Sonntag, 22. Dezember 2019

Jugendliche nehmen mit Joe Biden Elternzeit auf eine Fahrradtour nach Georgia - Vermischtes 22.12.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Ausufernde Jugendgewalt?
In der Diskussion um diese Tat wird allerdings auch von verschiedenen Seiten vorgebracht, in Deutschland zeige sich derzeit ein Trend zu mehr (öffentlichen) Gewaltakten. Männliche Jugendliche und Heranwachsende seien gewalttätiger als früher, insbesondere der höhere Anteil von jungen Männern mit Migrationshintergrund trage seit der vermehrten Aufnahme von Flüchtlingen seit 2015 dazu bei. Die Rede ist sogar von „ausufernder" Gewalt. [...] Die Studie kommt dabei zu differenzierten Beobachtungen und Folgerungen, bestätigt aber einen 10-Jahres-Trend: Die Gewaltdelinquenz Jugendlicher und Heranwachsender ist im Rückgang begriffen. Schon seit dem Jahr 2000 im Dunkelfeld, seit 2007 auch im Hellfeld, ist eine klare Tendenz zur Reduktion der Gewaltdelinquenz von Jugendlichen und Heranwachsenden erkennbar. [...] Über die Ursachen des Rückgangs können bislang nur Vermutungen angestellt werden: Angeführt werden in der oben genannten Studie, dass wohl einige im Zusammenhang mit Jugendgewaltdelinquenz beobachtete Faktoren betroffen sein können: - weniger delinquenter Freunde - reduzierter Alkoholkonsum - Rückgang von Elterngewalt/gewalttätiger Erziehungsstile - Zunahme höherer Schulabschlüsse - verändertes Kommunikationsverhalten aufgrund neuer Technologie [...] Dass wir uns über Gewaltakte entrüsten, ist keineswegs kritikwürdig oder gar falsch. Gerade die weit verbreitete Empörung belegt ja, dass unsere Gesellschaft inzwischen eine ist, in der Gewalttätigkeiten zu recht tabuisiert und geächtet werden – und das bleibt sicherlich nicht ohne Wirkung auch auf potentielle Gewalttäter. Aber Fälle, die hohe Aufmerksamkeit der Medien bekommen, sind für die Trendbeschreibung einer Gesamtentwicklung ungeeignet. Die Jugend ist in der vergangenen Dekade nicht gewalttätiger geworden, sondern Jugendgewalt ist  - im Gegenteil - deutlich zurückgegangen. Derzeit spricht viel dafür, dass dieser Trend anhält, auch wenn die Utopie einer gewaltfreien Gesellschaft wohl eine bleiben wird. (Henning Ernst Müller, Beck Community)
Die Debatte um Gewalt und Kriminalität kennt dieses Problem generell: Es geht um gefühlte Wirklichkeiten. Auch bei Kriminalität sinkt die Zahl der Straftaten seit den 1990er Jahren beständig, aber sicherer fühlen sich die Leute deswegen nicht zwingend. Das würde erfordern, dass in der Berichterstattung Zurückhaltung geübt wird, aber das ist illusorisch. Sex und Gewalt sind und bleiben die besten Verkaufstreiber, und die Leute WOLLEN diese gruseligen Horrorgeschichten haben und sie sich gegenseitig erzählen und sie so noch aufbauschen. Die Menschen sind einfach so gestrickt, und nur wenige können sich dem entziehen und den Kontext herstellen. Bei Jugendlichen kommt noch die Komponente dazu, dass die meisten Leute älter als Jugendliche und daher geneigt sind, sich positiv abgrenzen zu wollen. Über "die Jugend" wird immer das Schlimmste geglaubt und behauptet, denn "wir damals" waren ganz anders. Das ist auch eine Konstante der menschlichen Psychologie. Mir erzählen jedes Jahr Zwölftklässler im heiligem Ernst, wie viel tugendhaftere Elftklässler sie waren und dass alles den Bach runtergeht.

