Montag, 31. Januar 2022

Bücherliste Januar 2022

 

Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt.

Diesen Monat in Büchern: Gesellschaftsgeschichte, Zombiekrieg, Demokratie, Marshall-Plan

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: Fleisch

Der Supreme Court stellt Poller an Universitäten auf, um Bidens Erinnerung an den Holocaust in Russland zu schärfen - Vermischtes 31.01.2022

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) America's long record of judicial despotism

The ruling is one more piece of evidence for a larger truth: America has a de facto judicial tyranny, and it's unlikely to change. If the current conservative justices retire strategically, as they generally have done, Democrats would have to control the presidency for something like 20 consecutive years — while holding the Senate when there are seats to be filled — to have a fair shot at taking back the court majority. Realistically, absent adding more justices to the court or other extreme measures, we'll not see a liberal majority again in our lifetimes, and Democratic presidents will find their every move stymied by the conservative bloc. Yet this isn't the first time of judicial despotism in American history. The Supreme Court has often acted exactly as it is doing today, and that history is worth reviewing now. [...] Sure enough, something like three quarters of the history of the Supreme Court is a miserable sequence of rich racists rigging up constitutional arguments for white supremacy and corporate power with arguments ranging in plausibility from the dubious to the completely preposterous. [...] When a handful of rich legal clerics have the option to dominate society, they will. History suggests America will always have a de facto judicial tyranny as long as we have the Supreme Court as we know it. (Ryan Cooper, The Week)

Wir können beim Supreme Court eine rapide Verwandlung in ein statuenhaftes Zerrbild beobachten, wie ich das für das Beispiel von MLK letzthin diskutiert habe. Bis vor historisch recht kurzer Zeit war der Supreme Court voll von politischen Ernennungen. Bis in die 1980er Jahre hinein wurden seine Mitglieder und vor allem Vorsitzenden nach ihrer Treue zur Partei ausgewählt, die Mitgliedschaft im Gremium sicherlich kein Ausweis höchstes juristischer Fähigkeiten. Inzwischen wird er behandelt, als fänden sich dort die besten Jurist*innen des Landes, als oberste Stufe eines juristischen Championship-Bracket. Aber alles was damit erreicht wird ist, möglichst radikale und vor allem möglichst junge Menschen in den Gerichtshof zu bringen. Die letzte halbwegs traditionelle Nominierung war Merrick Garland 2016. Der hatte noch überparteiliche Unterstützung (bevor er vom ersten schwarzen Präsidenten nominiert wurde, versteht sich), war in seinen späten Fünfzigern und galt als moderat. Seither werden radikale junge Leute nominiert, und Bidens neue Nominierung für Breyers alte Stelle wird nicht anders sein.

2) We still need to figure out how to make voters angry at Republicans

So which is it? Are Democrats doomed if they don't pass great legislation? Or does it not really matter because voters mostly vote against a party, not for it? I have never run a campaign, but I'll take door number two. It's hard for me to think of any good examples where legislation played a key role in a national election. Reagan's tax cuts, maybe, though even that's iffy.² Or possibly Bush's Medicare prescription bill among elderly voters, though there's not much evidence for that. I have to remind myself all the time that no matter how oblivious we think most voters are, they are even more oblivious than we think. They simply don't pay attention to politics and haven't got the slightest idea of what legislation is pending or whether Joe Manchin is being a dick. Hell, even the stuff they think they know is usually wrong. So from an electoral point of view, nobody should be worrying about the failure of voting rights or BBB. It's far more important to make swing voters afraid of Republicans. You'd think that would be pretty easy these days, but so far Democrats haven't found the magic key. A strong economy will keep us in the game, but we still need a killer app against the party of the Big Lie. (Kevin Drum, Jabberwocky)

Die Unfähigkeit der politischen Linken zum Wahlkampf ist dieseits wie jenseits des Atlantiks beachtlich. Vor allem die fehlende Emotionalisierung, die Drum hier hervorhebt, ist auffällig. Ich teile auch Drums Unklarheit darüber, was es sein könnte, das man der Gegenseite wirkungsvoll um den Hals hängen könnte, aber solange eine solche Geschichte nicht existiert, wird man es immer schwer haben. Im Wahlkampf 2021 hat die CDU sich dankenswerterweise selbst darum gekümmert, eine solche Geschichte zu produzieren und durch eine Anti-CDU-Wahl eine Ampel-Mehrheit zu produzieren, aber den Gefallen wird sie den Progressiven sicher nicht nochmal tun. Auch Biden kam jetzt nicht eben ins Amt, weil die Wählenden die Democrats so geil fänden, die Kongresswahlergebnisse sprechen da eine eindeutige Sprache. Es war eine Anti-Trump-Wahl, und es gibt keine Garantie, dass das nochmal funktioniert.

3) Ohne Poller geht gar nichts

Schön ist anders, stimmt schon. Dass immer mehr Poller in Berlin aufgestellt werden, ist nicht durchweg ästhetisch, zum Beispiel am Horstweg in Charlottenburg (mehr hier in unserem Bezirks-Newsletter). Aber eins ist auch klar: Wo kein Poller steht, da steht Blech. Oder es rollt. Autofahrende scheinen in Berlin zu meinen, dass ihnen der öffentliche Raum gehört: Plätze, Rad- und Gehwege, Straßenecken, Überwege, Feuerwehrzufahrten, sogar Baumscheiben und Grünflächen werden befahren und beparkt. [...] Diese raumgreifende Aufdringlichkeit ist Folge des jahrzehntelangen Laisser-faire, einer „Berliner Linie“, die für Autoverkehr jedes Verständnis aufbringt und alles andere aus den Augen verliert. So lange Polizei und Politik nicht umsteuern, gibt’s Poller. (Markus Hesselmann, Tagesspiegel)

Ich betone das immer wieder: die Polizei und das ganze darunterliegende Rechts- und Verwaltungssystem habet einen starken Pro-Auto-Bias. Verstöße durch Autos gegen die StVO sind ziemlich milde bestraft und werden kaum kontrolliert. Dazu kommt die ganze mangelhafte Infrastruktur für Fahrradfahrende, ob in Stadt oder auf dem Land. Das Umdenken wird hier nicht mit netten Apellen kommen, sondern nur, indem man die Autofahrenden zwingt, sich an bestehende Regeln zu halten. Und da braucht es dann halt eben auch so was wie Poller. Von verkehrsberuhigten Zonen, Fahrbahneinschränkungen und besserer Infrastruktur für Radfahrende brauchen wir gar nicht anfangen. Deutschland ist da anderen europäischen Ländern ziemlich hinterher.

4) Prüfungskultur an Hochschulen

Ausgangslage ist folgende: Traditionelle Prüfungen an Schulen und insbesondere Gymnasien werden oft damit legitimiert, dass sie eine zentrale Vorbereitung für ein Studium darstellen. Wer erfolgreich studieren will, muss traditionelle Prüfungen absolvieren können – und damit meine ich: alle Mitglieder einer Lerngruppe werden eingeschlossen und müssen isoliert und mit sehr wenigen zugelassenen Hilfsmitteln Aufgaben lösen, die nach einer vorgegebenen Musterlösung bepunktet werden. Diese Prüfungssituation an Hochschulen wird als gegeben und unveränderlich angeschaut, obwohl sie hochproblematisch, eigentlich skandalös ist. [...] Diese entkoppeln die Lernkultur in Seminaren, wo kooperativ und poly-perspektivisch gelernt wird, von der Prüfungskultur – was dazu führt, dass die Lernkultur leider und Studierende sich bei Gruppenarbeiten und Präsentationen ausklinken, weil sie wissen, dass solche Methoden für Prüfungssessionen wertlos sind. Prüfungen werden ohne jedes Feedback und oft Wochen nach dem Prüfungstermin zurückgegeben, es wird nicht einmal versucht, die Prüfungen in den Lernprozess zu integrieren. Mehr noch: Wie César Hidalgo kürzlich dargelegt hat, hindern Prüfungen Studierende daran, wesentliche Kompetenzen zu erwerben, sie machen sie abhängig von Vorgaben und Dozierenden und verhindern, dass sie Verantwortung für ihre Entwicklung und für Projekte übernehmen können. Hochschulen müssen ihre Prüfungskultur so schnell wie möglich radikal überdenken. Sie ist überholt und schädlich. Studierende brauchen mehr Feedback und weniger Abhängigkeit. (Philippe Wampfler, Schule Social Media)

Der Zusammenhang zwischen der Prüfungskultur an Hochschulen und der an Schulen, den Wampfler hier aufmacht, ist richtig und konsequent. Ich würde das noch einen Schritt weiterführen: die Fachkultur an den Universitäten beeinflusst wiederum die an den Schulen, weil dort ja die Lehrkräfte ausgebildet werden. Wenn etwa, ganz zufälliges Beispiel, an den Universitäten in Mathematik eine Fachkultur herrscht, die stets auf die mathematische Schulbildung herabsieht und Lehramtsstudierende eher als Unterklasse betrachtet, wenn es im Fach normal ist, mit regelmäßigen, brutalen Prüfungen auszusieben, dann wird sich das auch an die Schulen fortpflanzen. Das sind ja kommunizierende Röhren. Und das ganze geht dann wiederum in alle anderen Bereiche über, weil die meisten Leute aus diesem System ja rausgehen und außerhalb des Bildungssystems Anstellung finden. Auf die Art reproduzieren sich Vorurteile permanent. Und am Ende wundern sich alle, warum die PISA-Werte so schlecht sind.

5) Why Biden’s Losing Fight for Voting Rights Was Still the Best Plan

Democrats are planning to mobilize their voters this way again in November. But when they mobilize their voters against voter suppression in the fall, the voters are going to want to know what Democrats did to block those laws. They can’t very well organize against voter-suppression laws if they haven’t tried to fight those laws in the first place. Devoting a week or so of national debate to Democratic efforts to pass voting-rights bills seems like a necessary part of a countermobilization strategy. [...] Now, maybe the Democrats’ plan to stage a big fight over voting rights will backfire. But the grim truth is that Democrats don’t have a clear strategic win. They are fighting against a party that has taken on an increasingly authoritarian cast, and even the “moderate” Republicans have taken a position — that the federal government has no right to erect voting-rights protections — that would have been considered extreme a couple decades ago. Alternative strategies, like backup quarterbacks, always look more attractive when the first option is losing. But sometimes there isn’t a better strategy than fighting like hell and hoping for the best. (Jonathan Chait, New York Magazine)

Ich denke, Chait beschreibt hier effektiv eine grundsätzlich korrekte Dynamik, über die ich schon in anderem Kontext geschrieben habe: die Verschiebung des Overton-Fensters. Manchmal muss man politische Kämpfe auch deswegen ausfechten, um den Bereich des Vorstellbaren zu verschieben, so dass etwas machbar wird. Ja, die Democrats sind mit ihren voting rights bills gescheitert, aber es hing nur noch an zwei Senator*innen, Manchin und Siema, die bei vielen Punkten ein Hindernis sind. Der ganze Rest der Partei steht geschlossen dahinter, und das war vor kurzer Zeit bei weitem nicht so. Dadurch ist das Thema zudem in der öffentlichen Auseinandersetzung endgültig ein parteiisches: Republicans dagegen, Democrats dafür. Das garantiert natürlich keine Mehrheiten, aber es ermöglicht die Umsetzung, weil es der Frage, ob man es überhaupt machen soll, enthoben ist. Jetzt geht es "nur" noch um die Machtfrage.

