überzeugung war, die Multimillionäre und Hotels unbedingt zu brauchen, ließ man fünf gerade sein und ignorierte alle Vernunft. Es gibt auch keinen Grund anzunehmen, dass die freie Wirtschaft sich nicht die eigene Lebensgrundlage wegbauen würde. Die Tragik der Allemende, einmal mehr. Von der freien Wirtschaft ist nicht zu erwarten, dass sie ohne Druck irgendwie zur Erhaltung von Klima und Umwelt beiträgt; für keinen einzelnen Akteur ist das wirtschaftlich vorteilhaft. Derselbe Egoismus, der zu Innovation, Gewinnen und Effizienz führt, verhindert dies. Das sollte eigentlich offensichtlich sein.

 6) Forscher fordern Ende kostenloser Retouren
Die Verbraucher in Deutschland bestellen immer mehr im Internet. Der Umsatz dürfte dieses Jahr um 11 Prozent auf gut 70 Milliarden Euro wachsen, schätzt der Bundesverband E-Commerce und Versandhandel. Aber jedes sechste Paket wird wieder zurückgeschickt. Um Müllberge und Klimabelastung zu reduzieren, könnte eine gesetzlich vorgeschriebene Rücksendegebühr helfen, erklären Wirtschaftsforscher der Universität Bamberg in einer am Mittwoch veröffentlichten Studie. Schon eine Rücksendegebühr von rund 3 Euro könnte die Zahl der Retouren um 16 Prozent senken, erwarten die befragten Online-Händler. Bei 490 Millionen zurückgeschickten Artikeln im vergangenen Jahr entspräche das etwa 80 Millionen Retouren weniger. Das würde dem Klima fast 40.000 Tonnen CO2 ersparen, sagt Studienleiter Björn Asdecker. Zudem könnten die Preise sinken, denn der Handel kalkuliert die Kosten der Rücksendungen natürlich mit ein – Kunden, die weniger zurückschicken, könnten also sparen. Mit Retourengebühr würde der „E-Commerce grüner und gerechter“, erklären die Bamberger Wirtschaftswissenschaftler in ihrer Studie. [...] Ein Viertel aller heutigen Retouren ließe sich nach Einschätzung der Bamberger Forscher durch für alle Kleiderhersteller verbindliche Größenangaben und eine funktionierende Online-Größenberatung sparen. Artikel in drei Größen und drei Farben bestellen, einen behalten, das ist heute gängige Praxis: Bei Kleidung und Schuhen geht fast die Hälfte der Pakete zurück, Größenangaben seien heute nur „bedingt aussagekräftig und zum Teil irreführend“. Das zu ändern, wäre allerdings Sache der Hersteller. Handykameras zur Körpervermessung, Datenanalyse und Künstliche Intelligenz könnten bei der Größenberatung künftig ebenfalls viele Retouren überflüssig machen - „sofern die Händler und Kunden die Technologien auch einsetzen“. (dpa, FAZ)
Hier sieht man schön die andere Seite der Medaille aus Fundstück 5. Die ständige Innovation und Effizienzsteigerung in der Privatwirtschaft sorgt auch dafür, dass der Staat der Entwicklung ständig hinterherhechelt. Auch das ist systemisch und grundsätzlich auch kein Problem. Wir wollen (Fundstück 1) ja auch gar nicht, dass da irgendwelche 5- oder 10-Jahres-Pläne mit Regulierungen verabschiedet werden; die würden notwendigerweise völlig fehl laufen. Aber man muss dann eben in der Lage sein, auf neu auftauchende Trends schnell zu reagieren und sie gegebenenfalls abzuwürgen. Das stetige Wachstum des Online-Versands und der Retouren ist so ein Problem. Das heißt nicht einmal, dass man den Versandhandel generell beschneiden muss; ich persönlich jedenfalls habe keine Lust, in das Zeitalter der Ziegel-und-Mörtel-Läden zurückzukehren. Aber Alternativen wie wiederverwendbare Retourenkartons (notfalls mit Pfand) oder Ähnliches sind ja bereits in der Diskussion, oder eben die im Artikel erwähnten technischen Hilfen gerade bei der Klamottenauswahl. Da geht einiges, was das Problem deutlich eindämmen kann, ohne dass man der Branche selbst an den Kragen muss. Wie immer muss man die Wirtschaft halt zu ihrem Besten zwingen und die Rahmenbedingungen so gestalten, dass Innovation und Effizienz- und Gewinnstreben in die richtigen Bahnen laufen.

 7) Tweet
Ich empfehle die Lektüre des gesamten Threads. Es gibt keine ungefährliche Zusammenarbeit mit einer Partei, die grundsätzlich extremistische Ziele verfolgt, wie das die AfD tut. Man sehe sich nur die beschriebenen Beispiele an. Im Gegensatz zu ihren Vorläufern bei NPD und Konsorten ist die AfD nur deutlich schlauer. Sie weiß einerseits um die gewaltige Macht, die sie in den kommunalen Vertretungen besitzt, sobald sie einmal die Muster dieser "ungefährlichen" Zusammenarbeit aktivieren kann, und sie weiß auch, wie sie sich deutlich besser positionieren muss als die idiotischen Glatzen von früher, um den relativierenden Schutz der bürgerlichen Mitte zu bekommen.

 8) Why the ‘Wokest’ Candidates Are the Weakest
“Wokeness,” in this rendering, is an overly rigid commitment to identity politics and social justice ideology. And in their zeal, these woke Democrats are pushing the Democratic Party away from the voters it needs to beat President Trump in 2020. If this were actually true, you would expect real traction for the wokest candidates in the Democratic presidential race. But it’s been just the opposite. The woke candidates have been the weakest, electorally speaking, and the defining attribute of the Democratic primary has been a preoccupation with the voters that put Trump in the White House. [...] None of this is dispositive. The Democratic Party might still be too woke for its own good. But the evidence for that isn’t in the primary campaign. A former vice president, Joe Biden, known for his centrist politics and blue-collar affect, leads the field. His nearest rivals, Senators Bernie Sanders of Vermont and Elizabeth Warren of Massachusetts, support social justice politics, but they’ve centered their campaigns on inequality and corruption. Yes, the failure of explicitly woke campaigns is a function, in part, of moderate and conservative voters in the Democratic coalition, including African-Americans and Latinos. But if the Democratic Party is as woke as critics say, the race should be able to sustain one or two woke candidates. The fact that it can’t should undermine, or at least temper, the idea of a “Great Awokening” transforming Democratic politics. At the very least, it shows that Democrats are far more concerned with beating Trump than elevating woke ideology. (Jamelle Bouie, New York Times) 
Ich habe ja schon im letzten Vermischten darauf hingewiesen, dass Joe Biden, obwohl sicherlich nicht meine bevorzugte Lösung, der wahrscheinlichste Gewinner der primaries zu diesem Zeitpunkt ist - und das eher nicht trotz, sondern wegen seiner wenig radikalen Positionen. Genauso wie das ständige Geblöke zu "political correctness" ist das Hände-wringen zur "wokeness" der Democrats nur noch nervtötend. Es ist eine ebenso hohle Phrase, wie die Grünen eine "Verbotspartei" zu nennen - ohne Verankerung in der Realität, ein Ritual zum Bestätigen der eigenen Identität und Gruppenzugehörigkeit. Es ist identity politics der bürgerlichen Mitte und der Konservativen, nichts weiter.