 2) LBJ's Great Society Won the War on Poverty
In other words, taking a bird’s eye view of the economy, the Great Society worked. Material deprivation of the kind that was still common in midcentury America -- a desperate lack of food, shelter and basic medical care -- is much rarer today. That’s probably one reason political unrest usually doesn’t explode into violence the way it once did. The lesson is that government redistribution works. Although some social programs have been poorly designed -- for example, the Aid to Families with Dependent Children program probably discouraged people from working -- most government benefits alleviate true hardship. On that basis, the conservative argument that welfare traps poor people in poverty is simply wrong. Of course, that doesn’t mean that doubling down on LBJ’s approach is appropriate now. Modern poverty is often more about insecurity, risk, and a lack of personal dignity than it is about absolute material hardship. Addressing that will require new and innovative approaches toward poverty reduction. But the successes of the past, and the importance of government programs for lowering poverty in the present day, needs to be acknowledged. (Noah Smith, Bloomberg)
LBJ ist und bleibt einer der unterschätztesten Präsidenten. Viel davon ist der Schatten von Vietnam. Johnsons Eskalation des Konflikts und die völlig fehlgeleitete Strategie Westmorelands trugen wie kaum etwas dazu bei, die USA Ende der 1960er Jahre völlig aus der Bahn zu werfen. Die Erfolge seiner Präsidentschaft aber bilden eine Basis, die sich als so wirkungsvoll und widerstandsfähig erwiesen hat, dass die Republicans es trotz Aufbietung all ihrer Energie in den letzten 40 Jahren nicht geschafft haben, sie vollständig zu zerschlagen. Die Vision von der Great Society jedenfalls könnte eine Neuauflage vertragen.

 3) GOP-Led Voter Purges in Wisconsin and Georgia Could Tip 2020 Elections
On Friday, a state judge in Wisconsin ruled that the state could begin canceling the registrations of 234,000 voters—7 percent of the electorate—who did not respond to a mailing from election officials. The Wisconsin Elections Commission, a bipartisan group overseeing state elections, had planned to wait until 2021 to remove voters it believes have moved to a new address. But in response to a lawsuit from a conservative group, the Wisconsin Institute for Law & Liberty, Judge Paul Malloy, a Republican appointee, said those voters could be purged 30 days after failing to respond to a mailing seeking to confirm their address. On Monday night, Georgia Secretary of State Brad Raffensperger removed 309,000 voters from the rolls—4 percent of the electorate—whose registrations were labeled inactive, including more than a hundred thousand who were purged because they had not voted in a certain number of previous elections. These numbers are large enough to swing close elections. Donald Trump carried Wisconsin by 22,000 votes; the number of soon-to-be purged voters is more than 10 times his margin of victory. Democrat Stacey Abrams failed to qualify for a runoff against Brian Kemp in the 2018 governor’s race by 21,000 votes; the number of purged voters in Georgia is 14 times that. These purges appear to disproportionately affect Democratic-leaning constituencies, including voters of color, students, and low-income people who tend to move more often. In Wisconsin, 55 percent of those on the purge list come from municipalities where Hillary Clinton defeated Trump in 2016. Nine of the 10 areas with the highest concentration of voters slated to be purged voted for Clinton. Milwaukee and Madison, the state’s two most Democratic areas, account for 14 percent of the state’s registered voters but 23 percent of those on the purge list, according to the Milwaukee Journal Sentinel. (Ari Berman, Mother Jones)
Diese Leute wissen, dass sie eine normale demokratische Wahl nicht gewinnen können. Entsprechend tun sie alles, um das Pendel in ihre Richtung ausschlagen zu lassen. Mich erstaunt immer wieder, wie wenig Widerstand die Democrats dagegen leisten. Die Propaganda-Maschinerie der GOP würde überhaupt nicht mehr zum Stillstand kommen, wenn auch nur ein Bruchteil solcher Maßnahmen gegen sie laufen würde. Und angesichts dessen, wie knapp die (im Fall Georgias ohnehin von Unregelmäßigkeiten geplagten) Wahlen ausgingen, sollte man echt meinen, dass hier ein verstärkter Fokus sinnvoll wäre.