6) The futility of Biden's 1st year // One year into his presidency, Biden’s accomplishments have been short-changed

It was supposed to be "an FDR-sized presidency." In the spring and summer of 2020, after Joe Biden had rolled up the Democratic nomination and polls were predicting a decisive, double-digit victory over incumbent President Donald Trump plus big gains in Congress, the possibility of a real governing majority for Democrats felt tantalizingly real. Instead, the election was closer than anticipated, leaving the new president with almost unworkably narrow majorities in the House and especially the Senate. In the year since his hopeful inauguration, President Biden has been frustrated at almost every turn. [...] Progressive hopes for a truly transformative presidential term are dead, but there's still time enough before the midterms to ensure the Democratic trifecta doesn't die, too. (David Faris, Washington Monthly)

For four years, the phrase “infrastructure week” was a punchline. A metaphor for the abysmal failure that was supposed to be Donald Trump’s signature legislative achievement. It took Joe Biden less than a year to make good on a transformational piece of legislation that will reshape America’s cities, towns and communities. If Biden achieved little else for the rest of his term, the enactment of the bipartisan Infrastructure Investment and Jobs Act would be enough to cement his record for tangibly improving the lives of Americans. And yet, I can’t help but think that Biden has been short-changed in how his first year has been framed by the mainstream media, which has largely been guided by the playbook of politics-as-usual. (Kurt Bardella, LA Times)

Mich nervt diese Debatte ungeheuer, weil sie so dämlich ist. Es war nicht "supposed to be an FDR sized presidency". Wie die LA Times oder auch dieser Artikel im Atlantic hinreichend deutlich macht, ist das eine völlige Überreaktion auf die unerwartete Mehrheit im Senat, die die Democrats quasi als verspätetes Weihnachtsgeschenk bekamen. Es gibt keine politische Mehrheit für einen New Deal. FDR segelte mit riesigen Mehrheiten in beiden Kammern des Kongresses ins Amt, die er noch ausbaute. Dasselbe gilt übrigens für Lyndon Johnson, den anderen innenpolitischen Säulenheiligen umfassender Reformen. Mit überwältigenden Mehrheiten kann ich halt auch mehr erreichen als mit einer, die auf der Vizepräsidentin als Gleichstandsbrecherin basiert und in der Manchin und Siema die entscheidenden Stimmen sind. Dieses journalistische Genre, erst völlig überzogene Erwartungen aufzubauen und dann genau das Nichteintreffen dieser Erwartungen zu bejammern - erst hoch- und dann runterschreiben - ist so eine Katastrophe. Das kann man gerne den Aktivist*innen der jeweiligen Seite überlassen, die das wahrlich in erschöpfendem Maße betreiben.

7) Kipppunkt erreicht?

Und dann sagt in einer Einstellung eine Frau, die auf einer Demonstration mitmarschiert, etwas ganz Zentrales: "Das hat mit Corona hier schon lange nichts mehr zu tun, schon lange nicht mehr." Die "Zeit der Aufklärung" sei das Jahr 2020 gewesen. 2021 sei des "Jahr des Widerstands" gewesen. "Und dieses Jahr wird’s kippen", sagt sie. Die Berichterstattung wird sich möglicherweise schon bald vom Narrativ der Corona-Demonstrationen verabschieden müssen. Der Widerstand gegen die Regeln ist in vielen Fällen das Tor, das ohne große Barrieren den Eintritt in eine Protestbewegung ebnet, in der es vielen längst um etwas Größeres geht als die Impf- oder Maskenpflicht, nämlich um den Kampf gegen ein demokratisches System, das Entscheidungen möglich macht, die den eigenen Überzeugungen widersprechen. Das Verständnis von Demokratie ähnelt hier dem von der DDR-Regierung gepflegten, die ihre Diktatur ja fälschlicherweise auch Demokratie nannte. Immer öfter kommt es zu Gewalt. Und das verändere die Berichterstattung, hat Ole Kracht von Katapult MV beobachtet. Er sagt: "Für mich entsteht da ein Machtvakuum, auf der Straße, bei Veranstaltungen." Er wisse, dass Texte nicht mehr so geschrieben werden, wie sie geschrieben werden müssten, weil die Menschen, die schreiben, in Kleinstädten leben und sich vor den Folgen fürchten. "Wenn da jemand weiß, dass du Redakteur bist oder Journalist, und deinen Text liest, ist es nicht schwer, bei dir zu Hause mal vorbeizuschauen." Amelia Wischnewski, die Autorin des Beitrags, berichtet, sie stoße immer öfter auf freie Journalistinnen oder Journalisten, die ihre Berichterstattung einstellen. (Ralf Heimann, MDR; Hervorhebungen im Original)

Dass es bei dieser Kritik nicht (nur) um Corona und die Maßnahmen geht, sollte eigentlich unstrittig sein. Das Meme vom "Widerstand" drückt vielmehr einen allgemeinen Vertrauensverlust aus, sowohl in den Staat als auch in "die Medien", wer auch immer damit dann konkret gemeint sein sollte (die meisten haben dann ja doch irgendein Lieblingsmedium, dem sie vertrauen; ausschließlich in verschwörungstheoretischen Kreisen und Telegram unterwegs ist ja nur eine kleine Minderheit). Was man dagegen tun kann, ist mir allerdings auch nicht wirklich klar.

Völlig klar ist dagegen, was man gegen die zunehmende Gefährlichkeit der Bewegung, ihre Radikalisierung und das Abgleiten in den Terror machen sollte. Das ist ein polizeiliches Problem. Man muss ja echt nicht warten, bis das Ding von Randale und einzelnen Akten des "Widerstands" zu echtem Terrorismus gegen die echten und scheinbarenden Vertretenden des "Schweinesystems" geht; da hat man in der Geschichte der RAF genauso Anhaltspunkte wie bei der Entwicklung von NSU und Co.

8) Historiker Wagner kritisiert Art der Aufarbeitung der NS-Zeit

Eine offensichtliche Abwehrreaktion ist ja die Verdrängung. Fast 29 Prozent der Deutschen sind nach einer Studie des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni Bielefeld aus dem Jahr 2019 der Meinung, ihre Vorfahren seien im Widerstand gewesen und hätten Opfern geholfen. Tatsächlich lag dieser Anteil bei unter einem Prozent. Was ist gegen derartige Verdrängung schmerzhafter Tatsachen zu tun?

Jens-Christian Wagner: Die heutige Erinnerungskultur hat sich viel zu lange darauf beschränkt zu trauern. Auch wenn es richtig ist, um die Opfer zu trauern, fehlt das Nachdenken darüber, warum diese Menschen überhaupt zu Opfern geworden sind. Das wiederum heißt, nachzufragen, warum viele mitgemacht haben, und zwar nur in den wenigsten Fällen auf Befehl. Das Regime hat diesen Menschen nämlich Integrationsangebote gemacht, die bereitwillig angenommen wurden. Das emotionale Angebot, dazuzugehören zum Beispiel, dieses Wechselspiel zwischen „Die“ und „Wir“. Oder Kriminalisierungsdiskurse: Man erzählte, dass KZ-Häftlinge gefährliche Verbrecher seien. Oder Verheißungen der Ungleichheit: Den Deutschen wurde erzählt, es gehe ihnen besser, wenn es anderen, etwa den Juden oder den Zwangsarbeitern, schlechter geht. Das hatte subjektive Aufstiegserfahrungen zur Folge. Die Arbeiter, die vorher in der Hierarchie ganz unten standen, hatten in den Zwangsarbeitern plötzlich jemanden, der noch weiter unten stand. Rassismus, Antisemitismus und autoritäres Denken spielte bei all dem auch eine Rolle.

Mitunter wird die Einrichtung von Gedenkorten sogar bekämpft. Auf dem Bückeberg bei Hameln, wo einst die Reichserntedankfeste stattfanden, ist ein „Dokumentations- und Lernort“ entstanden, der vor Ort auf massiven Widerstand traf. Woran liegt diese Aversion?

Jens-Christian Wagner: Bei der Einrichtung dieses Orts auf dem Bückeberg war ich als Leiter der niedersächsischen Gedenkstättenstiftung beteiligt, und habe in der ganzen Zeit meiner Arbeit für Gedenkstätten noch nie so eine aggressive Anti-Stimmung erlebt. Ich glaube, wenn es am Bückeberg ein KZ gegeben hätte und man hätte dort eine Gedenkstätte für das KZ eingerichtet, hätte es weniger Protest gegeben. Und zwar genau aus dem Grund, dass da die Täterschaft externalisiert werden kann auf die böse SS, die angeblich mit den normalen Menschen nichts zu tun hatte. Das meine ich mit „Trauern ohne Nachdenken“ und ohne die Frage zu stellen, warum es überhaupt zu diesen Verbrechen kam. Denn wenn man sich diese Frage stellt, muss man sich mit der deutschen Gesellschaft auseinandersetzen. Und genau das wird am Bückeberg getan, wo die Massen ihrem Führer freudetaumelnd zugejubelt haben. (Nils Sandrisser, Migazin)

Ich teile sie Sorgen Wagners völlig. Zu guten Teilen dafür mitverantwortlich ist diese auch von ihm erwähnte scheiß Widerstandsgeschichte, über die ich ja auch geschrieben habe. Die Deutschen geben sich permanent der kollektiven Fantasie hin, dass man selbst im Widerstand gewesen wäre, und verklären die Nazis zu Comic-Bösewichten. Das ist eine Falle, in die etwa auch das neueste ZDF-Kammerspiel "Die Wannseekonferenz" fällt: Anstatt gerade die "Banalität des Bösen" zu betonen, um das ausgelutschte Arendt-Zitat mal wieder hervorzukramen, finden wir overacting und cartoonhafte Nazi-Bösewichte, mit denen zu identifizieren sich praktisch ausgeschlossen ist. Man wendet sich in wohligem Grusel ab, sicher im Bewusstsein, dass man selbst das niemals könnte und dass es sich auch nicht wiederholen kann. Aber genau das ist der Irrtum dahinter.

9) What can Joe Biden do to help the Black community more?

General safety net programs are aimed not at racial minorities, but at low-income workers. However, the reality is that they help three times more Black families than white families. That's a real difference. I have long supported class-based rather than race-based affirmative action. This is not because class-based affirmative action is just as good. It isn't. But it's close, and it has enormous benefits. First, it's entirely legal. Second, it has much greater public support. And third, it's politically superior because it brings together lots of constituencies who can help get things passed. None of this means the end of programs aimed at specific nonwhite groups. Native Americans will continue to have specific issues based on treaty rights. Hispanic groups will watch immigration policies carefully. The Black community will continue to be disproportionately affected by voter suppression laws. And then there's the biggest racial issue of all: education. As regular readers know, I consider this to be the most potent form of racial discrimination in America today. It's primarily a local issue, which means Joe Biden has a limited scope to deal with it, but there's nothing else that comes close to the damage it does. Until we decide to educate Black kids as well as we educate white kids, we will never make more than halting and modest improvements in racial oppression. (Kevin Drum, Jabberwocky)

Ich gebe Drum Recht, was die politische Seite dieser Maßnahmen angeht. Es ist wesentlich leichter, allgemeine Maßnahmen für ärmere Menschen aufzulegen, als spezifisch Programme für die schwarze Minderheit zu erschaffen. Das ist generell etwas, das die politische Linke tun sollte: lieber allgemeine Programme, die auch oder sogar vordringlich der erwünschten diskriminierten Minderheit helfen, als zu zielgesteuerte Partikularpolitik.

Ich würde allerdings hinzufügen, dass Maßnahmen für arme Menschen politisch ebenfalls noch eine große Herausforderung sind. Arme Menschen wählen im Schnitt wesentlich seltener, und die Bereitschaft der Mittelschichten, sozialstaatliche Maßnahmen für diejenigen, die sie eigentlich bräuchten, zu finanzieren, ist eher gering, weswegen ja auch so viel Sozialstaat im Endeffekt ein Programm von der Mittelschicht für die Mittelschicht ist und so wenig dazu leistet, gesellschaftliche Ungleichheit zu reduzieren und Armut zu beseitigen.

10) The fantasy of a Trump-slaying Republican

The only significant thing that has changed since Trump left office is that he's succeeded in convincing an overwhelming majority of his party's voters to embrace the Big Lie about the 2020 election. (Recent polls show something like 71 percent of Republicans think the 2020 election was "definitely not" or "probably not" legitimate.) This development, though civically appalling and extremely dangerous, will actually help Trump immeasurably in the 2024 primaries. To see why, let's imagine how the early stages of the contest would unfold. Trump, DeSantis, Pence, and the others are standing together on a debate stage in the fall of 2023. The moderator opens by addressing DeSantis: Donald Trump says the 2020 election was stolen from him and that Joe Biden is an illegitimate president. Do you agree? What exactly is DeSantis supposed to say in response? One option would be to answer truthfully — which is to say, in the negative: No, the election wasn't stolen, and Biden won fair and square. But this would automatically place DeSantis on the opposite side of that 71 percent of Republicans and open him up to an onslaught of abuse from Trump himself. DeSantis would be labeled a cuck and a weakling who refuses to fight and would let the Democrats get away with murder from Day One of a DeSantis administration. If, instead, DeSantis offered a tepid endorsement of the election fraud conspiracy, voters will be left to wonder why they should favor that second-best alternative over the man who was personally stabbed in the back and craves vengeance for himself and his party. (Ryan Cooper, The Week)

Die Aussichten sind echt extrem düster, was 2022 und 2024 angeht. Die Republicans marschieren immer weiter auf dem Marsch zur autokratischen Partei, die auf Lügen basiert. Dass diese Lügen überhaupt solche Beharrungskraft haben, liegt an der abgeschlossenen Blase des US-Mediensystems. Dank FOX News, OAN und Co werden diese Lügen als Realität in die Wohnzimmer von fast 40% der Amerikaner*innen gepumpt. Ich bin immer mehr der Überzeugung, dass dieses Fehlen eines solchen Mediensystems in Deutschland das Einzige ist, dass uns von demselben Weg abhält. Was wiederum zu der Debatte von letzter Woche zurückführt: egal, wie unzureichend man unser System findet, gegen dieses Geschmeiß muss man es verteidigen, weil das die Konsequenz ist, wenn die ihren Willen kriegen.