 9) Tweet
Ein Musterbeispiel für die jammernde Schieflage der Debatte, die ich auch in Fundstück 8 thematisiert habe. Da beklagt sich eine ehemalige Ministerin in den Öffentlich-Rechtlichen, dass ihre Meinungsfreiheit bedroht sei, wenn sie für ihre Meinung "mitunter hart angegangen" wird. Ich bin mir aktuell unsicher, ob die Konservativen das wirklich glauben oder aus reinem Zynismus behaupten. Wenn sie es wirklich glauben, haben wir eine echte intellektuelle Krise des Mitte-Rechts-Spektrums, denn ein Grundverständnis von Demokratie und Meinungsfreiheit sollte man von einer Ministerin schon erwarten dürfen. Meinungsfreiheit schützt die Meinungsäußerung, es schützt nicht vor den Reaktionen anderer Leute auf diese Meinung. Und wenn es einfach nur zynische Machtkalkulation ist, die in Fundstück 8 erwähnten identity politics, die eine genehme politische Grundstimmung schaffen sollen, dann wird da an den Grundfesten der Demokratie gezündelt, indem man die Narrative von Extremisten in der AfD pusht, um ein paar billige politische Punkte zu machen. So oder so muss das aufhören, und besser heute als morgen.

 10) Fürchtet euch nicht (vor dem Falschen)
"Handystrahlen" sind genauso gefährlich wie Gespenster oder Dämonenangriffe: Schädlich ist die Angst selbst, und eventuell die Tatsache, dass sie von den eigentlichen Ursachen der Probleme ablenkt. Man nennt das, als Pendant zum scheinwirksamen Medikament, dem Placebo, Nocebo. Der Nocebo-Effekt ist auch für die Symptome verantwortlich, die vermeintlich Windrad-Geschädigte erleben: Wer glaubt, dass nicht hörbarer "Infraschall" von Windrädern krank macht, dessen Gesundheit könnte tatsächlich leiden. Durch die Angst, nicht durch die Windräder. Das zeigen mehrere Studien. [...] Die Deutschen fürchten sich einfach gern vor dem Falschen. Belege für diese These liefert Jahr für Jahr auch die von einer großen Versicherung in Auftrag gegebene Studie "Die Ängste der Deutschen". 2019 auf Platz eins der Angstquellen: "Überforderung des Staats durch Flüchtlinge", Platz zwei: "Spannungen durch Zuzug von Ausländern". Unter den Top Ten sind der Studie zufolge auch noch die Angst vor den Kosten der EU-Schuldenkrise für den Steuerzahler und die vor Terrorismus. [...] Ein bisschen mehr Angst vor dem Klimawandel könnte den Deutschen nicht schaden, denn dann wäre die Bereitschaft in der Bevölkerung größer, endlich die notwendigen Veränderungen einzuleiten. Und die Politik vielleicht bereit, diese Veränderungen auch umzusetzen. Tatsächlich nimmt die Zahl der Menschen, die derzeit an "Eco Anxiety" leiden, im Moment möglicherweise zu. "Es ist durchaus gesund, sich so zu fühlen", sagte Caroline Hickman von der "Climate Psychology Alliance", "es ist ein Zeichen von Empathie". Am meisten leiden unter der Krise bekanntlich zunächst vor allem die Ärmsten. Ein guter Vorsatz für das Jahr 2020: Weniger Angst vor Geistern, Dämonen, harmloser elektromagnetischer Strahlung und Fremden zu haben - und stattdessen darauf drängen, dass politisch gegen die tatsächlich größte Gefahr für die Menschheit endlich etwas getan wird. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)
Ich finde es immer wieder faszinierend, was für einen Bullshit die Leute glauben. Ob das jetzt "Elektrosmog" ist, oder Chemtrails, oder "Infraschall" oder was auch immer, Menschen lassen sich allen möglichen Quatsch einreden. Gerade in Deutschland weist eine florierende Homöopathie-Industrie auch darauf hin, dass sich das leider finanziell extrem lohnt. Das ist mehr als bedauerlich, weil die Leute nicht nur aktiv krank gemacht werden (geistig, in dem Fall, denn die unbegründeten Ängste haben allerlei negative gesundheitliche Auswirkungen), sondern das auch noch relevante Problemlösungen blockiert oder behindert. Im medizinischen Bereich werden wertvolle Ressourcen dafür abgezogen, irgendwelchen Blödsinn in Zuckerkügelchen zu produzieren und zu vermarkten, während wir bei regenerativen Energiequellen mittlerweile so einschneidende Regulierung haben, dass der Bau neuer Windräder mittlerweile mehr als doppelt so schwierig ist wie der neuer Autobahnen. Die Liste ließe sich fortsetzen. Ich bin allerdings auch nur semi-begeistert davon, deswegen Eco-Anxiety zu pushen; eine eingeschücherte und verängstigte Bevölkerung, auch wenn sie vor dem Richtigen Angst hat, ist wenig dazu angetan, offen für die besten und überlegtesten Lösungen zu sein....

 11) A party that works and wins for working people will need to understand us first
This approach is summed up with ‘less identity politics, more class politics’ and the idea the party needs to appeal to the ‘traditional working class’. It doesn’t tally with the evidence (if you read only one piece linked here, I’d make it academic Cas Mudde’s account of why left leaning parties mimicking populist ones rarely prosper) and it crosses all sorts of moral lines that shouldn’t be open to people on the left. When Labour has done so badly in many leave voting towns where it once weighed rather than counted its vote the appeal to forget the cities and focus on ‘the heartlands’ is getting a lot of traction but there are two things we have to guard against here. Firstly, it can slip into suggesting that people in cities — especially London — are having a high old time of it while ignoring the reality that our cities are often home to the biggest numbers of people who are really hard up. Much more dangerously it implies ‘identity’ issues like racism, sexism and homophobia aren’t issues that concern working class people, who are presumably all white, male and straight. Labour should be the party countering, not indulging, sweeping characterisations of working class people as some homogenous lump. Nobody whose values are rooted in social justice should be mounting an argument that echoes the language of the Brexit Party and before them the BNP with their slogan that they were ‘The Labour Party your grandad voted for’. If your image of the ‘traditional working class’ doesn’t have space for black, Asian or LGBT working class people, it’s neither progressive nor accurate and has no place in left politics in 2019. (Roger Harding, Medium)
Hier wird das grundsätzliche Dilemma sozialdemokratischer Parteien dieser Tage beschrieben: das Nullsummenspiel zwischen ihrer alten Stammwählerklientel und der neuen potenziellen progressiven Wählerschicht. Selbstverständlich gibt es die reale Trendlinie, dass die sozialdemokratischen Parteien weiße, männliche Wähler der Arbeiterschichten verlieren, die Probleme mit dem Ende des alten konservativen Gesellschaftsbilds haben, dem sie anhingen. Aber gleichzeitig können die Parteien diesen Wählern keine Angebote machen, die ihre Identität bestätigen, ohne die Stimmen der emanzipierten und diversen Teile der Arbeiterschicht zu verlieren, die mittlerweile mehr als die Hälfte selbiger Schicht ausmachen. Diese Quadratur des Kreises gelang in den letzten 15 Jahren nur Barack Obama, und der war halt auch ein politisches Ausnahmetalent.