 4) Democrats are sleepwalking into a Biden disaster
If Biden is nominated in 2020, Trump is going to repeat the formula that made Hillary Clinton's emails the dominant story of 2016. He'll say "BIDEN UKRAINE CORRUPT" 90 billion times, and the New York Times political reporters with Both Sides brain poisoning will helplessly validate the narrative. The rest of the press will follow their lead. Biden will take on the vague appearance of being The Corrupt One despite Trump being monumentally worse in every possible respect. Even observers who share Biden's basic political outlook are extremely worried about this possibility. Some of Biden's support seems to come from the perception that, like Trump, he is somehow immune from the normal laws of politics. Several scandals and gaffes that would have ended a typical campaign dented his support not at all — which is to say his backers are creating a self-fulfilling prophesy that if they support him no matter what he does then he will continue to be supported. In reality, nominating Trump in 2016 was a terrific gamble by the Republican Party. His base of riled-up kooks sticks with him through thick and thin, but his constant scandals and unhinged tweeting really did sap his support among the broader population — making him the most unpopular nominee in the history of polling. Even today, presiding over the strongest economy in two decades, he remains markedly unpopular. (Ryan Cooper, The Week)
Ich halte Biden auch nicht gerade für den bestmöglichen Vertreter, aber Stand jetzt ist er der Kompromisskandidat einer sehr breit aufgestellten demokratischen Partei. Seine Chancen sind sehr gut. Leider bin ich auch deutlich skeptisch, was seine Chancen in der general election angeht. Man muss allerdings fairerweise sagen, dass Trump eine mindestens 50:50-Chance auf die Wiederwahl hat. Das hier ist kein 2008, wo sowohl Obama als auch Clinton (oder Edwards oder Biden) als deutliche Favoriten ins Rennen gehen. Deswegen ist jeder der aktuell debattierten Kandidaten ein Risiko. Mit Joe Biden haben wir einen wenig begeisternden Vertreter des Establishments mit Establishment-Positionen, der einer deutlich linkeren Parteibasis vorsitzt. Das ist effektiv eine Wiederholung von 2016, nur dass es dieses Mal keine Frau ist und seine Chancen deswegen besser sind. Dann haben wir Bernie Sanders, dessen Identität als Sozialist eine völlig unbekannte Größe darstellt. Elizabeth Warren ist eine Frau und vertritt vergleichsweise radikale Positionen. Bloomberg ist ein zentristischer Radikaler und Milliardär, der aus seiner Verachtung gegenüber dem demokratischen Prozess wenig hehl macht. So oder so hat jede(r) KandidatIn seine/ihre Pluspunkte und Risiken, und jede(r) KandidatIn ist eine Wette darauf, welche dieser Pluspunkte am ehesten zum Tragen kommen werden und welche Stimmung in der Bevölkerung vorherrschen wird. Das ist aktuell schlicht nicht abzusehen. Wir können unsere Präferenzen kundtun, aber viel mehr auch nicht. Alles weitere ist Prinzip Hoffnung. Fakt ist nur eins: Jeder der Genannten ist besser als Trump. 

5) Kabinett beschließt Verbot von Konversionstherapien
"Homosexualität ist keine Krankheit, daher ist schon der Begriff Therapie irreführend", sagte Spahn. "Ein Verbot ist auch ein wichtiges gesellschaftliches Zeichen an alle, die mit ihrer Homosexualität hadern: Es ist okay so, wie du bist." Ziel des neuen Gesetzes sei es, die Pseudotherapien "so weit wie möglich zu verbieten". Dem Gesundheitsministerium zufolge sollen Behandlungen an Minderjährigen generell verboten werden und an Volljährigen dann, wenn deren Einwilligung zur Behandlung auf einem "Willensmangel" beruht - also etwa auf Zwang, Drohungen, Täuschung oder Irrtum. [...] Wie am Dienstag bekannt wurde, hatte der Gesundheitsminister seinen ursprünglichen Entwurf noch einmal verschärft, bevor er ihn dem Kabinett übergab. Ausnahmen des Verbots für Heranwachsende wurden gestrichen. Spahn begründete diesen Schritt damit, dass gerade in dieser Altersphase die meisten Therapieversuche stattfänden. Die angebliche Behandlung sei "viel zu gefährlich für Leib und Seele, als dass man Graubereiche zulassen dürfte". Das Verbot soll zudem für alle gelten - also nicht nur für Menschen, die berufsmäßig handeln. Auch Eltern können "bei gröblicher Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht bestraft werden", teilte das Gesundheitsministerium mit. (dpa, SpiegelOnline)
An solchen Gesetzesvorlagen kann man sehen, welchen Wert Diversität im Kabinett hat. Jens Spahn war die treibende Kraft, die hier genug persönliches Interesse und Priorität einbringen konnte, um verkrustete konservative Widerstände in der eigenen Partei zu überwinden. Es handelt sich um ein absolutes Nischenthema, aber Spahns persönliches Interesse und, vor allem, seine eigenen Erfahrungen haben geholfen, das politische Kapital aufzubringen, das dafür notwendig war. Deswegen sind Frauen- und Migrantenquoten auch so relevant.