11) Deutsche Irrtümer

Ich habe diese Entspannungspolitik hier kurz skizziert, weil sie in letzter Zeit von SPD-Politikern immer wieder als Begründung für die politische Zurückhaltung vorgebracht wird, wenn es um das aktuelle russische Drohszenario gegen die Ukraine geht. Doch diese Entspannungspolitik in den 1970er-Jahren hat nichts mit der Gegenwart zu tun. Gar nichts. Vor fünfzig Jahren ging es darum, in einer Zeit hochgerüsteter Militärbündnisse eine direkte Konfrontation mitten in Europa durch Abrüstung und diplomatische Gespräche zu verhindern und den Menschen im Osten wenigstens die Hoffnung auf Erleichterungen hinter dem „Eisernen Vorhang“ zu geben. Der Begriff „Entspannungspolitik“ wird zur Zeit als Blendwerk eingesetzt, um die distanzierte Haltung Deutschlands als Fortsetzung einer Tradition erfolgreicher und ehrbarer Politik sozialdemokratischer Kanzler wie Willy Brandt und Helmut Schmidt zu erklären. Wirklich: Nichts könnte irrealer sein. Und wenn es darauf angekommen wäre, hätte die Entspannungspolitik damals ein zweites „Prag“, also einen Einmarsch von Staaten des Warschauer Pakts in einen westwärts strebenden Staat Osteuropas, nicht verhindern können. Wieso die SPD also für ein Mittel wirbt, dass in der jetzigen Situation untauglich ist, wird ihr Geheimnis bleiben. [...] Womit wir wieder bei den schon erwähnten Großmeistern deutscher Irrtümer sind: der Linken. Nach ihrem Verständnis befindet sich Russland in einem Verteidigungskampf gegen die NATO. Wie diese Behauptung mit den Fakten einer geschwächten NATO zusammenzubringen sind, bleibt auf ewig schleierhaft. Aber die deutschen Linken bleiben trotzdem die treuesten Vasallen Russlands, als hingen in ihren Büros noch immer die Kalender aus dem Jahre 1983, das Magazin Sowjetunion heute läge noch aus und der Verlag Pahl-Rugenstein existierte noch. Dabei ist Russland nun alles andere als die Hoffnung der internationalen Arbeiterklasse. Aber Identitäten sind halt sehr starr. Man legt sie sich ja zu, um sich nicht verändern zu müssen. Und damit kennt sich die Linke sehr gut aus. Vor allem ihr gemeinsamer Antiamerikanismus ist unverbrüchlich, dicht gefolgt von der Abneigung gegen den Westen, seine liberalen Demokratien und den Kapitalismus. (Bernd Rheinberg, Salonkolumnisten)

Ich habe in meinem Artikel zu den Ursprüngen des Anti-Amerikanismus bereits vor mittlerweile zehn Jahren darauf hingewiesen, dass diese Strömung in Deutschland sehr stark verankert ist - übrigens rechts wie links. Im Großteil der bundesrepublikanischen Geschichte war er aber vor allem links relevant, weil die Westbindung als Staatsräson die Rechte disziplinierte; wir sehen aber an der AfD, dass mit dem Wegfall dieser Staatsräson der rechte Anti-Amerikanismus auch fröhliche Urständ feiert. War nie wirklich weg, hat sich nur versteckt.

Aber zurück zu den Linken, die die viel schlimmeren Täter*innen auf diesem Feld sind. Für die Begründung empfehle ich die Lektüre meines alten Artikels, ich will an der Stelle nur kurz Rheinberg unterstützen, der auf die "Entspannungs-" beziehungsweise "Ostpolitik" als Leitstern der SPD verweist (die wiederum aktuell das größte außenpolitische Problem darstellt; die LINKE ist ja eh völlig hoffnungslos). Die Nostalgie der SPD für die Ostpolitik entspringt einer völligen Fehlanalyse dessen, aus was diese bestand und wie sie funktionierte (das erfordert glaube ich aber einen eigenen Artikel), und diese Fehlanalyse wird dann auf das heutige Russland angewendet, mit den bekannten Folgen. Echt ein Trauerspiel.

Freitag, 28. Januar 2022

Die Legende von der NATO-Osterweiterung

 

Warum führt Putin seit Jahren eine aggressive, expansionistische Außenpolitik gegen die westliche Welt? Für viele Putinverstehende ist die Antwort klar: wegen der NATO-Osterweiterung. Die beliebte Geschichte, die vom Kreml nach Kräften gefördert wird, geht in etwa so: 1990 versprachen die USA der sowjetischen Regierung, die NATO nicht nach Osten zu erweitern, wenn diese der Wiedervereinigung zustimmen würde. Dieses Versprechen wurde in den 1990er Jahren, als Russland im Griff einer Depression und Finanzkrise war, gebrochen. Die NATO rückte im Baltikum und Polen direkt an die russische Grenze vor, das Land ist eingekreist. Betrogen und gefährdet versucht Russland seither, legitime Sicherheitsinteressen durchzusetzen. Klingt gut, ist aber leider eine frei erfundene Legende.

Ihren Ursprung findet sie in den Verhandlungen zur Wiedervereinigung 1990. Die USA waren nicht bereit, ihr Plazet für eine Wiedervereinigung zu geben, das Deutschland aus den Strukturen der NATO löste, was natürlich (analog zu 1952) der Wunsch der Sowjetunion war. Gorbatschow und sein Außenminister Schewardnadse gaben diese Position aber schnell auf. Sie forderten stattdessen, dass das NATO-Bündnisgebiet nicht auf das Gebiet der ehemaligen DDR ausgeweitet werden sollte. Hier liegt die Grundlage des Mythos von "keine Erweiterung der NATO". Nur, das übersieht zwei wichtige Details.

Erstens schaffte es diese Bedingung nicht als dauerhaftes Element in den 2+4-Vertrag, sondern nur als temporäre Regelung bis zum Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen 1994. Bis dahin wurde auch die NVA aufgelöst und in die Strukturen der Bundeswehr überführt, die Vollmitglied des Bündnisses blieb. Allerdings sind weiterhin keine alliierten Truppen in Ostdeutschland stationiert, so dass zumindest ein Teil des Geists dieser ursprünglichen Idee sich gehalten hat (wer sich weiter dafür interessiert: ein Paper zu Gorbatschows Dilemmata).

Zum Zeitpunkt dieser Verhandlungen war es allerdings überhaupt keine Frage, ob die NATO nach Osten expandieren würde, weil die dortigen Länder noch im existierenden Warschauer Pakt waren. Als der 2+4-Vertrag abgeschlossen wurde, existierte die UdSSR noch, und viele osteuropäische Länder waren zumindest formal weiter Teil des Pakts. Erklärtes Ziel der sowjetischen Außenpolitik war damals die Schaffung einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur, die NATO und Warschauer Pakt ersetzen würde. Gorbatschows Erwartung war, dass etwas in diese Richtung passieren würde. Für Abkommen über eine Osterweiterung gab es also gar keinen Grund.

Das alles änderte sich aber rapide. Nicht nur zerfiel die Sowjetunion und wurde im Dezember 1991 offiziell aufgelöst. Auch die Reformkommunisten wurden in praktisch allen Ostblockstaaten aus dem Amt gespült und durch westlich orientierte Regierungen ersetzt. Diese demokratisch gewählten Regierungen verfolgten zwei Ziele: die schnelle Aufnahme in die EU und die Aufnahme in die NATO - in dieser Reihenfolge. Da aber die EU in der (korrekten) Erwartung, sich damit schwere wirtschaftliche Verwerfungen ins Haus zu holen (Stichwörter Lohngefälle, Strukturförderung) die EU-Beitritte verzögerte, wo sie nur konnte, ergriffen die Osteuropäer die Chance, der NATO beizutreten.

Für die osteuropäischen Staaten ging dieses Kalkül auf. Anstatt die gewünschte Absicherung direkt über die EU zu bekommen, erhielten sie militärische Garantien in Form der NATO. Die Mitgliedschaft im Bündnis ihrerseits erzeugte neuen Druck für die Aufnahme in die EU, wo der Beitritt 2004 dann auch mit fünf Jahren Verzug erfolgte.

Wer Quellen aus dieser Zeit sucht, in denen ein impotentes Russland zornerfüllte Beschwerden gegen den Westen richtet, wird vergeblich suchen. Auch wenn das von Putin heute geleugnet wird - eine Leugnung, die allzuviele seiner Verteidiger*innen nur zu bereitwillig aufnehmen - so erfolgte die NATO-Osterweiterung nicht gegen, sondern mit Russland. 1994 trat Russland dem "Partnership for Peace"-Programm der NATO bei. In jenen Jahren wurde sogar über eine (mittelfristige) Aufnahme Russlands in die NATO diskutiert.

Entscheidend aber, und von Putin und seinen Fans stets ignoriert, ist die NATO-Russland-Akte von 1997. In dieser einigen sich die Vertragspartner unter anderem auf "Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen, Unversehrtheit aller Staaten sowie ihres naturgegebenen Rechtes, die Mittel zur Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit sowie der Unverletzlichkeit von Grenzen und des Selbstbestimmungsrechts der Völker selbst zu wählen“. Das bedeutet explizit: Beitritt zu Bündnissen. Was die NATO-Russland-Akte nicht festlegt, sind Interessenssphären, innerhalb derer es den Staaten, deren Souveränität in diesem Vertrag ausdrücklich bekräftigt wird, verboten sein soll, genau diese hier explizit garantierten Freiheiten wahrzunehmen.

Russland befindet sich mit seiner Politik gegenüber der Ukraine (und Georgien und so weiter) in einem klaren Bruch mit völkerrechtlichen Verträgen. Das erstreckt sich übrigens auch auf die alt-ehrwürdige KSZE-Schlussakte von 1975, in der die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa ebenfalls festgeschrieben wird, eine Regelung, gegen die Russland auch verstößt. Wenn also irgendwer in Deutschland mit dem Völkerrecht argumentiert, um Putin zu verteidigen - keine Chance. Und nein, der Verstoß der NATO gegen selbiges Völkerrecht 1999 im Kosovo-Krieg rechtfertigt nicht einen eigenen Verstoß Russlands. So funktioniert Recht nicht.

Tatsächlich ist auch der "Russland wurde über den Tisch gezogen" oder "die Schwäche Russlands wurde erbarmungslos ausgenutzt" oder Ähnliches kein Argument. Denn Russland hat auch unter Putin immerhin sieben Jahre lang kein Problem mit der NATO-Osterweiterung gehabt. Sie war früher schlicht nie Thema. Das Gegenteil ist der Fall. Früher wollte Putin selbst engere Bindungen Russlands zur NATO! Russlands Außenpolitik hat sich 2007/2008 nur radikal gedreht. Bereits zuvor hat er sich, nachdem Russland noch nach 9/11 sicherheitspolitisch mit den USA zusammengearbeitet hatte (Putin versprach Bush seinerzeit vollständige Unterstützung im Kampf gegen den Terror!), ein Richtungswechsel angedeutet.

Wie bei so vielem sind die entscheidendenden Punkte in der verdrängten Dekade zu finden, etwa der Irakkrieg und die orangene Revolution in der Ukraine, aber genauso die sich verändernden russischen Sicherheitsinteressen. Ändernde Sicherheitsinteressen und Schwenks in der Außenpolitik sind sicherlich legitim. Aber es gibt keinen Grund, warum wir Putin dabei helfen sollten, diesen Schwenk nachzuvollziehen und andere Länder anzugreifen.