Sonntag, 22. Dezember 2019

Jugendliche nehmen mit Joe Biden Elternzeit auf eine Fahrradtour nach Georgia - Vermischtes 22.12.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Ausufernde Jugendgewalt?
In der Diskussion um diese Tat wird allerdings auch von verschiedenen Seiten vorgebracht, in Deutschland zeige sich derzeit ein Trend zu mehr (öffentlichen) Gewaltakten. Männliche Jugendliche und Heranwachsende seien gewalttätiger als früher, insbesondere der höhere Anteil von jungen Männern mit Migrationshintergrund trage seit der vermehrten Aufnahme von Flüchtlingen seit 2015 dazu bei. Die Rede ist sogar von „ausufernder" Gewalt. [...] Die Studie kommt dabei zu differenzierten Beobachtungen und Folgerungen, bestätigt aber einen 10-Jahres-Trend: Die Gewaltdelinquenz Jugendlicher und Heranwachsender ist im Rückgang begriffen. Schon seit dem Jahr 2000 im Dunkelfeld, seit 2007 auch im Hellfeld, ist eine klare Tendenz zur Reduktion der Gewaltdelinquenz von Jugendlichen und Heranwachsenden erkennbar. [...] Über die Ursachen des Rückgangs können bislang nur Vermutungen angestellt werden: Angeführt werden in der oben genannten Studie, dass wohl einige im Zusammenhang mit Jugendgewaltdelinquenz beobachtete Faktoren betroffen sein können: - weniger delinquenter Freunde - reduzierter Alkoholkonsum - Rückgang von Elterngewalt/gewalttätiger Erziehungsstile - Zunahme höherer Schulabschlüsse - verändertes Kommunikationsverhalten aufgrund neuer Technologie [...] Dass wir uns über Gewaltakte entrüsten, ist keineswegs kritikwürdig oder gar falsch. Gerade die weit verbreitete Empörung belegt ja, dass unsere Gesellschaft inzwischen eine ist, in der Gewalttätigkeiten zu recht tabuisiert und geächtet werden – und das bleibt sicherlich nicht ohne Wirkung auch auf potentielle Gewalttäter. Aber Fälle, die hohe Aufmerksamkeit der Medien bekommen, sind für die Trendbeschreibung einer Gesamtentwicklung ungeeignet. Die Jugend ist in der vergangenen Dekade nicht gewalttätiger geworden, sondern Jugendgewalt ist  - im Gegenteil - deutlich zurückgegangen. Derzeit spricht viel dafür, dass dieser Trend anhält, auch wenn die Utopie einer gewaltfreien Gesellschaft wohl eine bleiben wird. (Henning Ernst Müller, Beck Community)
Die Debatte um Gewalt und Kriminalität kennt dieses Problem generell: Es geht um gefühlte Wirklichkeiten. Auch bei Kriminalität sinkt die Zahl der Straftaten seit den 1990er Jahren beständig, aber sicherer fühlen sich die Leute deswegen nicht zwingend. Das würde erfordern, dass in der Berichterstattung Zurückhaltung geübt wird, aber das ist illusorisch. Sex und Gewalt sind und bleiben die besten Verkaufstreiber, und die Leute WOLLEN diese gruseligen Horrorgeschichten haben und sie sich gegenseitig erzählen und sie so noch aufbauschen. Die Menschen sind einfach so gestrickt, und nur wenige können sich dem entziehen und den Kontext herstellen. Bei Jugendlichen kommt noch die Komponente dazu, dass die meisten Leute älter als Jugendliche und daher geneigt sind, sich positiv abgrenzen zu wollen. Über "die Jugend" wird immer das Schlimmste geglaubt und behauptet, denn "wir damals" waren ganz anders. Das ist auch eine Konstante der menschlichen Psychologie. Mir erzählen jedes Jahr Zwölftklässler im heiligem Ernst, wie viel tugendhaftere Elftklässler sie waren und dass alles den Bach runtergeht.

 2) LBJ's Great Society Won the War on Poverty
In other words, taking a bird’s eye view of the economy, the Great Society worked. Material deprivation of the kind that was still common in midcentury America -- a desperate lack of food, shelter and basic medical care -- is much rarer today. That’s probably one reason political unrest usually doesn’t explode into violence the way it once did. The lesson is that government redistribution works. Although some social programs have been poorly designed -- for example, the Aid to Families with Dependent Children program probably discouraged people from working -- most government benefits alleviate true hardship. On that basis, the conservative argument that welfare traps poor people in poverty is simply wrong. Of course, that doesn’t mean that doubling down on LBJ’s approach is appropriate now. Modern poverty is often more about insecurity, risk, and a lack of personal dignity than it is about absolute material hardship. Addressing that will require new and innovative approaches toward poverty reduction. But the successes of the past, and the importance of government programs for lowering poverty in the present day, needs to be acknowledged. (Noah Smith, Bloomberg)
LBJ ist und bleibt einer der unterschätztesten Präsidenten. Viel davon ist der Schatten von Vietnam. Johnsons Eskalation des Konflikts und die völlig fehlgeleitete Strategie Westmorelands trugen wie kaum etwas dazu bei, die USA Ende der 1960er Jahre völlig aus der Bahn zu werfen. Die Erfolge seiner Präsidentschaft aber bilden eine Basis, die sich als so wirkungsvoll und widerstandsfähig erwiesen hat, dass die Republicans es trotz Aufbietung all ihrer Energie in den letzten 40 Jahren nicht geschafft haben, sie vollständig zu zerschlagen. Die Vision von der Great Society jedenfalls könnte eine Neuauflage vertragen.

 3) GOP-Led Voter Purges in Wisconsin and Georgia Could Tip 2020 Elections
On Friday, a state judge in Wisconsin ruled that the state could begin canceling the registrations of 234,000 voters—7 percent of the electorate—who did not respond to a mailing from election officials. The Wisconsin Elections Commission, a bipartisan group overseeing state elections, had planned to wait until 2021 to remove voters it believes have moved to a new address. But in response to a lawsuit from a conservative group, the Wisconsin Institute for Law & Liberty, Judge Paul Malloy, a Republican appointee, said those voters could be purged 30 days after failing to respond to a mailing seeking to confirm their address. On Monday night, Georgia Secretary of State Brad Raffensperger removed 309,000 voters from the rolls—4 percent of the electorate—whose registrations were labeled inactive, including more than a hundred thousand who were purged because they had not voted in a certain number of previous elections. These numbers are large enough to swing close elections. Donald Trump carried Wisconsin by 22,000 votes; the number of soon-to-be purged voters is more than 10 times his margin of victory. Democrat Stacey Abrams failed to qualify for a runoff against Brian Kemp in the 2018 governor’s race by 21,000 votes; the number of purged voters in Georgia is 14 times that. These purges appear to disproportionately affect Democratic-leaning constituencies, including voters of color, students, and low-income people who tend to move more often. In Wisconsin, 55 percent of those on the purge list come from municipalities where Hillary Clinton defeated Trump in 2016. Nine of the 10 areas with the highest concentration of voters slated to be purged voted for Clinton. Milwaukee and Madison, the state’s two most Democratic areas, account for 14 percent of the state’s registered voters but 23 percent of those on the purge list, according to the Milwaukee Journal Sentinel. (Ari Berman, Mother Jones)
Diese Leute wissen, dass sie eine normale demokratische Wahl nicht gewinnen können. Entsprechend tun sie alles, um das Pendel in ihre Richtung ausschlagen zu lassen. Mich erstaunt immer wieder, wie wenig Widerstand die Democrats dagegen leisten. Die Propaganda-Maschinerie der GOP würde überhaupt nicht mehr zum Stillstand kommen, wenn auch nur ein Bruchteil solcher Maßnahmen gegen sie laufen würde. Und angesichts dessen, wie knapp die (im Fall Georgias ohnehin von Unregelmäßigkeiten geplagten) Wahlen ausgingen, sollte man echt meinen, dass hier ein verstärkter Fokus sinnvoll wäre.