 6) We Need a Massive Climate War Effort—Now
None of this should surprise us. Fifteen years ago, UCLA geography professor Jared Diamond wrote a book called Collapse. In it, he recounted a dozen examples of societies that faced imminent environmental catastrophes and failed to stop them. It’s not because they were ignorant about the problems they faced. The 18th-century indigenous inhabitants of Easter Island, Diamond argues, knew perfectly well that deforesting their land would lead to catas­trophe. They just couldn’t find the collective will to stop. Over and over, human civilizations have destroyed their environments because no one—no ruler, corporation, or government—was willing to give up their piece of it. We have overfished, overgrazed, overhunted, overmined, overpolluted, and overconsumed. We have destroyed our lifeblood rather than make even modest changes to our lifestyles. We need the kind of spending that wins wars. And make no mistake, this is a war against time and physics. [...] So how much should we spend? For argument’s sake let’s be modest and aim for only 10 percent of peak World War II–level spending. That’s $700 billion per year in today’s dollars—a hundred times more than we currently spend on energy R&D, but barely 15 percent of what we spent to defeat the Axis. It also amounts to not quite 16 percent of our current federal budget. (Kevin Drum, Mother Jones)
Ich mag an Kevin Drum, dass er sowohl die Notwendigkeit weitreichender, massiver Maßnahmen anerkennt und gleichzeitig tatsächlich (ganz im Sinne Stefan Pietschs und Konsorten) nicht auf eine Myriade von Einzelmaßnahmen setzt, sondern den technologischen Umschwung will. Nur dass er eben nicht auf darauf hofft, dass die Magie des Freien Markts es schon irgendwie richten wird, irgendwann, sondern dass er proaktive Politik in diese Richtung will. Ich wäre gespannt, was gerade Stefans oder Erwins Feedback zu Drums (langem und ausführlichen und hier nur sehr ausschnittsweise rezipierten) Artikel wäre und ob sie sich hinter so was stellen könnten.

 7) Lassen Sie mich durch, ich habe Schulkinder!
Ich bin ein gelebtes Elterntaxi. Viele äußere Umstände wie Timing, Vereinbarkeit und Anforderungen vonseiten der Schulen an die Eltern zwingen mich dazu, es zu sein. Sicher könnte ich mir auch einen großen Rucksack umschnallen oder gleich mit einem Bollerwagen randvoll mit Rucksäcken, Essen und meiner Laptoptasche bei Wind und Wetter in die öffentlichen Verkehrsmittel steigen – und mein Pech, wenn der Busfahrer mich wegen Überfüllung nicht mitnimmt. Meine Kollegen im Büro würden mich vermutlich als Sonderling auslachen, fraglich auch, ob ich bei Schneematsch oder dank der körperlichen Anstrengung (nicht alle U-Bahnhöfe in Berlin haben Aufzüge) den Dresscode im Büro einhalten würde. Ja, könnten jetzt böse Stimmen behaupten, es ist alles eben eine Frage der O-R-G-A-N-I-S-A-T-I-O-N. Und ich gebe ihnen recht, vieles wäre ohne Doppelbelastung (Beruf, Erziehung und Haushalt) auch ohne Auto möglich. Ich könnte morgens meine Kinder mit einem Lastenfahrrad fahren, auf dem Rückweg die Einkäufe machen, noch mal nach Hause, kochen und in aller Ruhe gegen 14 Uhr wieder los und gut gelaunt die Nachmittagsaktivitäten der Kinder abfahren. In Zeiten, in denen jede zweite Frau mit Kindern unter drei Jahren mindestens Teilzeit, wenn nicht 80 Prozent arbeitet, ist diese Realität der schönen Rama-Familie, in der Mutti mittags kocht, jedoch nicht mehr abzubilden. (Caroline Rosales, ZEIT)
Geht mir genauso. Ich habe es dieses Jahr geschafft, mir Zeit für einmal in der Woche mit dem Rad ins Geschäft aus den Rippen zu schneiden. An jedem anderen Tag muss ich die Kinder fahren. Meine Frau muss früher aus dem Haus als ich, und meine einzige Chance, rechtzeitig auf Arbeit zu sein, ist die Kinder mit dem Auto zur Kita/in den Hort zu bringen. Beide öffnen um 7 Uhr morgens. Keine Chance ohne Auto. Selbst mit Auto ist das brutal, gerade auch für die Kinder, aber nicht anders machbar. Der Artikel geht noch viel weiter auf die Gründe und Lösungsmöglichkeiten und das Versagen der Kommunen ein, ich will das hier gar nicht wiederholen. Stattdessen soll noch eine Betonung auf der widerlichen Gender-Ungleichheit liegen. Nicht umsonst schreibt Risales von Müttern, die morgens diese Probleme haben. Ich bringe die Kinder morgens und hole sie abends wieder ab (an den meisten Tagen der Woche), schlicht, weil meine Frau wesentlich längere Arbeitswege hat als ich (unter anderem, weil sie auf die Öffentlichen angewiesen ist, und wer Stuttgart kennt, weiß was das heißt). Aber überwiegend bleibt dieser Stress an den Frauen kleben, die deswegen in Teilzeit gezwungen sind. Es war ein mehrjähriger Kampf, bis unsere Vorgesetzten diese Rollenverteilung akzeptiert haben; die Vorgesetzten meiner Frau haben mehrfach reichlich aggressiv versucht, sie in Teilzeitmodelle zu drängen (wäre ja besser für sie und ihre Familie, Sie wissen schon...) während ich dafür kritisiert wurde, nicht 24/7 zur Verfügung zu stehen, warum meine Frau das nicht machen könne. Wir haben noch sehr viel Arbeit vor uns als Gesellschaft.