Donnerstag, 27. Januar 2022

Rezension: Aus Politik und Zeitgeschichte - Fleisch

 

Aus Politik und Zeitgeschichte - Fleisch

Zu den wohl triggerndsten Themen des Dauerkulturkampfs unserer Tage gehört die Frage des Fleischkonsums. An wenigen Orten sind solch vorhersagbare Reflexe am Werk wie in der Frage, ob das Steak zur (deutschen) Leitkultur gehört. In der kürzlich erschienenen (und wie üblich kostenlos beziehbaren) "Aus Politik und Zeitgeschichte" wird der Versuch unternommen, den ganzen Themenkomplex "Fleisch" von mehreren Seiten und so sachlich wie möglich anzugehen. Schauen wir, ob das den Autor*innen der insgesamt sechs hier versammelten Essays gelungen ist.

Mittwoch, 26. Januar 2022

Der Sturm im Wasserglas

 

Wenn es in Deutschland ein Thema gibt, das zuverlässig öffentlichen Diskurs auslöst, dann ist das das wissenschaftliche Niveau von Büchern und Doktorarbeiten prominenter Personen. Es ist eine merkwürdige deutsche Eigenheit, und der aktuelle Sturm im Wasserglas zu diesem Thema wurde vom Chef des jüngst vom Springer-Verlag übernommenen Politico Europe, Matt Karnitschig, ausgelöst, als er einen Twitter-Thread über das neue Buch "Amerikas Gotteskrieger" von Annika Brockschmidt veröffentlichte, das gerade etwas überraschend die Bestsellerlisten stürmt. Die Journalistin Annika Brockschmidt hat in den letzten Monaten größere Bekanntheit erreicht, seit sie in Talkshows als Expertin für die amerikanische Rechte eingeladen wird. Brockschmidt ist freie Journalistin und twittert unter ihrem Handle @ArdentHistorian und besitzt einen erfolgreichen Patreon, wo geneigte Unterstützer*innen neben Analysen der politischen Lage in den USA diverse Neuigkeiten zu Brockschmidt geliebtem Hund erfahren können. Innerhalb weniger Stunden explodierte Karnitschigs Thread in eine die üblichen Verdächtigen des deutschen Feuilletons umfassende Monsterdebatte, die in ihrem Umfang und ihrer Schärfe geradezu grotesk wirkt.

Die Kritik hängt sich an der Frage auf, ob Brockschmidt für ihr Buch, das sie zwischen 2020 und 2021 schrieb, die USA bereist und Recherchen vor Ort angestellt habe. Karnitschigs Kritik, der sich schnell ein Chor weiterer Kritiker*innen aus dem eher konservativen Spektrum der deutschen Medienlandschaft anschloss, war die, dass Brockschmidt genau das nicht getan hatte und damit das Buch keine Legitimation besäße. Innerhalb kürzester Zeit drehte diese Debatte auf eine geradezu absurde Weise hohl und provozierte scharfe Gegenreaktionen der eher progressiven Seite des Spektrums (meines Wissens nach hat die Debatte die Twitter-Bubble nie wirklich verlassen, aber für ein paar Tage ging es hoch her).

Der Tonfall war dabei von Anfang an extrem scharf. Karnitschigs Ursprungskritik endete mit einem Vergleich zu Relotius, jenem diskreditierten ehemaligen Spiegel-Journalisten, der damit aufflog, komplette Geschichten erfunden und existierenden Menschen irgendwelche fabrizierten Anekdoten unterschoben zu haben (so hatte er etwa den Bürgermeister einer Kleinstadt interviewt, der in seinem Feature stets eine geladene Waffe bei sich trug, während selbiger Bürgermeister in der Realität nie eine Waffe besessen habe). Der Vergleich endete dabei absurderweise damit, dass Brockschmidt schlimmer als Relotius sei. (Karnitschig hat diesen Tweet mittlerweile gelöscht und sich entschuldigt.

Worauf Karnitschig eigentlich hinauswollte (zumindest laut seiner Entschuldigung) ist, dass Brockschmidts Buch anti-amerikanisch sei - genauso wie Relotius. Wesentlich verbessert werden Karnitschigs Anwürfe dadurch nicht. Relotius fabrizierte zwar eine Fantasie-Version des konservativen Amerika, die man außerhalb von God's Own Country nur zu gerne liest (rassistische Waffennarren ohne Bildung und Niveau), aber das als "anti-amerikanisch" zu sehen ist eine eigenwillige Interpretation, die der Selbstdarstellung der amerikanischen Konservativen als "true Americans" Vorschub leistet und nichts als eine politische Verleumdung ist.

Dasselbe gilt für Brockschmidts Buch. Eine kritische Auseinandersetzung mit den radikalen Evangelikalen ist nicht "anti-amerikanisch", genauso wenig wie eine kritische Auseinandersetzung mit den Grünen "anti-deutsch" wäre. Das offenbart mehr über den Blickwinkel der Kritiker*innen als über Brockschmidts Buch.

Auffällig an dieser ganzen Debatte ist auch, dass keinerlei Kritik auf inhaltlicher Ebene vorgebracht wird (was den Relotius-Vergleich umso absurder macht); inhaltlich konnten ihr keine Fehler irgendwelcher Art nachgewiesen werden. Die Kritik kapriziert sich stattdessen auf die Frage, ob Brockschmidt vor Ort war. Und das ist die nächste Absurdität dieser Debatte.

Um über die Entwicklung der Evangelikalen zu schreiben, muss ich nicht irgendwelche Kleinstädte in Kansas besuchen. Der Schlüssel zur Analyse der Politik dieser Richtung der letzten fünf Jahrzehnte findet sich nicht in einem Diner in Georgia. Diese Art von Journalismus ist zwar das tägliche Brot einer ganzen Subindustrie der Branche, aber sie verdeckt mehr, als dass sie erhellt. Der so genannte "Diner-Journalismus", benannt nach dem Klischee, sich in einen Kleinstadt-Diner zu setzen und dort irgendwelche Leute als "Stimme des wahren Amerika" zu interviewen, bringt zwar regelmäßig dieselbe Schlagzeile (Trump-Fans sind immer noch Trump-Fans), aber dasselbe Resultat würde man erreichen, wenn man in Oberlin Studierende interviewt (Progressive sind immer noch Progressive). Das wird natürlich nie gemacht, weil der Diner-Journalismus dem Narrativ der "true Americans" Vorschub leistet, wie bereits bemerkt.

Generell ist die Idee von Augenzeug*innenberichten völlig überbewertet. Mela Eckenfels hat für Interessierte in einem geradezu epischen Thread besser als ich es könnte dargestellt, warum das so ist, deswegen nur die Kurzversion. Nur, weil ich irgendwo lebe oder Augenzeuge eines Ereignisses bin, macht mich dies nicht zum Experten für diese Gegend oder dieses Ereignis. Ich lebe beispielsweise im Schwabenland, was mich aber für das christlich-konservative Milieu jener Gegend nicht gerade zum Experten adelt. Ich weiß über diese Leute fast nichts und habe wenig Berührungspunkte. Umgekehrt kann ich auch wenig über progressivere Milieus dieser Umgegend sagen, wie mir zuletzt peinlich gewahr wurde, als ich im Podcast die verwegene Behauptung aufgestellt habe, hier werde weniger demonstriert als in Berlin, um mich von einem Freund, der regelmäßiger in Stuttgart ist als ich (ich hasse diesen urbanen Talkessel...) eines Besseren belehren zu lassen. Örtliche Nähe ist ein trügerisches Zeichen für Expertentum, und dasselbe gilt für Zeugenschaft.

Menschen können immer nur Aufschluss über sich selbst geben. Das kann spannend sein, wenn etwa Interviews geführt und verglichen werden (durchaus ein anerkanntes und wichtiges Subgenre der Geschichtswissenschaft, das ich als Oral History hier ja auch ein wenig betreibe), aber es ist eben nur ein Subgenre, dessen Chancen und Gefahren man sich bewusst sein muss, wenn man es angeht. Die Idee, dass Gespräche mit Betroffenen oder auch nur zufällig Anwesenden grundsätzlich einen Erkenntnisgewinn bedeuteten, ist auf jeden Fall Quatsch. Es ist ein gutes journalistisches Mittel, weil es das "menschliche Element" in trockene Themen bringt. Aber es ist eine narrative, keine wissenschaftlich relevante Bedeutung. Ich zitiere da meinen alten Professor: "Der Zeitzeuge ist der natürliche Feind des Historikers."

Umgekehrt gibt es genug Leute, die direkt vor Ort sind, aber nichts davon verstehen. In den USA ist der Begriff des "Beltway-Journalismus" feststehend, der im Deutschen seine Entsprechung im "Hauptstadtjournalismus" oder "Raumschiff Berlin" hat. Nur, weil man vor Ort ist, gewinnt man nicht magisch Verständnis für die Verhältnisse vor Ort, oder nimmt gar durch Osmose den historischen Hintergrund auf. Leider ist dagegen häufig der Fall, dass die Anwesenheit vor Ort vor allem einer Hybris Bahn bricht, plötzlich zu allem mit großer Sicherheit etwas sagen zu können, nur weil man einen LKW-Fahrer im Diner interviewt hat.

Wäre die Geschichte damit beendet, so könnte man die Episode als merkwürdige Überreaktion des konservativeren Establishments deuten und die jeweils eigene Lieblingserklärung drüberstülpen. Allein, damit endet die Geschichte nicht. Denn auch etwas überraschend hat sich für Brockschmidt eine massive Gegenformation gebildet, die sie mit einer Emphase verteidigt, die ebenfalls weit über die Rolle und Bedeutung des Buchs hinausgeht. Wer bisher dachte, das Buch wird als Proxy für eine größere Debatte verwendet - spätestens hier kann man sich dieses Eindrucks eigentlich nicht mehr erwehren, denn so absurd die Anwürfe gegen Brockschmidt waren, so absurd sind oftmals die Verteidigungsreden, die für sie geschwungen werden.

Brockschmidt selbst schwieg anfangs völlig und gab dann nur zu Protokoll, die USA schon mehrfach besucht zu haben, aber 2020/21 wegen der Pandemie keine Möglichkeit gehabt zu haben. Das macht eine Menge Sinn und beantwortet im engsten Sinne die ursprüngliche Kritik Karnitschigs. Nur, wir haben ja bereits festgestellt dass es darum eigentlich nicht wirklich geht. Und auch den Verteidiger*innen geht es darum nicht zentral.

Innerhalb kürzester Zeit bildeten sich drei Hauptverteidigungslinien heraus: Brockschmidt arbeite nicht als Journalistin, sondern als Historikerin; sie betreibe daher Quellenarbeit und keine Interviews; und sie werde aus ideologischen Gründen attackiert. Schauen wir uns alle drei an.

Argument Nummer 1, Brockschmidt arbeite nicht als Journalistin, sondern als Historikerin, und sei deswegen von ihrem Gegenstand entfernt ist, mit Verlaub, Unfug. Denn das Buch triggert die Konservativen ja unter anderem deswegen, weil es schon ein ganz klein bisschen (Litotes) tendenziös ist. Es ist ja jetzt nicht so, als wäre Brockschmidt angetreten, eine ergebnisoffene Untersuchung des evangelikalen Milieus zu schreiben. Schon der Titel ist klar Programm. Bei "Amerikas Gotteskrieger" erwarte ich nicht gerade eine historische Abhandlung. Die sachliche Distanz der Historiker*innenzunft zum Gegenstand - sine ira et studio - erwarte ich bei so einem Werk sicher nicht. So zu tun, als würde hier quasi ein Angriff auf die Wissenschaft stattfinden (was zwar nicht explizit gesagt aber impliziert wird) leistet der Wissenschaft einen Bärsendienst, gerade angesichts der Dauerattacke, in der sie sich in der Pandemie und durch die rechte Cancel Culture befindet.

Argument Nummer 2, Brockschmidt würde hier mit Quellen arbeiten, weil es sich um ein historisches Thema handelt, und deswegen mehr oder weniger Archivarbeit betreiben, lasse ich problemlos gelten. Ich habe oben im Detail ausgeführt, warum dieses "Gotcha"-Argument von wegen "warst du persönlich vor Ort" Blödsinn ist.

Argument Nummer 3 ist die Attacke aus ideologischen Gründen - gegen Progressive, gegen Frauen, für Rechtsextremismus, was auch immer das jeweilige Steckenpferd ist. Ist in den Attacken vielleicht ein bisschen Mysogynie gegen "Emporkömmlinge"? Bestimmt. Fühlen sich Konservative durch den Generalangriff auf radikale Evangelikale auch bedroht, weil ja Brockschmidt nun nicht eben eine glühende Verteidigung gemäßigten Christentums schreibt? Sicherlich. Aber letztlich ist das alles Hintergrundrauschen und zur Erklärung unnötig.