 4) Democrats are sleepwalking into a Biden disaster
If Biden is nominated in 2020, Trump is going to repeat the formula that made Hillary Clinton's emails the dominant story of 2016. He'll say "BIDEN UKRAINE CORRUPT" 90 billion times, and the New York Times political reporters with Both Sides brain poisoning will helplessly validate the narrative. The rest of the press will follow their lead. Biden will take on the vague appearance of being The Corrupt One despite Trump being monumentally worse in every possible respect. Even observers who share Biden's basic political outlook are extremely worried about this possibility. Some of Biden's support seems to come from the perception that, like Trump, he is somehow immune from the normal laws of politics. Several scandals and gaffes that would have ended a typical campaign dented his support not at all — which is to say his backers are creating a self-fulfilling prophesy that if they support him no matter what he does then he will continue to be supported. In reality, nominating Trump in 2016 was a terrific gamble by the Republican Party. His base of riled-up kooks sticks with him through thick and thin, but his constant scandals and unhinged tweeting really did sap his support among the broader population — making him the most unpopular nominee in the history of polling. Even today, presiding over the strongest economy in two decades, he remains markedly unpopular. (Ryan Cooper, The Week)
Ich halte Biden auch nicht gerade für den bestmöglichen Vertreter, aber Stand jetzt ist er der Kompromisskandidat einer sehr breit aufgestellten demokratischen Partei. Seine Chancen sind sehr gut. Leider bin ich auch deutlich skeptisch, was seine Chancen in der general election angeht. Man muss allerdings fairerweise sagen, dass Trump eine mindestens 50:50-Chance auf die Wiederwahl hat. Das hier ist kein 2008, wo sowohl Obama als auch Clinton (oder Edwards oder Biden) als deutliche Favoriten ins Rennen gehen. Deswegen ist jeder der aktuell debattierten Kandidaten ein Risiko. Mit Joe Biden haben wir einen wenig begeisternden Vertreter des Establishments mit Establishment-Positionen, der einer deutlich linkeren Parteibasis vorsitzt. Das ist effektiv eine Wiederholung von 2016, nur dass es dieses Mal keine Frau ist und seine Chancen deswegen besser sind. Dann haben wir Bernie Sanders, dessen Identität als Sozialist eine völlig unbekannte Größe darstellt. Elizabeth Warren ist eine Frau und vertritt vergleichsweise radikale Positionen. Bloomberg ist ein zentristischer Radikaler und Milliardär, der aus seiner Verachtung gegenüber dem demokratischen Prozess wenig hehl macht. So oder so hat jede(r) KandidatIn seine/ihre Pluspunkte und Risiken, und jede(r) KandidatIn ist eine Wette darauf, welche dieser Pluspunkte am ehesten zum Tragen kommen werden und welche Stimmung in der Bevölkerung vorherrschen wird. Das ist aktuell schlicht nicht abzusehen. Wir können unsere Präferenzen kundtun, aber viel mehr auch nicht. Alles weitere ist Prinzip Hoffnung. Fakt ist nur eins: Jeder der Genannten ist besser als Trump. 

5) Kabinett beschließt Verbot von Konversionstherapien
"Homosexualität ist keine Krankheit, daher ist schon der Begriff Therapie irreführend", sagte Spahn. "Ein Verbot ist auch ein wichtiges gesellschaftliches Zeichen an alle, die mit ihrer Homosexualität hadern: Es ist okay so, wie du bist." Ziel des neuen Gesetzes sei es, die Pseudotherapien "so weit wie möglich zu verbieten". Dem Gesundheitsministerium zufolge sollen Behandlungen an Minderjährigen generell verboten werden und an Volljährigen dann, wenn deren Einwilligung zur Behandlung auf einem "Willensmangel" beruht - also etwa auf Zwang, Drohungen, Täuschung oder Irrtum. [...] Wie am Dienstag bekannt wurde, hatte der Gesundheitsminister seinen ursprünglichen Entwurf noch einmal verschärft, bevor er ihn dem Kabinett übergab. Ausnahmen des Verbots für Heranwachsende wurden gestrichen. Spahn begründete diesen Schritt damit, dass gerade in dieser Altersphase die meisten Therapieversuche stattfänden. Die angebliche Behandlung sei "viel zu gefährlich für Leib und Seele, als dass man Graubereiche zulassen dürfte". Das Verbot soll zudem für alle gelten - also nicht nur für Menschen, die berufsmäßig handeln. Auch Eltern können "bei gröblicher Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht bestraft werden", teilte das Gesundheitsministerium mit. (dpa, SpiegelOnline)
An solchen Gesetzesvorlagen kann man sehen, welchen Wert Diversität im Kabinett hat. Jens Spahn war die treibende Kraft, die hier genug persönliches Interesse und Priorität einbringen konnte, um verkrustete konservative Widerstände in der eigenen Partei zu überwinden. Es handelt sich um ein absolutes Nischenthema, aber Spahns persönliches Interesse und, vor allem, seine eigenen Erfahrungen haben geholfen, das politische Kapital aufzubringen, das dafür notwendig war. Deswegen sind Frauen- und Migrantenquoten auch so relevant.

 6) We Need a Massive Climate War Effort—Now
None of this should surprise us. Fifteen years ago, UCLA geography professor Jared Diamond wrote a book called Collapse. In it, he recounted a dozen examples of societies that faced imminent environmental catastrophes and failed to stop them. It’s not because they were ignorant about the problems they faced. The 18th-century indigenous inhabitants of Easter Island, Diamond argues, knew perfectly well that deforesting their land would lead to catas­trophe. They just couldn’t find the collective will to stop. Over and over, human civilizations have destroyed their environments because no one—no ruler, corporation, or government—was willing to give up their piece of it. We have overfished, overgrazed, overhunted, overmined, overpolluted, and overconsumed. We have destroyed our lifeblood rather than make even modest changes to our lifestyles. We need the kind of spending that wins wars. And make no mistake, this is a war against time and physics. [...] So how much should we spend? For argument’s sake let’s be modest and aim for only 10 percent of peak World War II–level spending. That’s $700 billion per year in today’s dollars—a hundred times more than we currently spend on energy R&D, but barely 15 percent of what we spent to defeat the Axis. It also amounts to not quite 16 percent of our current federal budget. (Kevin Drum, Mother Jones)
Ich mag an Kevin Drum, dass er sowohl die Notwendigkeit weitreichender, massiver Maßnahmen anerkennt und gleichzeitig tatsächlich (ganz im Sinne Stefan Pietschs und Konsorten) nicht auf eine Myriade von Einzelmaßnahmen setzt, sondern den technologischen Umschwung will. Nur dass er eben nicht auf darauf hofft, dass die Magie des Freien Markts es schon irgendwie richten wird, irgendwann, sondern dass er proaktive Politik in diese Richtung will. Ich wäre gespannt, was gerade Stefans oder Erwins Feedback zu Drums (langem und ausführlichen und hier nur sehr ausschnittsweise rezipierten) Artikel wäre und ob sie sich hinter so was stellen könnten.