 8) Was darf eine Basler Gugge? Natürlich alles.
Das ist aber schnell eskaliert. Mitte letzter Woche ärgerte sich ein junger Mann über das Plakat einer Basler Fasnachtsclique – wegen des stereotypen, kolonialen Logos der Gruppe und wegen des Namens selbst: «Negro-Rhygass» hatten zum «Negro-Fescht» geladen. In die Kritik geriet auch eine zweite Basler Fasnachtsgruppe: die «Guggemusig Mohrekopf». Und schon demonstrierten am Wochenende rund 800 Personen. Weil sie ihr Recht in Gefahr sahen, sich das Gesicht schwarz zu färben und Schaumküsse «Mohrenköpfe» zu nennen. Es sollte keine politische Kundgebung sein, sondern ein «Solidaritätsmarsch» für die beiden Guggen. Am Ende wurde es eine ziemlich hässliche Angelegenheit: gesponserte «Mohrenköpfe» zur Belustigung, Neonazis im Umzug, Angriffe von Rechtsextremen vor dem linksalternativen Restaurant «Hirscheneck». Die spannende Frage in diesem ganzen Theater: Warum nur seid ihr so verdammt scharf darauf? [...] Dabei ist es eigentlich nicht so schwer zu begreifen: Diskriminierung folgt herrschenden Machtverhältnissen. Und da hat sich als Faustregel bewährt: Im Zweifel sollte man dem ganz genau zuhören, der sich diskriminiert sieht – und nicht in jedem Fall dem, der partout nicht erkennen will, dass er jemanden beleidige. Die Meinungsfreiheitspolizei ruft sofort: Halt! Man wird ja wohl noch sagen dürfen … Natürlich. Man darf. Man muss bloss das «Arschloch!» ertragen, das einem dann vielleicht entgegenschallt. «Darf man das?», ist die falsche Frage. Es ist ja offensichtlich: Man darf «Mohrekopf» sagen, man darf ein «Negro-Fescht» aufführen – man tut es ja die ganze Zeit. (Carlos Hanimann, Republic.ch)
Der Autor stellt hier tatsächlich die entscheidende Frage. Warum um Gottes Willen bestehen so viele Leute auf ihrem Recht, Minderheiten diskriminieren zu dürfen? Als ob es daran hinge. Der psychologische Faktor darin ist relativ klar. Man sieht das ja daran, wie man plötzlich eine Fraktion fanatischer Verfechter alter Glühbirnen bekommt, wenn man selbige verbietet. Es ist beknackt, aber so ist der Mensch gestrickt. In diesem Fall muss man sich eben deutlich machen (und es anderen deutlich machen) dass hier für nichts anderes gekämpft wird als das Recht, ein Arschloch zu sein. Und ich bin absolut für das Recht, ein Arschloch zu sein. Jedes Arschloch sollte sich öffentlich jederzeit als Arschloch outen dürfen. Nur dürfen Arschlöcher dann halt auch nicht mimosenhaft weinen und einen Angriff auf ihre Meinungsfreiheit beklagen, wenn man sie Arschlöcher nennt.