Der relevante Teil ist: Brockschmidt ist keine unabhängige Beobachterin. Sie arbeitet eng mit Natascha Strobl zusammen, die auch ein rotes Tuch für alles ist, was konservativ denkt. Sie ist, um es in ein Modewort zu packen, woke. Und zwar ziemlich.

Das ist auch völlig legitim. Ich stimme Brockschmidt in fast allem, was sie schreibt, auch zu. Was übrigens der Grund ist, warum ich ihr Buch bisher nicht gelesen habe und ihren Patreon auch nicht unterstütze; ich habe nicht das Gefühl, dort Dinge zu lesen, die mehr mit mir machen als mit dem Kopf zu nicken. Das habe ich übrigens mit den meisten Kritiker*innen gemein. Ich habe jedenfalls nicht das Gefühl, dass Karnitschig und Konsorten das Buch gelesen oder sich mit Brockschmidts Arbeit beschäftigt haben; für die endete es beim Schwenken des roten Tuchs, wo die woke Journalistin über die USA schreibt, und das muss ja scheiße sein. Die Begründung dafür kommt von diesem Endergebnis her, und so qualitativ brauchbar war sie dann auch. Bedauerlicherweise machten die Verteidiger*innen Brockschmidts überwiegend denselben Fehler. Und so summiert sich der ganze Kram zu nicht viel mehr als einem Sturm im Wasserglas, der die jeweilige Bubble in Verteidigungshaltung und Selbstbestätigung bringt. Oder auch: another day on the internet.

Dienstag, 25. Januar 2022

Kontrafaktische Geschichte: Die Annahme der Stalinnote 1952

 

Der Historiker Oliver Haardt hat auf Twitter die spannende Frage nach einem kontrafaktischen Geschichtsszenario gestellt, in dem das Angebot Stalins zur Wiedervereinigung Deutschlands 1952 angenommen worden wäre:


Bevor wir uns in die eigentliche Fragestellung vertiefen, kurz etwas Kontext zur sogenannten "Stalinnote".

1952 sandte Stalin ohne diplomatische Vorarbeit und für alle Beteiligten überraschend eine Note an die Westalliierten und die BRD, die den Abschluss eines Friedensvertrags und die Wiedervereinigung der getrennten Landesteile vorschlug. Viele Politiker vermuteten damals dahinter eine Falle, und weder in Bonn noch in Washington, Paris oder London wurde der Vorschlag ernsthaft in Erwägung erzogen. Die Ablehnung kam recht schnell; in Deutschland forderte die oppositionelle SPD zwar eine "ernsthafte Prüfung" des Vorschlags, war aber auch sehr skeptisch und war nicht bereit, sich vorbehaltlos dahinterzustellen. Die Proteste gegen die Ablehnung blieben denn auch vergleichsweise verhalten.

Die Gründe für die Ablehnung waren zweifacher Natur. Einerseits war unklar, ob es sich überhaupt um einen ernstgemeinten Vorschlag oder nicht viel eher eine diplomatische Falle Stalins zur Spaltung des Westens handelte. Andererseits aber steckten Befürchtungen dahinter, nach denen ein wiedervereinigtes Deutschland in die sowjetische Machtsphäre fallen würde. Ersteres ist bis heute nicht völlig entschieden, für unsere Diskussion aber auch irrelevant. Wir wollen für unser heutiges Gedankenexperiment annehmen, dass der Vorschlag 100% ernstgemeint war und 1952/53 durchgeführt worden wäre. Hierfür spielen die damaligen Sorgen eine große Rolle.

Deutschland 1952

Eine Gefahr, der wir für diese Fragestellung entgehen müssen, ist zu sehr von den Ereignissen nach 1952 rückwärts zu denken und eine spätere, verfasstere Position von BRD und DDR rückwärts anzuwenden. Deswegen müssen wir uns kurz klarmachen, wie die Situation 1952 war.

Die innerdeutsche Grenze war noch nicht komplett geschlossen. Zwar hatte die DDR diese 1951 dichtgemacht, aber der Prozess war noch nicht abgeschlossen, und in Berlin war ein Übertritt zwischen den Sektoren noch vergleichsweise einfach möglich. Die Wiedervereinigung war also territorial noch etwas leichter vorstellbar als später, wo ein festungsartiger Todesstreifen die beiden Deutschlands trennte. Kontakte über die Grenze waren noch häufiger.

Innenpolitisch befand sich der Bundestag noch in seiner ersten Legislaturperiode. Adenauer war gerade drei Jahre Kanzler. Ähnliches galt für die DDR, wo Ulbricht formell erst seit 1949 Staatsoberhaupt war (de facto natürlich bereits länger). Die Entnazifizierung war in beiden Teilen de facto abgeschlossen. In der DDR war jedoch das unabhängige Justizwesen bereits fast vollständig zerstört, die Verwaltung und Polizei unter Kontrolle des Parteiapparats gebracht worden.

Außenpolitisch befand sich die BRD zwar bereits in Kurs auf die Westbindung, aber diese war noch nicht so weit fortgeschritten. Die Montanunion war der wohl größte außenpolitische Stolperstein, was bereits abgeschlossene Verträge anbelangte. Wir werden auf dieses Thema wieder zurückkommen. Die größte außenpolitische Debatte zu der Zeit war die Wiederbewaffnung, die damals noch als eine gemeinsame deutsch-französische Armee (unter französischer Führung, versteht sich) diskutiert wurde. Das Hauptthema für die DDR waren die gewaltigen Reparationen, die Stalin aus ihr bezog, und ihre Integration in das Zwangswirtschaftssystem des späteren RGW.

Damit wären wir auch schon beim Wirtschaftlichen. Im Westen war seit 1947 die Marktwirtschaft nach amerikanischem Vorbild eingeführt worden, während der Osten seit 1945/46 unter einer Planwirtschaft im Sowjetstil litt. Die Trennung der beiden deutschen Staaten war auf diesem Gebiet am weitesten vorangeschritten, denn die Sowjets hatten das freie Unternehmertun bereits praktisch zerschlagen, Großgrundbesitzer enteignet, Kombinate gegründet, die DDR auf den irren Pfad zur Schwerindustrie gesetzt und große Teile der bestehenden Substanz geraubt. Von einem Wirtschaftswunder war allerdings auf beiden Seiten der Grenze noch wenig zu spüren; die Arbeitslosigkeit war hoch, die Wohnungssituation furchtbar.

Die Stalinnote

In diese Situation fiel nun die Stalinnote 1952. In ihr schlug die Sowjetunion vor, einen Friedensvertrag mit Deutschland zu schließen. Hierzu war eine gesamtdeutsche Regierung zu bilden. Die Grenzen Deutschlands sollten die durch das Potsdamer Abkommen 1945 festgelegten sein, sprich: die heutigen Grenzen entlang der Oder-Neiße-Linie. Demokratische Rechte sollten garantiert sein (wenngleich keine freie Wahlen), die Besatzungsmächte sollten komplett abziehen, Deutschland ein eigenes Militär bekommen und ein explizites Verbot, sich einem gegen eines der Siegermächte gerichteten Bündnis anzuschließen.

Es ist offensichtlich, was die Zielrichtung der UdSSR war. Die Macht der SED sollte institutionalisiert, die territoriale Nachkriegsordnung festgeschrieben und eine Westbindung verhindert werden. Es gab zu diesem Zeitpunkt nur ein gegen eine Siegermacht gerichtetes Bündnis, die 1949 gegründete NATO (der Warschauer Pakt würde erst 1955 gegründet werden). Deren Gründung war eine unangenehme Überraschung für die UdSSR gewesen, die auf einen Rückzug der USA aus Europa gesetzt hatte, eine Entwicklung, die durch eine Neutralisierung Deutschlands beschleunigt werden sollte.

Die Regierungen der Westmächte antworteten auf die Stalinnote mit eigenen Forderungen: die Wahlen sollten unter Aufsicht einer UN-Kommission stattfinden (und damit frei sein), die Grenzen sollten frei verhandelt werden (da die des Potsdamer Abkommens offiziell provisorisch waren), Deutschland sollte Bündnisfreiheit haben und explizit in eine defensive europäische Bündnisstruktur eingebunden werden, also kein eigenes, unabhängiges Militär besitzen.

In einer zweiten Note forderte Stalin nun ein generelles Bündnisverbot, akzeptierte aber eine von den Siegermächten gebildete Kommission zur Wahlprüfung. Durch die Vetomacht der Sowjetunion hätte ein solcher Kompromiss natürlich bedeutet, dass zumindest auf dem Gebiet der DDR keine freien Wahlen stattgefunden hätten.

In einem dritten Notenaustausch wurde klarer, dass es keine gemeinsame Grundlage gab. Der Westen lehnte Verhandlungen auf der Basis der Potsdamer Beschlüsse ab, die Sowjetunion freie Wahlen. Dies wurde in der vierten und letzten Note noch untermauert, in der die Sowjetunion nun eine internationale Prüfung der Wahlen kategorisch ablehnte und stattdessen eine "paritätische" deutsche Kommission forderte. Wie eine zu 50% von der SED gestellte Wahlkommission ausgesehen hätte, kann man sich vermutlich denken. Die Note war demnach auch die letzte in diesem Austausch.

Die Frage für unser Szenario ist daher, an welchem Punkt wir annehmen, dass die Westmächte Stalins Vorschläge als Verhandlungsgrundlage akzeptiert hätten. Ich gehe im Folgenden von einer durch die Siegermächte gebildeten Wahlkommission und einer Akzeptanz der Oder-Neiße-Linie aus. Andere Szenarien sind wenig vorstellbar, weil sie für die Sowjetunion unannehmbar waren (diese Bedingungen waren zwar für die Westmächte unannehmbar, aber für das Szenario akzeptieren sie sie).

Deutschland 1953

Wie also würde ein Deutschland im "Jahr 1" nach der Wiedervereinigung aussehen? Dies möchte ich im Folgenden skiziieren. Wann immer die Abkürzung "OTL" auftaucht, meint dies "Original Timeline", also die reale Geschichte.

Wir hätten einen Abbau der innerdeutschen Grenze. Stattdessen existierte ein ziemliches strenges Grenzregime zumindest nach Osten, um Grenzübertritte von Polen und Tschechoslowakei zu verhindern. Innerhalb Deutschlands würden vermutlich zumindest für Übergangsfristen zwei Regime nebeneinander her existieren: die Strukturen der DDR und die der BRD, in Polizei, Verwaltung und so weiter. An dieser Stelle ist die Frage, wie gesamtdeutsche Wahlen ausgehen würden und welche Verfassung dann entstünde. Die Möglichkeiten sind endlos, weswegen ich hier eher oberflächlich bleiben will.

Das Grundgesetz und der Beitritt nach Artikel 23 jedenfalls fallen weg. Ich glaube, das Saarland würde trotzdem beitreten (eine Mehrheit für den Verbleib bei Frankreich sehe ich einfach nicht), was bedeutet, dass es eine neue Verfassung braucht. Auf dem Konvent für eine solche Verfassung wäre die SED sicher mit mehr als den rund 5% vertreten, die die KPD in den Parlamentarischen Rat eingebracht hat. Und ob gegen die Stimmen der SED eine Verfassung überhaupt möglich wäre - also ob die Sowjetunion mit ihrer Sperrminorität im Alliierten Kontrollrat das erlauben würde - halte ich für fraglich.

Es ist daher möglich, dass eine gesamtdeutsche Verfassung Bestimmungen enthalten würde, die der SED eine Machtposition zusichert. Vielleicht weniger als eine Sperrminorität, aber erneut: mehr als das, was sie in freien Wahlen erreichen könnte, denn da hat sie wenig Chancen. Die KPD dürfte sich mit ihr vereinigen, aber die war bereits bei den Bundestagswahlen OTL 1953 kein Faktor mehr. Wir haben also innerhalb von Deutschland einige merkwürdige Konstruktionen, die ich hier bewusst vage lasse, für die ich aber als Vergleich die Struktur der Antebellum Vereinigten Staaten anbieten will - nicht wegen der Sklaven- und Freistaaten, sondern wegen der radikal unterschiedlichen Systeme in einer fein austarierten, stets prekären politischen Balance. Ich nenne diese Variante Deutschland A.