 7) Lassen Sie mich durch, ich habe Schulkinder!
Ich bin ein gelebtes Elterntaxi. Viele äußere Umstände wie Timing, Vereinbarkeit und Anforderungen vonseiten der Schulen an die Eltern zwingen mich dazu, es zu sein. Sicher könnte ich mir auch einen großen Rucksack umschnallen oder gleich mit einem Bollerwagen randvoll mit Rucksäcken, Essen und meiner Laptoptasche bei Wind und Wetter in die öffentlichen Verkehrsmittel steigen – und mein Pech, wenn der Busfahrer mich wegen Überfüllung nicht mitnimmt. Meine Kollegen im Büro würden mich vermutlich als Sonderling auslachen, fraglich auch, ob ich bei Schneematsch oder dank der körperlichen Anstrengung (nicht alle U-Bahnhöfe in Berlin haben Aufzüge) den Dresscode im Büro einhalten würde. Ja, könnten jetzt böse Stimmen behaupten, es ist alles eben eine Frage der O-R-G-A-N-I-S-A-T-I-O-N. Und ich gebe ihnen recht, vieles wäre ohne Doppelbelastung (Beruf, Erziehung und Haushalt) auch ohne Auto möglich. Ich könnte morgens meine Kinder mit einem Lastenfahrrad fahren, auf dem Rückweg die Einkäufe machen, noch mal nach Hause, kochen und in aller Ruhe gegen 14 Uhr wieder los und gut gelaunt die Nachmittagsaktivitäten der Kinder abfahren. In Zeiten, in denen jede zweite Frau mit Kindern unter drei Jahren mindestens Teilzeit, wenn nicht 80 Prozent arbeitet, ist diese Realität der schönen Rama-Familie, in der Mutti mittags kocht, jedoch nicht mehr abzubilden. (Caroline Rosales, ZEIT)
Geht mir genauso. Ich habe es dieses Jahr geschafft, mir Zeit für einmal in der Woche mit dem Rad ins Geschäft aus den Rippen zu schneiden. An jedem anderen Tag muss ich die Kinder fahren. Meine Frau muss früher aus dem Haus als ich, und meine einzige Chance, rechtzeitig auf Arbeit zu sein, ist die Kinder mit dem Auto zur Kita/in den Hort zu bringen. Beide öffnen um 7 Uhr morgens. Keine Chance ohne Auto. Selbst mit Auto ist das brutal, gerade auch für die Kinder, aber nicht anders machbar. Der Artikel geht noch viel weiter auf die Gründe und Lösungsmöglichkeiten und das Versagen der Kommunen ein, ich will das hier gar nicht wiederholen. Stattdessen soll noch eine Betonung auf der widerlichen Gender-Ungleichheit liegen. Nicht umsonst schreibt Risales von Müttern, die morgens diese Probleme haben. Ich bringe die Kinder morgens und hole sie abends wieder ab (an den meisten Tagen der Woche), schlicht, weil meine Frau wesentlich längere Arbeitswege hat als ich (unter anderem, weil sie auf die Öffentlichen angewiesen ist, und wer Stuttgart kennt, weiß was das heißt). Aber überwiegend bleibt dieser Stress an den Frauen kleben, die deswegen in Teilzeit gezwungen sind. Es war ein mehrjähriger Kampf, bis unsere Vorgesetzten diese Rollenverteilung akzeptiert haben; die Vorgesetzten meiner Frau haben mehrfach reichlich aggressiv versucht, sie in Teilzeitmodelle zu drängen (wäre ja besser für sie und ihre Familie, Sie wissen schon...) während ich dafür kritisiert wurde, nicht 24/7 zur Verfügung zu stehen, warum meine Frau das nicht machen könne. Wir haben noch sehr viel Arbeit vor uns als Gesellschaft.

 8) Was darf eine Basler Gugge? Natürlich alles.
Das ist aber schnell eskaliert. Mitte letzter Woche ärgerte sich ein junger Mann über das Plakat einer Basler Fasnachtsclique – wegen des stereotypen, kolonialen Logos der Gruppe und wegen des Namens selbst: «Negro-Rhygass» hatten zum «Negro-Fescht» geladen. In die Kritik geriet auch eine zweite Basler Fasnachtsgruppe: die «Guggemusig Mohrekopf». Und schon demonstrierten am Wochenende rund 800 Personen. Weil sie ihr Recht in Gefahr sahen, sich das Gesicht schwarz zu färben und Schaumküsse «Mohrenköpfe» zu nennen. Es sollte keine politische Kundgebung sein, sondern ein «Solidaritätsmarsch» für die beiden Guggen. Am Ende wurde es eine ziemlich hässliche Angelegenheit: gesponserte «Mohrenköpfe» zur Belustigung, Neonazis im Umzug, Angriffe von Rechtsextremen vor dem linksalternativen Restaurant «Hirscheneck». Die spannende Frage in diesem ganzen Theater: Warum nur seid ihr so verdammt scharf darauf? [...] Dabei ist es eigentlich nicht so schwer zu begreifen: Diskriminierung folgt herrschenden Machtverhältnissen. Und da hat sich als Faustregel bewährt: Im Zweifel sollte man dem ganz genau zuhören, der sich diskriminiert sieht – und nicht in jedem Fall dem, der partout nicht erkennen will, dass er jemanden beleidige. Die Meinungsfreiheitspolizei ruft sofort: Halt! Man wird ja wohl noch sagen dürfen … Natürlich. Man darf. Man muss bloss das «Arschloch!» ertragen, das einem dann vielleicht entgegenschallt. «Darf man das?», ist die falsche Frage. Es ist ja offensichtlich: Man darf «Mohrekopf» sagen, man darf ein «Negro-Fescht» aufführen – man tut es ja die ganze Zeit. (Carlos Hanimann, Republic.ch)
Der Autor stellt hier tatsächlich die entscheidende Frage. Warum um Gottes Willen bestehen so viele Leute auf ihrem Recht, Minderheiten diskriminieren zu dürfen? Als ob es daran hinge. Der psychologische Faktor darin ist relativ klar. Man sieht das ja daran, wie man plötzlich eine Fraktion fanatischer Verfechter alter Glühbirnen bekommt, wenn man selbige verbietet. Es ist beknackt, aber so ist der Mensch gestrickt. In diesem Fall muss man sich eben deutlich machen (und es anderen deutlich machen) dass hier für nichts anderes gekämpft wird als das Recht, ein Arschloch zu sein. Und ich bin absolut für das Recht, ein Arschloch zu sein. Jedes Arschloch sollte sich öffentlich jederzeit als Arschloch outen dürfen. Nur dürfen Arschlöcher dann halt auch nicht mimosenhaft weinen und einen Angriff auf ihre Meinungsfreiheit beklagen, wenn man sie Arschlöcher nennt.