Was mich jedoch immer wieder nachdenklich macht, ist, dass die Impulse für diesen Rollenwandel vor allem von Feminist*innen und der Familienpolitik kamen, aber sehr viel seltener von Männern selbst. Väter scheinen sich mehrheitlich damit abzufinden, dass sie in den ersten Lebensjahren ihrer Kinder wenig Zeit mit ihnen verbringen. Man hört in persönlichen Gesprächen sowie in politischen Debatten selten ein Bedauern von Vätern, dass sie keine oder nur wenig Elternzeit nehmen können oder noch immer in Vollzeit arbeiten. Der winzigen Minderheit von Vätern, die sich wirklich gleichberechtigt um ihre Kinder kümmern, steht eine Mehrheit von Männern gegenüber, die sich an einem traditionellen Männlichkeitsbild orientieren und darauf basierend Entscheidungen treffen. Der Sozialforscher Carsten Wippermann beschreibt in einer Studie von 2014 die nach wie vor traditionellen Sichtweisen auf Geschlechterrollen, die bei vielen kinderlosen Männern zu finden sind, so: »Sie nehmen die beruflichen Ambitionen ihrer Partnerin ernst, sind aber nicht bereit, für ein Kind ihr zeitliches und persönliches Engagement für ihren Job und ihre Karriereperspektiven zu reduzieren oder gar auf Teilzeit zu gehen. Männer gehen selbstverständlich davon aus, dass sie bei einer Familiengründung der Haupternährer sind und ihre Partnerin dann als ›(gute) Mutter‹ selbst das Bedürfnis haben wird, sich überwiegend um ihr Kind zu kümmern. Insofern kommt für Männer mit mittlerer und hoher Berufsqualifikation im Alter unter 30 Jahren eine Familiengründung aktuell noch nicht infrage, sondern erst dann, wenn ihre Partnerin dazu bereit ist, ihre eigenen beruflichen Ziele und ihren Erwerbsumfang zu reduzieren.« (Theresa Bücker, SZ)
In einem Land, das ernsthaft darüber debattiert, alle 18jährigen ein Pflichtjahr absolvieren zu lassen, damit man weiterhin um die angemessene Bezahlung von Pflegekräften herumkommt, ist so eine Forderung natürlich nicht zu radikal, um die Frage aus der Überschrift zu beantworten. Die Überlegung ist vielmehr, wie sinnvoll es ist. Da sämtliche dieser Geschlechterrollen soziale Konstrukte sind, werden sie sich auch nur durch soziale Prozesse und sozialen Druck verändern lassen. Offensichtlich haben sanfte Anreize wie das bisherige Modell nicht gewirkt, und wie der Artikel überzeugend argumentiert, würde eine Verdopplung der Vätermonate (also 10+4 statt wie bisher 12+2) dank der sexistischen Strukturen in den Führungsetagen der Unternehmen eher zu weniger Elternzeit insgesamt führen statt zu mehr Elternzeit für Väter. Ich denke, die skandinavischen Länder weisen uns den Weg hier ziemlich deutlich. Die Elternzeit wird 50:50 aufgeteilt, und beide Parteien nehmen sie zu gleichen Teilen. 7+7 lautet hier das Zauberwort, und wenn die scheinbare Wahlfreiheit (die de facto auf weitere Einkommenseinbußen auf dem Rücken der Frauen hinauslaufen wird) beseitigt ist, kann auch die jeweilige Führungskraft im Unternehmen den männlichen Arbeitnehmer nicht mehr diskriminieren und kann selbiger sich nicht unter Verweis auf die zu fürchtenden (sehr realen) Repressalien aus der Verantwortung ziehen. Und gleichzeitig schaffen wir auch noch eine offenere Wirtschaftsstruktur mit besseren Chancen, Produktivitätsgewinnen und größerer Lebenszufriedenheit. Win-win für alle.