Aber, und das ist entscheidend: die Sowjetunion ist bereit, den Machtverlust der SED zu akzeptieren, wenn Deutschland dafür neutral ist. Daher ist durchaus vorstellbar, dass die Verhandlung der Alliierten oder die mittelfristige Entwicklung dazu führt, dass Deutschland "normale" Wahlen abhält und seine Strukturen vereinheitlicht und demokratisiert. Die SED würde in diesem Fall eher eine Position übernehmen, wie sie die LINKE heute hat - vergleichsweise irrelevant im Westen, stärker im Osten, aber möglicherweise durch Bündnisse der demokratischen Parteien weitgehend zur Opposition verdammt. Ich nenne diese Variante Deutschland B.

Das sind natürlich bei Weitem nicht die einzigen beiden vorstellbaren Varianten, und ich stelle sie hier auch eher dar um zu zeigen, wie schwierig verbindliche Aussagen sind. Historiker*innen mit mehr Detailkenntnis der Epoche und vor allem der SED-Strukturen könnten da sicher bessere Vorhersagen machen. Wer Buchempfehlungen hat, her damit!

Allein, es gibt eine Reihe weiterer Herausforderungen, die OTL so nicht existieren. Die meisten davon sind außenpolitischer Natur.

Die Integration Deutschlands in die jeweiligen Machtblöcke hatte ja bereits begonnen. So war das Programm forcierter Industrialisierung, das die Sowjetunion wider alle ökonomische Vernunft der DDR aufzuwang, genauso wie die Kollektivierung der Landwirtschaft in eine gesamtosteuropäische Wirtschaftspolitik eingebettet, in der die Satellitenstaaten der UdSSR Waren und Rohstoffe zur Verfügung stellen sollten. Zum Glück für unser wiedervereinigtes Deutschland ist dieser Prozess noch nicht allzuweit fortgeschritten und besteht weitgehend aus bilateralen Handelsbeziehungen, weswegen die Entflechtung nicht dieselbe Verwerfungskraft haben dürfte wie OTL 1990ff. Stattdessen haben wir eher ein lokales Partikularinteresse an der Aufrechterhaltung von Wirtschaftsbeziehungen mit dem Ostblock, das der SED helfen dürfte, da sie als Garant dieser Wirtschaftsbeziehungen auftreten kann. Eine Subventionierung durch die UdSSR zum Erhalt dieser Machtposition scheint sehr wahrscheinlich und dürfte in Deutschland B durchaus für anhaltende Attraktivität (wenngleich keine Mehrheiten) der Sozialisten sorgen.

Auf der anderen Seite haben wir die Montanunion. Diese wurde 1951 geschlossen und stellt die Schwerindustrien der beteiligten Länder unter die Aufsicht einer gemeinsamen hohen Behörde. Der Zweck der Montanunion war einerseits die Kontrolle einer möglichen deutschen Aufrüstung, andererseits aber eine Stützung des französischen Stahlmarkts, der gegenüber dem deutschen nicht konkurrenzfähig war und über die Montanunion eine kartellartige Sicherheit erhielt. Es ist schwerer vorstellbar, wie die Montanunion die Einheitsverhandlungen überlebt hätte, da sie Frankreich als einer der großen Siegermächte effektive Vetomacht über das Ausmaß der deutschen Aufrüstung gegeben und damit das Ziel einer unabhängigen deutschen Armee einerseits und des Zugriffs der UdSSR auf Reparationen aus dem Ruhrgebiet andererseits zumindest sehr erschwert hätte. Ich gehe daher davon aus, dass Deutschland aus der Montanunion austritt, die damit ihren Sinn weitgehend verliert und sich maximal zu einer Frankreich-BeNeLux-Wirtschaftszone weiterentwickelt - wenn überhaupt.

Ebenso auf den Richtblock kommen alle Pläne zu einer gemeinsamen europäischen Armee. Wir wissen heute natürlich, dass OTL die französische Nationalversammlung 1954 alle solchen Pläne zerschoss, aber 1952/53 war das durchaus noch eine realistische Option für die zukünftige Sicherheitsarchitektur Europas. Ein wiedervereinigtes Deutschland beendet diese Variante bereits 1953 definitiv. Stattdessen baut Deutschland eine eigene Bundeswehr auf, die vermutlich ähnlich den Bestimmungen der österreichischen Einheit OTL 1955 als Selbstverteidgungsarmee aufgebaut wird - und ohne Integration in irgendwelche Bündnisstrukturen, ein Passus, auf dem die UdSSR in jedem Fall bestanden hätte. Stellen wir uns die Bundeswehr also als eine Art größeres Bundesheer vor.

Wie geht es von nun an weiter?

Und damit wären wir in der Frage, wie es zumindest mittelfristig weitergeht. Statt des Eisernen Vorhangs quer durch Deutschland haben wir eine wesentlich weniger befestigte Grenze (es gibt keine Notwendigkeit, die Ostdeutschen an der Flucht nach Westen zu hindern) und einen cordon sanitaire aus Neutralen: Deutschland, Österreich und Jugoslawien ziehen einen Riegel von Ostsee bis Adria zwischen die Blöcke. Die Frage ist dann, ob sich die Militärbündnisse auch ohne Deutschland entwickeln wie in OTL. Ich halte das für fragwürdig.

Auf der einen Seite ist der Warschauer Pakt, der eine Gegenposition zur NATO aufbaute: zwei entlang einer hochmilitarisierten Grenze einenander gegenüberstehende Bündnissysteme. Allein, mit der erwähnten Neutralitätsgürtel ist die Gefahr einer Invasion sowjetischen Hoheitsgebiets nicht mehr so groß. Der Integrationsgrad der OTL Warschauer Paktes dürfte damit eher nicht erreicht werden.

Noch schlimmer sieht es für die NATO aus, was ja auch ein entscheidender Grund für die OTL Ablehnung der Stalinnote war. Ohne die massive Militärpräsenz in Westdeutschland fehlt den USA die Basis für ein längerfristiges militärisches Engagement in Europa. Es ist unvorstellbar, dass mehrere 100.000 GIs dauerhaft in Frankreich stationiert werden, und Italien ist jetzt nicht unbedingt die beste Basis dafür, genauso wenig wie die BeNeLux-Staaten. Es ist daher wahrscheinlich, vor dem Hintergrund der gaullistischen Außenpolitik mit ihrer Öffnung gegenüber der UdSSR sowieso, dass die NATO bei weitem nicht dieselbe Integrationskraft als westliches Bündnis entfaltet wie OTL, dass sie möglicherweise sogar endet (wobei ich das für unwahrscheinlich halte).

Ohne diese Integration in die Machtblöcke ist Deutschland in einer neutralen Mittelposition. Der Grund dafür, dass Stalin dieses Angebot machte, ist, dass dies der Sowjetunion mehr hilft als dem Westen. Das war in den 1940er Jahren noch nicht vollständig absehbar, aber die Stabilisierung der Westzone - ein absolut nicht vorbestimmtes und für Stalin eher überraschendes Ergebnis, wie Benn Steil in seinem hervorragenden Buch gezeigt hat - änderte die Kalkulation. Der Westen verlor das größere und potentiell wesentlich wohlhabendere Westdeutschland, während die Sowjetunion die wertvolle Substanz der DDR bereits geplündert hatte und eine Problem im Managment des Ostblocks verlor, kam es doch während des Ost-West-Konflikts nie zu einer Aussöhnung zwischen Ostdeutschen und Polen beziehungsweise der Tschechoslowakei, die stattdessen die Propagandalüge schlucken mussten, die DDR habe den Faschismus überwunden und nichts mehr mit ihm zu tun.

Stattdessen war die Tor für einen härteren Umgang mit Deutschland offen, das als halber Antagonist und halber Verbündeter weiterbestehen konnte. Das ist vor allem für die Frage eines Friedensvertrags relevant, und hier kommen wir zum Kern der Sache. Denn ein Friedensvertrag hätte vier Bestimmungen mit Sicherheit enthalten:

1) Reparationen.

Die Sowjetunion besonders, aber auch Frankreich, waren sehr an deutschen Reparationen interessiert. Frankreich hatte sich OTL damit abgefunden, dass es keine bekommen würde, und stattdessen den (wesentlich erfolgreicheren) Weg über die Montanunion und die Symbiose der europäischen Volkswirtschaften gewählt, der die Grundlage des anhaltenden europäischen Aufschwungs und Friedens war, während die Sowjetunion sich an ihrer Besatzungszone schadlos gehalten hatte. Aber im Falle eines Friedensvertrags wären Reparationen fällig geworden.

2) Militärbeschränkungen

Die deutsche Armee wäre auf eine Selbstverteidigungsrolle beschränkt worden, nur ohne das "Backup" von Verbündeten. Wir haben also eine Bundeswehr, die ähnlich groß ist wie die in OTL, aber vermutlich mit Waffenbeschränkungen arbeitet und Deutschland ohne "nuklearen Schirm" lässt. Es ist schwierig abzusehen, welche Folgen dieses Fehlen hätte; aber es verschlechtert die Machtposition gegenüber beiden Seiten erheblich.

3) Bündnisverbot

Wir haben bereits diskutiert, dass das Verbot, sich einem Bündnis anzuschließen, Teil eines Friedensvertrags gewesen wäre. Deutschland wäre damit tatsächlich völlig isoliert von irgendwelchen Freunden und idealerweise auch Feinden. Diese Isolation ist ein Punkt, auf den wir gleich zurückkommen werden.

4) Akzeptanz der Grenzen von Potsdam

Der Friedensvertrag hätte Deutschland sicherlich gezwungen, genauso wie die DDR OTL die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen. Diese Anerkennung wäre vor allem innenpolitisch relevant gewesen (de facto waren diese Gebiete verloren). Auch darauf werden wir gleich zurückkommen.

Behandeln wir zuerst die Frage der Isolation. Das Problem Deutschlands gegenüber Österreich oder Finnland, die ähnlich neutralisiert waren, bestand schlicht in seiner Größe. Es ist das Grundproblem Deutschlands in Europa seit 1871: zu groß, um einen auf Schweiz zu machen, zu klein, um dominant sein zu können. Daran ändert sich auch mit einem Friedensvertrag nichts; das ökonomische Potenzial Deutschlands ist so groß, dass es zwangsläufig zu einem Hebel für die Außenpolitik wird, ähnlich wie in Weimar, wo es zur schrittweisen Revision des Versailler Vertrags genutzt wurde.

Wie groß dieses Potenzial gewesen wäre, ist eine weitere interessante Frage. Ich halte es für kleiner als in OTL, weil die europäische Integration und die langfristige Bindung an die Vereinigten Staaten wegfällt. Zwar ergeben sich mehr Möglichkeiten für Handel mit der RGW-Zone als in OTL, aber das ist kaum attraktiv. Stattdessen würde die deutsche Wirtschaft durch die Reparationszahlungen gehindert und von Schutzzöllen zurückgehalten, anstatt Zugriff auf den europäischen Binnenmarkt zu bekommen.

Der größte Faktor aber dürfte der vermutliche Wegfall der Londoner Schuldenkonferenz 1953 sein. Auf dieser Konferenz wurden in OTL de facto die Vorkriegsschulden weitgehend erlassen und Deutschland vom Kopf auf die Füße gestellt: anstatt mit einer massiven Schuldenbelastung in die 1950er Jahre zu gehen, verzichteten die Länder Europas (unter anderem Griechenland...) auf eine Rückzahlung der erheblichen Auslandsschulden Deutschlands. Es ist schwer vorstellbar, dass ein wiedervereinigtes, neutralisiertes Deutschland diese Großzügigkeit ebenfalls bekommen hätte.

Dazu kommen kleinere außenpolitische Änderungen wie die Aussöhnung mit Israel, die in einem wiedervereinigten Deutschland wesentlich schwerer vorstellbar ist und, wie gleich zu zeigen sein wird, auch Auswirkungen auf die deutsche Innenpolitik gehabt hätte.

Und diese wäre deutlich anders. Abgesehen von der bereits diskutierten Machtverteilung im Land hätte der Abschluss eines Friedensvertrags mit Sicherheit Raum für eine neue Dolchstoß-Legende geschaffen. Sieht man sich die Reaktionen der CDU auf die Ostpolitik an (vom "Verräter" Willy Brandt), so ist vorstellbar, welche Auswirkungen der Abschluss, den die CDU in diesem Szenario zwangsläufig verantwortet hätte, gehabt hätte.