Was mich jedoch immer wieder nachdenklich macht, ist, dass die Impulse für diesen Rollenwandel vor allem von Feminist*innen und der Familienpolitik kamen, aber sehr viel seltener von Männern selbst. Väter scheinen sich mehrheitlich damit abzufinden, dass sie in den ersten Lebensjahren ihrer Kinder wenig Zeit mit ihnen verbringen. Man hört in persönlichen Gesprächen sowie in politischen Debatten selten ein Bedauern von Vätern, dass sie keine oder nur wenig Elternzeit nehmen können oder noch immer in Vollzeit arbeiten. Der winzigen Minderheit von Vätern, die sich wirklich gleichberechtigt um ihre Kinder kümmern, steht eine Mehrheit von Männern gegenüber, die sich an einem traditionellen Männlichkeitsbild orientieren und darauf basierend Entscheidungen treffen. Der Sozialforscher Carsten Wippermann beschreibt in einer Studie von 2014 die nach wie vor traditionellen Sichtweisen auf Geschlechterrollen, die bei vielen kinderlosen Männern zu finden sind, so: »Sie nehmen die beruflichen Ambitionen ihrer Partnerin ernst, sind aber nicht bereit, für ein Kind ihr zeitliches und persönliches Engagement für ihren Job und ihre Karriereperspektiven zu reduzieren oder gar auf Teilzeit zu gehen. Männer gehen selbstverständlich davon aus, dass sie bei einer Familiengründung der Haupternährer sind und ihre Partnerin dann als ›(gute) Mutter‹ selbst das Bedürfnis haben wird, sich überwiegend um ihr Kind zu kümmern. Insofern kommt für Männer mit mittlerer und hoher Berufsqualifikation im Alter unter 30 Jahren eine Familiengründung aktuell noch nicht infrage, sondern erst dann, wenn ihre Partnerin dazu bereit ist, ihre eigenen beruflichen Ziele und ihren Erwerbsumfang zu reduzieren.« (Theresa Bücker, SZ)
In einem Land, das ernsthaft darüber debattiert, alle 18jährigen ein Pflichtjahr absolvieren zu lassen, damit man weiterhin um die angemessene Bezahlung von Pflegekräften herumkommt, ist so eine Forderung natürlich nicht zu radikal, um die Frage aus der Überschrift zu beantworten. Die Überlegung ist vielmehr, wie sinnvoll es ist. Da sämtliche dieser Geschlechterrollen soziale Konstrukte sind, werden sie sich auch nur durch soziale Prozesse und sozialen Druck verändern lassen. Offensichtlich haben sanfte Anreize wie das bisherige Modell nicht gewirkt, und wie der Artikel überzeugend argumentiert, würde eine Verdopplung der Vätermonate (also 10+4 statt wie bisher 12+2) dank der sexistischen Strukturen in den Führungsetagen der Unternehmen eher zu weniger Elternzeit insgesamt führen statt zu mehr Elternzeit für Väter. Ich denke, die skandinavischen Länder weisen uns den Weg hier ziemlich deutlich. Die Elternzeit wird 50:50 aufgeteilt, und beide Parteien nehmen sie zu gleichen Teilen. 7+7 lautet hier das Zauberwort, und wenn die scheinbare Wahlfreiheit (die de facto auf weitere Einkommenseinbußen auf dem Rücken der Frauen hinauslaufen wird) beseitigt ist, kann auch die jeweilige Führungskraft im Unternehmen den männlichen Arbeitnehmer nicht mehr diskriminieren und kann selbiger sich nicht unter Verweis auf die zu fürchtenden (sehr realen) Repressalien aus der Verantwortung ziehen. Und gleichzeitig schaffen wir auch noch eine offenere Wirtschaftsstruktur mit besseren Chancen, Produktivitätsgewinnen und größerer Lebenszufriedenheit. Win-win für alle.

10) Tweet
Bothsiderismus ist eine wahre Krankheit bei der New York Times. Keine andere Zeitung macht das so extrem. Und es ist und bleibt für den Diskurs toxisch, weil es es unmöglich macht, die Gefahren, denen wir aktuell ausgesetzt sind - siehe nächstes Fundstück - angemessen zu diskutieren. Ich will gar nicht zu viel auf die NYT schimpfen; ihre Kolumnen etwa bieten eine sehr große Bandbreite an Meinungen und ermöglichen großartigen Autoren ein gutes Forum (und leider auch einigen langweiligen Idioten), aber diese Tendenz sollte sie so schnell wie möglich loswerden.

11) Tweet
Habe ich schon mal erwähnt, dass die GOP keine demokratische Partei ist? Ich glaube, mich erinnern zu können. Das Szenario, nach dem Trump entweder 2020 verliert oder halt 2024 qua Verfassung gehen muss und einfach nicht geht, und in dem die GOP dann irgendwelche Argumente erfindet, warum er nicht gehen sollte und eine gewaltige Verfassungskrise losbricht, ist nicht unwahrscheinlich. Auch nicht wahrscheinlich, mind you, aber die Idee, dass Obama 2016 einfach gesagt hätte "Nö, da gab es russische Einflussnahme, das Ergebnis ist illegitim, ich bleibe" ist so unvorstellbar lächerlich. Dagegen ist es eine absolut vorstellbare Möglichkeit, dass das bei Trump passiert. Und dann kann die älteste Demokratie der Welt sehr, sehr schnell auseinander brechen.

ZEIT ONLINE: Was haben die gegen Sie?
Mandalka: Ich weiß es nicht genau. Dass sie wegen mir bremsen müssen? Dass ich überhaupt auf der Straße bin? In den Facebook-Kommentaren zu meinen Beiträgen meinen einige, die Straße sei nur für Autos da. Die erwarten von Radfahrern, dass sie mitten durch den Wald fahren. Einer hat gefragt, wo ich denn rumfahre, weil ich wohl mal "eine Lektion" bräuchte. Ein anderer hat dann sogar drunter geschrieben, wo ich unterwegs bin.
ZEIT ONLINE: Machen Sie sich Sorgen, dass sich dieser Hass auch auf der Straße zeigen könnte?
Mandalka: Wenn mich einer absichtlich knapp überholt, dann ist das ja schon Hass. Es gibt auch Menschen, die immer wieder den Scheibenwischer anmachen, wenn sie mich überholen, um mich nass zu machen. Ich wohne hier recht ländlich, da sind es oft dieselben Autos, bei denen ich das erlebe. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, spreche ich die Fahrer darauf an. Dann sagen sie: Ist doch meine Sache, wann ich meine Scheibenwischer anmache. Manche, die mich knapp überholen, entschuldigen sich aber auch, die wussten es nicht besser. [...]
ZEIT ONLINE: Sie gehen mit den Videos auch immer wieder zur Polizei, wie reagiert man dort auf Sie?
Mandalka: Die Polizisten haben mich erst nicht ernst genommen. Es sei ja nichts passiert und man könne mit dem Video nicht messen, ob der Abstand groß genug war. Selbst als ich ein Video gezeigt habe, wie einer meinen Abstandshalter streift, hieß es: Wir erkennen da keine Gefährdung. Anfangs wollten sie meine Anzeigen nicht mal aufnehmen, stattdessen haben sie die Autofahrer oder Busfahrer nur angerufen. Die sagen dann: Ich kann mich an nichts erinnern – und die Sache ist erledigt. Ich kenne viele andere Radfahrer, die dieselben Erfahrungen gemacht haben. Inzwischen nimmt die Polizei zwar einige meiner Anzeigen an, aber weiterhin nur wenige und die auch nur, weil ich mittlerweile meine Rechte besser kenne und darauf bestehen kann. (Sören Götz, ZEIT)
Ich habe hier vor einiger Zeit schon mal geschrieben, dass die Polizei das Recht in Deutschland nicht durchsetzt, wenn es um Autofahrer geht. Stefan Pietsch hat die Idee damals empört verworfen. Das hier ist nur eines der vielen Beispiele. In letzter Zeit ist es ein richtiges Genre auf Twitter geworden, Polizisten zu dokumentieren, die Verstöße gegen die STVO nicht ahnden, wenn sie gegen Fahradfahrer oder Fußgänger gerichtet sind. In unserem Land herrscht ein Kult des Autos, der immer wieder lebensgefährlich ist, und die Polizei setzt das bestehende Recht schlicht nicht um.