10) Tweet
Bothsiderismus ist eine wahre Krankheit bei der New York Times. Keine andere Zeitung macht das so extrem. Und es ist und bleibt für den Diskurs toxisch, weil es es unmöglich macht, die Gefahren, denen wir aktuell ausgesetzt sind - siehe nächstes Fundstück - angemessen zu diskutieren. Ich will gar nicht zu viel auf die NYT schimpfen; ihre Kolumnen etwa bieten eine sehr große Bandbreite an Meinungen und ermöglichen großartigen Autoren ein gutes Forum (und leider auch einigen langweiligen Idioten), aber diese Tendenz sollte sie so schnell wie möglich loswerden.

11) Tweet
Habe ich schon mal erwähnt, dass die GOP keine demokratische Partei ist? Ich glaube, mich erinnern zu können. Das Szenario, nach dem Trump entweder 2020 verliert oder halt 2024 qua Verfassung gehen muss und einfach nicht geht, und in dem die GOP dann irgendwelche Argumente erfindet, warum er nicht gehen sollte und eine gewaltige Verfassungskrise losbricht, ist nicht unwahrscheinlich. Auch nicht wahrscheinlich, mind you, aber die Idee, dass Obama 2016 einfach gesagt hätte "Nö, da gab es russische Einflussnahme, das Ergebnis ist illegitim, ich bleibe" ist so unvorstellbar lächerlich. Dagegen ist es eine absolut vorstellbare Möglichkeit, dass das bei Trump passiert. Und dann kann die älteste Demokratie der Welt sehr, sehr schnell auseinander brechen.

ZEIT ONLINE: Was haben die gegen Sie?
Mandalka: Ich weiß es nicht genau. Dass sie wegen mir bremsen müssen? Dass ich überhaupt auf der Straße bin? In den Facebook-Kommentaren zu meinen Beiträgen meinen einige, die Straße sei nur für Autos da. Die erwarten von Radfahrern, dass sie mitten durch den Wald fahren. Einer hat gefragt, wo ich denn rumfahre, weil ich wohl mal "eine Lektion" bräuchte. Ein anderer hat dann sogar drunter geschrieben, wo ich unterwegs bin.
ZEIT ONLINE: Machen Sie sich Sorgen, dass sich dieser Hass auch auf der Straße zeigen könnte?
Mandalka: Wenn mich einer absichtlich knapp überholt, dann ist das ja schon Hass. Es gibt auch Menschen, die immer wieder den Scheibenwischer anmachen, wenn sie mich überholen, um mich nass zu machen. Ich wohne hier recht ländlich, da sind es oft dieselben Autos, bei denen ich das erlebe. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, spreche ich die Fahrer darauf an. Dann sagen sie: Ist doch meine Sache, wann ich meine Scheibenwischer anmache. Manche, die mich knapp überholen, entschuldigen sich aber auch, die wussten es nicht besser. [...]
ZEIT ONLINE: Sie gehen mit den Videos auch immer wieder zur Polizei, wie reagiert man dort auf Sie?
Mandalka: Die Polizisten haben mich erst nicht ernst genommen. Es sei ja nichts passiert und man könne mit dem Video nicht messen, ob der Abstand groß genug war. Selbst als ich ein Video gezeigt habe, wie einer meinen Abstandshalter streift, hieß es: Wir erkennen da keine Gefährdung. Anfangs wollten sie meine Anzeigen nicht mal aufnehmen, stattdessen haben sie die Autofahrer oder Busfahrer nur angerufen. Die sagen dann: Ich kann mich an nichts erinnern – und die Sache ist erledigt. Ich kenne viele andere Radfahrer, die dieselben Erfahrungen gemacht haben. Inzwischen nimmt die Polizei zwar einige meiner Anzeigen an, aber weiterhin nur wenige und die auch nur, weil ich mittlerweile meine Rechte besser kenne und darauf bestehen kann. (Sören Götz, ZEIT)
Ich habe hier vor einiger Zeit schon mal geschrieben, dass die Polizei das Recht in Deutschland nicht durchsetzt, wenn es um Autofahrer geht. Stefan Pietsch hat die Idee damals empört verworfen. Das hier ist nur eines der vielen Beispiele. In letzter Zeit ist es ein richtiges Genre auf Twitter geworden, Polizisten zu dokumentieren, die Verstöße gegen die STVO nicht ahnden, wenn sie gegen Fahradfahrer oder Fußgänger gerichtet sind. In unserem Land herrscht ein Kult des Autos, der immer wieder lebensgefährlich ist, und die Polizei setzt das bestehende Recht schlicht nicht um.

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