Ich würde davon ausgehen, dass sich die SED/KPD als Verfechter der deutschen Einheit inszeniert hätten und die Linie gefahren hätten, dass "die Kapitalisten" Schuld seien und man selbst heroisch die Einheit des Vaterlandes gerettet hätte. Sonderlich effektiv dürfte das kaum gewesen sein, weil der Versuch der Linken, sich als die besseren Patrioten zu inszenieren, nie funktioniert hat, aber das war so oder so ihre Propagandalinie.

Besonders schwierig ist die Lage für die SPD, die wesentlich energischer als die CDU auf die Wiedervereinigung gepocht hatte; die SPD hatte dies allerdings in den Grenzen von 1937 gefordert, und sie war 1952/53 von der Macht faktisch ausgeschlossen. Ihre Position findet sie daher zwischen allen Stühlen und in einer merkwürdigen Zwitterrolle der Opposition gegen die konkrete Form des Vertrags und der Begeisterung für die Wiedervereinigung - nicht Fisch und nicht Fleisch, aber aus Verantwortungsgefühl mit Sicherheit als Verteidiger des Friedens und das ganze Werk eventuell in einer Großen Koalition mit der CDU absichernd.

Denn dass die komplette bürgerliche Koalition, wie sie 1952/53 bestand, bei der Sache mitgemacht hätte, bezweifle ich. Man vergisst heute gerne, dass es damals noch mehrere rechtsgerichtete Parteien in Deutschland gab. Adenauers erste Koalition bestand aus einer FDP, die damals wesentlich rechter tickte als heute, die Entnazifizierung verdammte und sich als Heimat für ehemalige Nazis anbot, und sie bestand aus der DP, der "Deutschen Partei", die man im weitesten Sinne als gemäßigte Nachfolgerin der DNVP betrachten konnte. 1951 war zudem der BHE gegründet worden, der "Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten". OTL wurde diese Flüchtlingspartei von der CDU assimiliert, aber mit Abschluss eines Friedensvertrags dürften sie, in virulenter Oppositionshaltung, zu einer dauerhaften rechtsgerichteten und demokratiefeindlichen Bewegung gerinnen. Zusammen mit der SED haben wir damit demokratiefeindliche Parteien rechts wie links und damit eine Situation wie in Weimar; zudem mit DP und FDP zwei Parteien, deren Ausrichtung damals noch ziemlich offen war (wobei ich viel Vertrauen in die FDP habe).

Wie sich die CDU in dieser Lage entwickelt ist schwer zu sagen. Elektoral erfolgreicher als das Zentrum, sicherlich, aber der Friedensvertrag dürfte sie durchaus belasten. Ich sehe jedenfalls keine absolute Mehrheit für Adenauer 1957 in den Karten, so viel ist sicher. Die erfolgreiche Demokratisierung Deutschlands steht in diesem wiedervereinigten Deutschland auf wesentlich schwankenderen Füßen als sie es in OTL tat, das kann denke ich gesagt werden.

Und genau das hat wieder eine Rückwirkung auf die Außenpolitik. Revanchistische Ausschläge gegen Polen dürften häufig sein, genauso Konflikte mit Frankreich über Reparationen (gerne auch als Proxy für dieselbe Wut gegenüber der Sowjetunion, die wegen ihrer Machtstellung Atomwaffen kein Ziel für diese Ausschläge bietet). Generell eine wesentlich toxischere, aggressivere Außenpolitik, die sich ständig mit der eigentlichen Neutralisierung beißt. Und das ist, neben dem ökonomischen Gewicht, das diese Ausschläge überhaupt ermöglicht und eine potentielle militärische Gefahr bei Bruch des Friedensvertrags impliziert, der große Unterschied zu Finnland oder Österreich.

Ein Fazit

Für mich ist offenkundig, dass eine Annahme der Stalinnote in schwerer Fehler gewesen wäre. Deutschland wäre eventuell wiedervereinigt worden, aber der Preis dafür wäre ein instabileres Europa, ein deutlicher Wohlstandsverlust, ein Einfluss- und Machtgewinn der Sowjetunion. Natürlich ist das die Sicht Westdeutschlands; für die Ostdeutschen wäre es vermutlich eine Netto-Verbesserung, während umgekehrt eine längere Existenz der Sowjetunion für die osteuropäischen Staaten eine noch längere kommunistische Diktatur bedeutet hätte. Es kommt eben darauf an, aus wessen Perspektive man schaut...

Montag, 24. Januar 2022

Putin isst Kunstfleisch in der Schule, während er Obamas Stimulus die BBC und MLK wütend macht - Vermischtes 24.01.2022

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

Freitag, 21. Januar 2022

Rezension: Bert Altena/Dick von Lente - Gesellschaftsgeschichte der Neuzeit 1750-1989

 

Bert Altena/Dick von Lente - Gesellschaftsgeschichte der Neuzeit 1750-1989

Ein Buch von UTB in Händen zu halten ist, wie die Angelsachsen sagen würden, ein "trip down the memory lane". Ich glaube, ich hatte seit Abschluss meines Studiums keines mehr in der Hand. Für diejenigen, die mit dem Konzept nicht vertraut sind: UTB publiziert so genannte "Studienbücher", also Überblickswerke, die sich vorrangig (aber nicht nur) an Studierende des jeweiligen Faches richten und einen Überblick zum jeweiligen Thema bieten. Ich hatte Werke von UTB sowohl in Deutsch als auch in Geschichte und Politikwissenschaften in der Hand. Dass ich jetzt wieder einen Band lese zeigt aber, dass für das einschlägig interessierte Publikum eine Immatrikulation nicht erforderlich ist.

Der vorliegende Band beschäftigt sich, kaum überraschend, mit der "Gesellschaftsgeschichte der Neuzeit 1750-1989", wobei der Titel trotz der scheinbaren Präzision etwas irreführend ist. Präziser hätte man ihn "Gesellschaftsgesichte der westlichen Welt in der Neuzeit 1750-1989" nennen sollen, denn um diese geht es hier. Man könnte behaupten, das sei bereits im Konzept der "Neuzeit" mit angelegt, die als Kategorisierung nur aus westlicher Perspektive irgendeinen Sinn macht.

Donnerstag, 20. Januar 2022

Einen Verschwörungstheoretiker*innentext analysieren

 

Neben seriösen geschichtswissenschaftlichen Werken findet sich leider eine Vielzahl an verschwörungstheoretischen oder einfach nur schlecht recherchierten Werken auf dem Markt. Es gibt Anzeichen, woran man erkennen kann, dass man es mit einem solchen zu tun hat.

Diese Autor*innen arbeiten mit diversen rhetorischen Mitteln, die eine Gemeinschaft mit den Lesenden erzeugen und diese direkt auf die gewünschten Schlussfolgerungen stoßen sollen. Sie konstruieren dabei elaborierte Theorien, die durchaus belegt werden. Diese Belege allerdings sind häufig entweder aus anderen tendenziösen Quellen, so dass ein Kreislauf gegenseitiger Verweise entsteht, oder aus dem Kontext gerissen und deswegen nur Simulationen von Belegen. Auch selektives Lesen von Quellen gehört dazu.

Im Folgenden analysieren wir einen Ausschnitt aus dem Buch „Wer hat Hitler gezwungen, Stalin zu überfallen?“ des russischen Propagandisten Nikolay Starikov von 2017. Starikov hat eine Reihe weiterer Bücher im selben Genre verfasst, etwa „Krieg durch fremde Hände“, „Ukraine. Chaos und Revolution als Waffen des Dollars“, „Verstaatlichung des Rubels. Russlands Weg zur Freiheit“, „So sprach Stalin“, „Wer finanzierte die Zerstörung Russlands?“ und „Wer tötete das russische Imperium?“. Die Titel alleine zeigen, wie der Autor verschwörungstheoretische Narrative pflegt: Feinde von außen – die USA – ziehen im Hintergrund die Fäden und zwingen Russland in Konflikte. Im vorliegenden Buch versucht Starikov seine Lesenden davon zu überzeugen, dass die USA Hitler als Marionette gegen Stalin eingesetzt haben. Ich will an einem Auszug beispielhaft zeigen, wie der Autor arbeitet und daraus allgemeine Rückschlüsse über die Arbeitsweise von Verschwörungstheoretiker*innen ableiten.

Mittwoch, 19. Januar 2022

Rezension: Max Brooks - World War Z (Max Brooks - Operation Zombie)

 

Max Brooks - World War Z (Max Brooks - Operation Zombie)

Vielen Lesenden dürfte der Titel "World War Z" von einem im Großen und Ganzen unbedeutenden, maximal mittelmäßigen Actionstreifen mit Brad Pitt aus dem Jahr 2012 bekannt vorkommen. Schon weniger Leuten dürfte bekannt sein, dass der Film auf einem Buch mit demselben Titel (und der absolut beknackten deutschen Übersetzung "Operation Zombie. Wer länger lebt, ist später tot") basierte. Das Buch selbst ist ein geister Nachfolger zum ironischen "Zombie Survival Guide" (deutsch) desselben Autors. Verwirrt? Dabei haben wir noch gar nicht angefangen.

Die "Handlung" des Buchs (ich möchte es nicht "Roman" nennen, aber das von Brooks hier geschaffene Genre lässt sich allenfalls als "Mockumentary" betiteln) setzt 20 Jahre nach dem titelgebenden "World War Z" ein, als der Journalist Max Brooks (ja, der Autor ist gleichzeitig der personale Erzähler) eine Reise um die Welt unternimmt, um mit Überlebenden zu sprechen und ihre Erinnerungen für die Nachwelt aufzuzeichnen. Letzten Endes ist das Buch eine geschriebene Version der Dokus von Ken Burns oder Studs Terkel: Zeitzeug*innen berichten von ihren Erlebnissen, und das Ganze wird in ein Narrativ zusammengeschnitten.

Dienstag, 18. Januar 2022

Die Freiheit, die wir meinen

 Aus liberaler Sicht war Corona zumindest in einer Hinsicht eine äußerst fruchtbare Zeit: seit Langem wurde nicht mehr so viel und ausführlich über Freiheit diskutiert wie während der Pandemie. Leider ist das Niveau dieser Debatte nicht besonders hoch, und besonders die Wortführer*innen tauchen durch geradezu beleidigend simplistische und provokative Thesen auf, die eher dazu da sind, Klicks für ihre Hausmedien zu generieren denn Beiträge zu einer Debatte zu sein. Da wir hier bei Deliberation Daily glücklicherweise keine Anzeigenkunden haben, denen wir eine Statistik präsentieren müssen, können wir uns von diesen Mechanismen absetzen und die Debatte besser führen. Stefan Pietsch hat bereits zwei Aufschläge gemacht; ich will im Folgenden versuchen, einen eigenen Ansatz zu präsentieren. Es geht mir dabei weniger darum, zu überzeugen. Wir reden hier von Wertesystemen, und dank Stefans Artikeln habe ich zumindest das Gefühl, seine Haltung zu verstehen, auch wenn ich sie nicht teile. Es ist mein Ziel, ein ähnliches Verständnis auch hier zu schaffen.

Montag, 17. Januar 2022

Rezension: Hedwig Richter - Eine deutsche Affäre

 

Mit ihrem Buch "Demokratie. Eine deutsche Affäre" hat Hedwig Richter, Professorin für Geschichte an der Bundeswehruniversität in München, einen Bestseller hingelegt, der 2020/21 für eine lebendige Debatte gesorgt hat. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart untersucht sie in einem großen Bogen das Verhältnis der Deutschen zur Demokratie, und wie der Buchtitel schon verrät, stellt sie sich gegen die beliebten Sonderwegs-Narrative, die den Deutschen ein gestörtes Verhältnis zur Demokratie unterstellen, und attestiert ihnen stattdessen eine "Affäre" mit ihr.

Das mag auf den ersten Blick überraschen, ist aber auf den zweiten Blick gar nicht so weit hergeholt, vor allem, wenn man den historischen Rahmen anschaut. Freiheit und Parlemantarismus waren in Deutschland über Jahrzehnte praktisch gleichbedeutend mit der Nation. Von den Befreiungskriegen zum Vormärz, von 1848 bis zur Parlamentarisierung 1918, von Weimar über Herrenchiemsee lassen sich klare Kontinuitäten ausmachen. Die NS-Zeit ist es, die als der große Zivilisationsbruch einer allzu rosigen Betrachtung im Wege steht, ebenso wie die Obrigkeitsstaatlichkeit so vieler Aspekte des Kaiserreichs.