Mittwoch, 18. Dezember 2019

Die existenzielle Krise

Ich habe in der letzten Zeit viel über eine Entwicklung in der Debatte nachgedacht, die mich lange verwirrt hat. Warum ändert sich der Diskurs in der Gesellschaft bei bestimmten Themen so rapide? Wir haben das von rechts in der Flüchtlingskrise gesehen, wo sich über diese Frage zahllose Menschen vor allem im traditionell bürgerlichen Spektrum selbst radikalisiert haben. Wir sehen es in den letzten beiden Jahren am Beispiel der Klimakrise vor allem im progressiven Spektrum, wo sich die gesamte Vorstellung der Priorität des Themas und des akzeptablen Rahmens der Lösungsmöglichkeiten deutlich verschoben hat. Ich glaube, dass das viel mit der Wahrnehmung von Krisen zu tun hat.

Was meine ich damit? Für mich ist die Flüchtlingskrise ein minderes Problem. Ja, es kostet Geld. Ja, da entstehen vermutlich einige neue soziale Probleme; Brennpunktschulen, Gehttoisierung, und so weiter. Ja, einige von denen integrieren sich vermutlich nicht richtig. Ja, in einigen Jahren haben wir wahrscheinlich mehr syrische Restaurants als bisher. Und so weiter. Aber nichts davon ist etwas, das nicht zu managen wäre. Der Staat wird das leidlich durchverwalten, die Wirtschaft einen Gutteil der Leute aufnehmen (im Niedriglohnsektor überwiegend) und wenn die nächste Einwanderungswelle kommt, werden alle sagen wie gut die Syrer um Vergleich zu wer auch immer dann kommt integriert sind. In Kürze: No Big Deal.

Aber es gibt genug Leute, die das anders sehen. Für sie gefährden die Flüchtlinge etwas Fundamentales in Deutschland, ist die Flüchtlingskrise DER bestimmende Faktor der letzten Jahre. Für sie ist alles vernetzt. Ob wir über Jugendgewalt reden, Kriminalität generell, den Sozialstaat, die Kosten desselben, die EU-Politik, alles hat direkt und meist prominent mit der Flüchtlingskrise zu tun. Über allem schwebt die Vorstellung, dass hier eine langfristige Katastrophe angelegt ist, die uns auf mindestens ein, wenn nicht mehrere Jahrzehnte plagen wird und gegen die sofort und mit scharfen Maßnahmen reagiert werden muss. It's a Big Deal.

Und ich tue mich schwer, die zweite Sicht nachzuvollziehen. Ich verstehe sie auf einem intellektuellen Level, insofern als dass ich die Argumente durchdringe und verstehe, aber ich kann nicht nachvollziehen, wie jemand diese Argumente fühlt und halte die entsprechenden Leute für von der Realität entkoppelt. Nur, das ist in etwa das, wie (häufig die gleichen) Leute auf die Klimakrise blicken.

Was ist da los?

Für mich handelt es sich um DAS Problem unserer Zeit, das, wenn nicht mit scharfen Maßnahmen angegangen, zu katastrophalen Folgen führen wird. Für andere handelt es sich um EIN Problem, drängend gewiss, aber nichts, was die Politik nicht wegverwalten und die Wirtschaft nicht durch das, was sie eben tut, zu lösen helfen würde. Sicherlich nichts jedenfalls, für das es sich lohnen würde, die bestehende Gesellschaft in Frage zu stellen.

Und ich glaube, der Schlüssel zum Verständnis dieser divergierenden Sichtweisen liegt darin, wie wir Krisen wahrnehmen. Ich nenne es die existenzielle Krise. "Normale" Krisen gibt es dauernd. Irgendwo liegt immer etwas im Argen, gibt es irgendwo eine unvorhergesehene Entwicklung, gilt es, eine Verschlechterung des Status quo abzuwenden. Eine existenzielle Krise aber ist selten. Wie der Name bereits sagt, betrifft sie sämtliche Lebensbereiche. Ich will damit nicht zwingend ausdrücken, dass sie unsere Existenz als Menschen oder Bürger physisch bedroht (obwohl ich das bei der Klimakrise langfrisitg so sehe), sondern dass sie die aktuelle Existenz tiefgreifend zu verändern in der Lage ist: unseren Lebensstil, unser Selbstverständnis, unsere Gesellschaft.

Warum ist das wichtig?

Meinungsverschiedenheiten spielen bei den meisten Themen keine große Rolle für den Diskurs als Ganzes. Wir können problemlos darüber diskutieren, ob die Grundrente dazu angetan ist, das dräuende Problem der Altersarmut zu lindern oder zu verschlimmern. Niemand begreift Altersarmut in Deutschland aktuell als ein existenzielles Problem. (An dieser Stelle noch einmal der Hinweis: die Höhe der Rente ist natürlich für diverse Rentner ein Problem, das ihre Existenz unmittelbar betrifft, aber die Debatte wird selbst von ihnen nicht als existenziell geführt.) Gleiches gilt für die Maut auf deutschen Autobahnen. Man kann hitzig darüber sprechen, aber existenziell ist es nicht mal für Abonnenten des ADAC-Magazins.

Oder wenden wir den Blick in die USA. Ob Medicare-For-All oder Reformen von Obamacare ist mir grundsätzlich nicht übermäßig wichtig; kein existenzielles Problem. Ich kann hier Kompromisse akzeptieren, und ein grundsätzliches Scheitern und Fortbestehen des Status Quo würde mich zwar sehr verärgern, aber nicht meine Grundfesten erschüttern.

Eine Frage der Wahrnehmung

Nicht immer existiert überhaupt eine existenzielle Krise. Wir kennen lange Phasen unserer Geschichte, in der es keine gab. Praktisch die gesamte Regierungszeit Merkels bis 2005 war eine solche Zeit. Und wie uns das Beispiel zeigt, kann eine solche Krisenwahrnehmung auch sehr einseitig sein und nur von kleinen gesellschaftlichen Gruppen als solche wahrgenommen werden oder aber nur von einer Hälfte der Gesellschaft. In diesem Fall entsteht eine asymmetrische Krisenwahrnehmung. Das dürfte der häufigere Fall sein. Natürlich gibt es auch existenzielle Krisen, die einer überwältigenden Mehrheit als solche empfunden werden - man denke nur an den RAF-Terror im Deutschen Herbst 1977, in dem lagerübergreifend Einigkeit über die Ausnahmesituation bestand, in der man sich befand.

Ich halte die Wahrnehmung einer existenziellen Krise für meine eigene politische Meinungsbildung in den letzten zwei Jahren für entscheidend, denn sie löst das für mich im Einstieg aufgestellte Rätsel. Warum ist meine Position unnachgiebiger geworden als früher? Um 2017 herum fiel es mir deutlich leichter als heute, neutrale Analyseartikel zu Themen zu schreiben, bei denen ich eine abweichende Meinung hatte, ob es sich um die Klimapolitik, Koalitionsfragen in den Ländern oder die republikanische Partei in den USA handelt. Das liegt nicht daran, dass sich meine Positionen wesentlich verändert hätten; ich glaubte damals im Großen und Ganzen an die Richtigkeit derselben Thesen wie heute.

Was sich geändert hat ist das Gefühl, dass wir uns in einer existenziellen Krise befinden, und ich bemerke immer mehr, wie dieses Gefühl mehr und mehr zu einem Unwillen führt, prophylaktische Kompromisse einzugehen. Dass Clinton etwa als eher zentristische Präsidentin agiert hätte, behinderte meine Unterstützung für ihre Kandidatur trotz des größeren Überlapps an policy-Forderungen mit ihrem Konkurrenten Sanders anno 2016 nicht, weil ich andere Faktoren als relevanter sah - Wählbarkeit, grundsätzliche Fähigkeit zum Regieren, coalition building, Politik des Möglichen, etc. - meine diesbezüglichen Artikel finden sich alle im Archiv.

In Bezug auf Deutschland gilt das nicht so sehr. Ich war einer der wenigen, die 2017 für eine Fortführung der Großen Koalition eintraten. Die grundsätzlichen Überlegungen hierzu haben sich auch wenig geändert, wenngleich es heute wohl der Wunsch nach einer grün-schwarzen Koalition wäre. Ich empfinde die Republicans in einer Weise als existenziell bedrohlich, die für die CDU oder FDP nicht gilt - auch wenn mich mit diesen Parteien inhaltlich wenig verbindet.

Polarisierung

Mit dieser Wahrnehmungsverschiebung, das zeigen ja auch die Kommentare hier im Blog, bin ich sicherlich nicht alleine. Die größte Gefahr dieser Entwicklung ist dabei die Polarisierung nach den Extremen. Wenn nämlich eine Seite eine existenzielle Krise wahrnimmt, gibt es dafür zwei Perspektiven. Erstens kann die andere Seite nachgeben und den entsprechenden Forderungen wenigstens teilweise nachgeben; auf diese Weise verschiebt sich der Rahmen der Politik deutlich. Das ist etwa im Fall der Flüchtlingskrise geschehen; praktisch niemand läuft heute noch mit "Refugees Welcome" herum, die Debatte hat sich hauptsächlich darauf veschoben, wie man damit umgeht. (Nicht, dass es etwas daran geändert hätte, dass es weiterhin von einer Gruppe als existenzielle Krise betrachtet wird, aber das Thema wurde weitgehend eingehegt.)

Die andere Möglichkeit ist, dass eine spiegelbildliche Polarisierung auf der anderen Seite stattfindet. Das ist etwas, das wir bedauerlicherweise gerade im Umfeld der Klimakrise ablaufen sehen. Während in einem Teil der Gesellschaft das Bewusstsein dafür, wie dringlich entscheidende Schritte angeraten sind, immer weiter wächst, entsteht eine (bislang glücklicherweise deutlich kleinere Gruppe), die sich in die andere Richtung radikalisiert und entweder abstreitet, dass überhaupt irgendwelcher Handlungsbedarf besteht oder gar dass der Klimawandel überhaupt existiert.

Welchen Weg eine Gesellschaft einschlägt, ist dabei nicht vorhersehbar. Ich hätte selbst vor zwei Jahren auch nicht angenommen, dass für mich der Klimawandel zum Topthema werden und ich meinen Lebensstil grundlegend in Frage stellen und ändern würde.

Krisenwahrnehmungen ernst nehmen

Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass es sich hierbei um eine Art Knacks, eine Wahrnehmungsstörung handeln würde. Das ist dezidiert nicht der Fall. Was man als existenzielle Krise betrachtet oder nicht ist ja erst einmal eine Entscheidung des Individuums; von dieser Sichtweise dann genügend Menschen zu überzeugen, um Handlungsdruck im politischen System zu erschaffen, ist legitimer Teil des politischen Prozesses. Gerade dafür ist die pluralistische Demokratie ja da.

Und andererseits kann der krisenhafte Handlungsdruck ja auch bestehen! Wenn eine existenzielle Krise vorhanden ist, sind Taten dringend geboten und sind Kompromisse in Richtung Nichtstun höchst bedrohlich (anders als Kompromisse darüber, WIE gehandelt werden muss; das gilt es zu trennen). Wir sind uns nur aktuell nicht einig, ob und wo diese Krisen bestehen.

Wichtig ist, denke ich, dass wir uns in diesem Prozess so viel Offenheit wie möglich bewahren. Einerseits muss weiterhin die Möglichkeit offen gehalten werden, dass man selbst falsch liegt. Andererseits muss man sich im Klaren darüber sein, wann eigentlich sich der gesellschaftliche Diskurs entsprechend gedreht hat; es führt in den Untergang der Polarisierung, wenn man in einem permanenten Krisenmodus ist. Das sehen wir ja etwa an den Republicans in den USA. Ich hoffe, dass dieses Blog dazu auch einen Beitrag leisten kann.

Ein Ausblick

Ich möchte zum Abschluss noch kurz skizzieren, welche Krisenwahrnehmung ich mittlerweile habe. Ich sehe eine existenzielle Krise gerade auf zwei Gebieten, und auf beiden Gebieten hat sich diese Wahrnehmung für mich erst im letzten Jahr ergeben.

Das erste Feld habe ich bereits mehrfach im Artikel erwähnt; hier handelt es sich um die Klimakrise. Meine große Angst ist, dass wir gerade das letzte Zeitfenster vergeuden, das uns bleibt, um dieser Gefahr halbwegs Herr zu werden und dass in zehn, zwanzig, dreißig Jahren die Welt, wie wir sie kennen, und die Gesellschaftsordnung, in der wir leben, nicht mehr wiederzuerkennen sein wird - und nicht im Guten.

Das zweite Feld ist die Gefahr von rechts. Ich bin inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass wir in zehn Jahren nicht mehr in einer rechtsstaatlichen Demokratie leben, von "praktisch null" auf "existent" geschwungen ist. Und diese Gefahr kommt ausschließlich von rechts. Es macht mich wahnsinnig zu sehen, wie das wegrelativiert, wegdiskutiert und geleugnet wird. Vielleicht habe ich tatsächlich Unrecht. Aber Fakt ist auch, dass diejenigen, die es relativieren, wegdiskutieren und leugnen auch wenig davor zu befürchten haben.

In beiden Fällen glaube ich, dass ich Recht habe. In beiden Fällen hoffe ich, dass ich nicht Recht habe.