Freitag, 14. Januar 2022

Der US-Senat - Ohne Reden und Majoritätsbeschlüsse

 Zu den Debatten, die in den USA mit schöner Regelmäßigkeit ausgelöst werden, gehört neben der Aufnahme neuer Staaten (D.C., Puerto Rico) und der Reform des Supreme Court (Amtszeiten, court packing) todsicher eine Reform des Senats. Das Oberhaus des amerikanischen politischen Systems sorgt seit mittlerweile zwei Jahrzehnten zuverlässig für Probleme und Streit im amerikanischen Verfassungswesen. Anders als im Repräsentantenhaus haben die Senator*innen eine ungeheure persönliche Verhinderungsmacht und nutzen diese auch mit Gusto. Die Verzerrung dieser Stimmmacht - jeder Staat hat zwei Sitze, egal ob er wie Wyoming 550.000 Einwohnende oder wie Kalifornien 39,5 Millionen hat - gepaart mit arkanen Regelungen wie dem Filibuster bringt die Institution beständig in die Kritik, ein undemokratisches Instrument zu sein. Das lassen Senator*innen natürlich nicht gerne auf sich sitzen. Die jüngste Verteidigung der Institution kommt von Mitt Romney und Joe Manchin, und ich möchte die Gelegenheit nutzen, einen genaueren Blick auf den Senat zu werfen.

Da wäre einerseits Romney, der eine enthusiastische Rede zur Verteidigung der Minderheitenmacht im Senat hielt:

Note that in the federal government, empowerment of the minority is established through only one institution: the Senate. The majority decides in the House; the majority decides in the Supreme Court; and the president, of course, is a majority of one. Only in the Senate does the minority restrain the power of the majority. That a minority should be afforded such political power is a critical element of this institution. For a law to pass in the Senate, it must appeal to senators in both parties. This virtually assures that the bill did not originate from the extreme wing of either one, and thus best represents the interests of the broadest swath of Americans. The Senate’s minority empowerment has meant that America’s policies inevitably tack towards the center. [...] Consider how different the Senate would be without the filibuster. Whenever one party replaced the other as majority, tax and spending priorities would change, safety net programs would change, national security policy could change. Cultural issues would careen from one extreme to the other, creating uncertainty and unpredictability for families, for employers, and for our friends abroad. The need to marshal 60 votes requires compromise and middle ground, it empowers the minority, and it has helped to keep us centered as a nation, fostering the stability and predictability that are essential for investments in people, in capital, and in the future. (Hervorhebungen im Original)

Und dann haben wir Joe Manchin, der spezifisch über das Instrument des Filibuster spricht:

The tradition of the Senate here in 232 years now..we need to be very cautious what we do..That's what we've always had for 232 years. That's what makes us different than any place else in the world.

Man hört dieses Narrativ von Fans des Senats sehr oft. Fast alles daran ist Bullshit. Wahr ist allerdings, dass es "die USA von jedem anderen Ort der Welt unterscheidet". Aber dasselbe gilt für die Verbreitung von Sturmgewehren, und die wenigsten Menschen außerhalb einer Gruppe von Waffennarren würde behaupten, dass man diese amerikanische Eigenart besonders hochhalten oder gar übernehmen sollte. Vielmehr sind sich die "anderen Orte der Welt" ziemlich einig darin, wie bescheuert das ist.

Ich möchte mir zuerst Romney vornehmen, weil seine Punkte allgemeiner gehalten sind und er einen Gedanken formuliert, der in den USA so tief verankert ist, dass er common sense ist, der aber zutiefst anti-demokratisch und Wurzel vieler Probleme des Landes ist. "Immer, wenn eine Partei eine andere als Mehrheit ablösen würde, würden die Steuern und Ausgabeprioritäten sich ändern, würden sich Sozialstaatsprogramme ändern, Sicherheitspolitik würde sich ändern. Kulturelle Themen würden von einem Extrem ins andere schlagen und Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit für Familien, Arbeitgebende und unsere Freunde im Ausland schaffen." Das klingt sehr vernünftig und moderat. Ist es aber nicht.

Denn das Schreckensszenario, das Romney beschreibt, ist in jeder anderen Demokratie der Welt Realität. Ob in Großbritannien oder Deutschland, ob in Frankreich oder Italien, Japan oder Australien, wenn eine Partei eine Mehrheit der Stimmen erringt, kann sie Gesetze machen - ob für Steuern, Sozialgesetzgebung oder Sicherheitspolitik. Und das ganz ohne, dass diese Systeme im Chaos versinken würden. Was Romney hier proklamiert ist eine zutiefst anti-demokratische Idee: dass Wahlen keine Konsequenzen haben sollten.

Die ganze Idee hinter Wahlen in einer Demokratie ist, dass den Bürger*innen ein Angebot verschiedener Politiken gemacht wird, aus dem sie auswählen können. Wir hier in Deutschland haben während der Merkel-Jahre nicht völlig zu Unrecht geradezu eine Obsession damit entwickelt, dass die Parteien sich nicht genug unterschieden, nicht ausreichend unterschiedliche Vorstellungen anbieten. Wenn eine Partei (oder eine Koalition) eine Mehrheit gewinnt, dann kann sie mit dieser versuchen, ihre Ideen umzusetzen - und sich dann bei der nächsten Wahl dem Urteil der Wählenden stellen. Romney erklärt hier, dass genau das nicht passiert. Stattdessen lobt er den Senat dafür, dieses urdemokratische Prinzip außer Kraft zu setzen: Mehrheiten ändern gar nichts. Sie dürfen nichts ändern.

Und genau diese Funktion erfüllt der Senat. Für Konservative ist das natürlich super, denn sie wollen ja nichts ändern. Das gilt in Besonderem Maße für die Republicans, die seit mittlerweile zwei Jahrzehnten eine komplette Obstruktions- und Sabotagepolitik fahren und mit einer Mehrheit im Senat, abgesehen von Steuergeschenken für die Superreichen und der Eroberung des Rechtswesens (in dem sie kein Problem mit massiven, alles verändernden Entscheidungen haben), keinerlei Ambitionen haben, selbst wenn sie die Mehrheit haben. Die Theorie, die darum herum gekleidet wird, ist demgegenüber reine Dekoration.

Damit kommen wir zu dem anderen Teil von Romneys zwar schön klingender, aber ahistorischer Betrachtungsweise des Senats. Denn die Rolle, die er heutzutage ausübt, hatte das Gremium so nicht immer. Romney behauptet, dass eine Mehrheit von 60 Stimmen schon immer notwendig war. In dasselbe Horn bläst, wesentlich kruder und dazu grottenfalsch, Joe Manchin. Der Filibuster, der dafür sorgt, dass diese 60 Stimmen "notwendig" sind, existiert nicht seit 232 Jahren, sondern seit 2008. Rechtlich überhaupt existiert er erst seit 1975. Der Senat war allerdings, hier haben beide Recht, schon immer eine Minderheiteninstitution.

Warum wurde der Senat überhaupt geschaffen? Er ist keinesfalls ein Kind der Liebe der Verfassungsväter. Der Verfassungsentwurf sah ein Einkammerparlament vor, das Repräsentantenhaus, mit proportionaler Vertretung der Einzelstaaten. Ein Senat wurde erst auf dem Konvent in Pennsylvania improvisiert und in den endgültigen Verfassungstext geschrieben. Er diente einem einzigen Zweck: dem Schutz der Sklaverei. Denn es war bereits 1787 absehbar, dass der Nordosten der USA wesentlich attraktiver für Migrant*innen war als der Süden, dass die wirtschaftliche Entwicklung in den nördlichen Handwerksbetrieben und Fabriken dynamischer verlief als auf den südlichen Plantagen. Keinesfalls sollte eine Mehrheit aber die "peculiar institution" der Sklaverei abschaffen können. Daher der Senat, daher die vielen Verfassungskrisen der USA im 19. Jahrhundert, mit dem Missouri Compromise, der das Gleichgewicht im Senat stets aufrechterhielt.

Ein Filibuster indessen existierte im Senat nicht. Stattdessen konnte jede Debatte mit einer einfachen Mehrheitsentscheidung beendet werden. Es war Aaron Burr, der 1805 das damals schon ausufernde und arkane Regelwerk des Senats vereinfachte und die Möglichkeit eines Filibusters schuf, also einer endlosen Rede, die nur von 2/3 der Kammer abgebrochen werden kann. Das fiel niemandem auf. Zum ersten Mal nutzte jemand die Möglichkeit eines Filibuster 1837, als die Verfassungsväter alle schon tot und unter der Erde waren und nicht mehr erklären konnten, dass das nicht in ihrem Sinne war (nicht, dass jemand der Sinn dieser Leute interessieren sollte, aber ich schweife ab). Dieser Filibuster scheiterte übrigens; der fragliche Senator wurde von der Senatspolizei vom Rednerpult gezerrt, laut zeternd "Am I not allowed to speak?" Die Antwort war ein klares Nein, die amerikanische Demokratie ging nicht unter. Der Filibuster blieb ein seltenes Instrument, und er blieb fast immer erfolglos.

1917 wurde die cloture-Regel eingeführt, also die Verrechtlichung der Abstimmung zum Beenden einer Debatte. Vorher gab es überhaupt keine Regel zum Beenden einer Debatte, daher auch der Zwischenfall mit der Senatspolizei. Relevant war diese nicht, weil Filibuster weiterhin sehr selten genutzt wurden - um genau zu sein, nur für ein einziges Thema, aber dazu gleich mehr. 1972 wurde das "Tracking" eingeführt, mit dem ein Filibuster nicht mehr den gesamten Senat blockierte, sondern nur noch das spezifische Gesetz. Kurz darauf wurde die Möglichkeit geschaffen, einen Filibuster einfach nur anzukündigen. Es ist diese Regel, mit der der Senat sich neuerdings selbst blockiert, denn tatsächlich gehalten werden Filibuster nicht. Stattdessen fragt die Senatsverwaltung für jeden Gesetzesentwurf, ob irgendein*e Senator*in einen Filibuster machen will - per eMail, die einfach von Mitarbeitenden des/der jeweiligen Senator*in beantwortet wird. Antwortet also irgendein*e Mitarbeiter*in positiv auf diese Rundmail, gilt das als Filibuster. Diese Absurdität existiert erst seit den 2000er Jahren, und es ist sie, die seither von beiden Seiten - wesentlich mehr aber den Republicans - ausgenutzt wird. Nichts mit 232 Jahren geheiligter Geschichte.

Nach der Abschaffung der Sklaverei 1865 könnte man ja annehmen, dass sich damit auch ein explizit zu ihrer Erhaltung gegründeter Körper weitgehend überlebt hätte. Aber weit gefehlt. Denn der Senat spielte weiter eine unrühmliche Rolle. Filibuster wurden zwar nur sehr selten und meist erfolglos gehalten, aber mit uhrwerksmäßiger Präzision und Erfolgsquote dann, wenn es um Bürgerrechte für Afroamerikaner*innen. 1922, 1935 und 1938 verhinderten Filibuster erfolgreich, dass das Lynchen von Afroamerikaner*innen illegal wurde. 1942, 1944, 1946, 1948 und 1962 verhinderten Filibuster erfolgreich, dass "poll taxes" abgeschafft wurden, mit denen die Aufnahme von Afroamerikaner*innen ins Wählendenregister verhindert und ihnen so ihr Wahlrecht genommen wurde. Bürgerrechtsgesetzgebung wurde 1946, 1950, 1957, 1960, 1962, 1964, 1965, 1966, 1968, 1972 und 1975 durch erfolgreiche Filibuster blockiert. Die Tradition des Senats, white supremacy aufrechtzuerhalten - die einzig echte auf 1787 nachverfolgbare Tradition - war überparteilich. Und damit sind wir bei der Gegenwart, denn die moderne, völlig aus dem Ruder gelaufene Dauerobstruktion des Filibuster begann mit - dem ersten schwarzen Präsidenten der USA. Das sollte zu diesem Zeitpunkt kaum mehr überraschen.

Der Senat im Allgemeinen und der Filibuster im Speziellen sind daher alles, aber keine demokratischen Instrumente. Sie waren vielmehr von Anfang an dazu da, Mehrheiten zu blockieren. Mitt Romney ist diesbezüglich ehrlich, und entweder hat er genauso wenig Ahnung von der Geschichte des Senats wie Joe Manchin oder er verzerrt die Wahrheit absichtlich und stellt das in ein Licht freiheitlicher Ideale. Das kann man natürlich machen, und aus seiner Warte heraus macht das strategisch auch Sinn. Nur sollte klar sein, dass das mit Demokratie und Freiheit herzlich wenig am Hut hat.